Lalena Hoffschildt ist von Kindesbeinen an dem Lesen verfallen – die Ausbildung zur Buchhändlerin, die sie 1995 bei Hugendubel am Marienplatz antrat, war quasi zwingend. Heute ist Lalena im Filialleitungsteam am Stachus tätig – und auf Instagram unter @lalenaparadiso aktiv. Die Interview-Serie #ZehnFragenAn entstand mehr oder minder durch Zufall. Heute interviewt sie für uns den deutschen Schriftsteller Albert Ostermaier.

1. Dichter bist du, Dramatiker. Romane hast du auch geschrieben, in allen Disziplinen zu Hause. Welche ist dir die Liebste, wo bist du am meisten bei dir? Und was bedeutet Schreiben für dich, ist das  Notwendigkeit, ein innerer Drang oder Pflicht?
Die Grenz- und Genreüberschreitung interessiert mich ja mehr als die Grenzziehung: das Drama in der Poesie, die Prosa in der Dramatik, das Lyrische im Roman und in allem das filmische Erzählen, die Kamerafahrten, das Überblenden, die Shortcuts, die Schnitte innen und außen. Aber klar, die Poesie ist mein Herzschlag, der Beat meiner Texte. Wenn ich dichte, bin ich mir selbst am nächsten, weil ich mir am fernsten sein kann und zugleich näher, als es auszuhalten ist.

2. „Schattenkenner“: Über diesen Ausdruck bin ich in „Zephyr“ gestolpert, deinem ersten Roman, der 2008 erschienen ist. Bei allem, was ich bisher von dir gelesen habe, würde ich sagen, ja, das trifft hundertprozentig zu. Liebe, Schmerz, Verlust,  Ohnmacht, Zorn, Leidenschaft und Hingabe. Kernthemen. Warum?
Mich interessiert nur, was unter die Haut geht, was mich radikal in Frage stellt, was ich überwinden muss und was mich Überwindung kostet – die Veränderung, die etwas ändern kann. Extreme, Ausnahmesituationen sind zugleich Brennspiegel, sie verschärfen den Blick. Mich langweilt dieses Drüberstehen, dieses Beobachten aus sicherer Distanz, diese Angst vor Pathos, Gefühl. Manchmal muss man sich angreifbar machen, wenn man die Dinge greifbar machen will, sich selbst und sein Denken riskieren. Sicher kenne ich die Schatten, weil sie mich begleiten, manchmal verfolgen. Und weil sie sich manchmal verdichten. Doch wo Schatten sind, muss es auch Licht geben. Oder zumindest scheint die „schwarze Sonne“.

3. Wir Leser rätseln immer gerne über den Tagesablauf des Schriftstellers. Das ist so eine romantische Vorstellung. Zurückgezogen im stillen Kämmerlein oder im Café schnell auf eine Serviette gekritzelt, hihi wohl kaum, heutzutage eher schnell ins Smartphone getippt. Feste Routine und alles an seinem Platz oder lieber unterwegs?
Ich will ja nur ungern deine romantische Fantasie stören und natürlich ist es so, dass es Momente, Augenblicke und Stunden gibt, wo alles Poesie ist, wo man auf alles schreiben muss, was man findet, wo einen alles inspiriert, wo man sogar in der Öffentlichkeit schreibt. Das hasse ich eigentlich, dieses Schaut-mal-ich-bin-Schriftsteller-oder-tu-zumindest-so. Nein, der Alltag ist nüchterner, er verlangt oft sogar harte Disziplin, feste Abläufe, denn nur sie ermöglichen es, dass man am Ball bleibt, am Stück, am Roman. Ich stehe früh auf und sitze um halb acht am Schreibtisch. Ich liebe den Morgen. Mittags gehe ich oft ins „Schumanns“ zu meinem Freund Charles essen. Am Nachmittag recherchiere ich oder überarbeite. Aber klar, manchmal schreibe ich auch nachts oder im Zug oder im Flugzeug und – wenn es unbedingt sein muss – auch im Café.

4. Was inspiriert dich? Bei einem Lyriker stelle ich mir vor, dass da eine noch größere Hellhörigkeit ist, dass sich sehr vieles sogleich niederschlägt. Wer führt dann, der Stift oder du?
Eigentlich kann alles zur Inspiration werden, jede Wahrnehmung, eine Verunsicherung, ein Bild, ein Wort, eine Geste und natürlich Film, Musik, Kunst. Aber auch das Übersehene, das Überhörte. Stift gibt es bei mir keinen, nur die Finger auf den Tasten. Und dann schreibt es in und aus mir, so seltsam das auch klingt. Aber die Überarbeitung ist dann umso bewusster. Und dann braucht man den Stift zum Streichen, Kill Your Darlings.

5. „many more people agree that they hate poetry, than can agree what poetry is…“ sagt Ben Lerner, ein Lyriker und Professor in New York. Nun frage ich dich: Was ist Lyrik? Und: Gibt es für dich eine „Essenz“, die DEINE Gedichte ausmacht?
Die Antwort hätte eine ganze Poetikvorlesung verdient, das geht kaum in einem Satz oder zwei. Lyrik ist, was das Herz über die Lippen bringt – und wenn es ein Stein ist, der Stein, der aus dem Glashaus geworfen wird. Lyrik ist eine Überlebensnotwendigkeit und Lyrik ist Utopie. Die Utopie, dass die Poesie nicht nur uns, sondern die Welt retten kann, denn die Poesie kann Worte nebeneinander stehen lassen und sie miteinander zum Schwingen bringen.

6. „In Zukunft wird man die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts als Blütezeit der deutschsprachigen Lyrik bestaunen“, schreibt Christian Metz in seinem Buch „Poetisch denken – die Lyrik der Gegenwart“ Was sagst du dazu? Wie ist es jetzt um die Lyrik bestellt, im Vergleich zu, sagen wir, vor 10, 15 Jahren: bemerkst du Unterschiede in der Aufmerksamkeit?
Was zählt, ist jedes einzelne Gedicht. Jedes Gedicht muss die Blüte in sich tragen, und die Zeit. Die Aufmerksamkeit für Lyrik ist immer noch viel zu gering. Wir sind immer noch im Stadium der Selbstghettoisierung. Und es muss wieder politischer werden, offensiver. Wir müssen uns die Aufmerksamkeit erschaffen und erarbeiten.

7. Gibt es Schriftsteller, bei denen du sagen würdest, sie haben dich geprägt? Gibt es Bücher, die vielleicht sogar dein Leben beeinflussen?
Büchner, Brecht, Shakespeare und Heiner Müller haben mein Leben verändert, meine Wahrnehmung, meine Sinne, meine Blicke und Blickwechsel mit der Literatur. „Dantons Tod“, Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“, die Sonette, sein Auftrag. Und natürlich der „Zauberberg“ von Thomas Mann, „Unter dem Vulkan“ von Malcom Lowry, „Le Feu Follet“ von Drieu de La Rochelle (bevor er in den Faschismus abgedriftet ist) und natürlich Ovids „Metamorphosen“.

8. Ein Theaterstück über den Sänger Serge Gainsbourg „Moi non plus“, einen Roman über die französische Rockband Noir Desir „Zephyr“: Hast du einen besonderen Bezug zu Frankreich oder ist das Zufall? 
Man könnte die Liste fast endlos fortsetzen, mein Gedichtband „Polar“, das sind alles Gedichte über französische Kriminalfilme. Jetzt „Über die Lippen“, eine Hommage an Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“, noch ein Stück über Jacques Mesrine, ja, man könnte fast von einer Obsession sprechen. Außerdem war mein erster Regisseur, der geniale Schauspieler André Wilms, ein Franzose. Das französische Kino, die Literatur, die Philosophie, der Citroen SM, das alles hat mich schon immer zutiefst fasziniert und inspiriert, und das, obwohl ich keinen Satz auf Französisch über die Lippen bringe – bzw. ihn nie jemand verstehen würde, auf jeden Fall kein Pariser. Da lauert noch ein großes Defizit und eine Sehnsucht.

9. Du bist Mitglied in der „Autonoma“, der Autoren-National-Mannschaft, Fußball, was sonst. Fußball und Lyrik also, ja, wie geht denn das zusammen?
Als ich die „Ode an Kahn“ geschrieben habe, war das noch fast ein Tabubruch, ein Skandalon. Was, eine Ode auf einen Torwart, der im Kung-Fu-Style durch den Strafraum fliegt und Stürmerohren kaut? Und den besingen wie einen griechischen Gott? Fußball ist Poesie, die Traumpässe in die Tiefe des Raums zwischen den Zeilen, das schnelle Umschalten, das Pressing, die Einsamkeit des Torwarts, die Schizophrenie, kein Tor bekommen zu wollen und doch den Angriff, das Duell herbeizusehnen. Fußball ist voller Dramatik und Fallhöhe und manche Spieler sind ein Gedicht.

10. Drei Wünsche, der Klassiker, die Fee schneit vorbei und du hast drei Wünsche frei. Welche wären das?
Nur einen: dass ich keine Fee brauche, mir meine Wünsche zu erfüllen.