KEIN ZWEIFEL, der Mann passt in keine Schublade. Frank Goldammer führt ja auch ein Doppelleben. Tagsüber ist er als Lackierer- und Malermeister im Einsatz, abends und nachts widmet er sich seiner großen Leidenschaft, dem Schreiben. Ob als Inspirationsquelle oder als Tatort: Seine Heimatstadt Dresden spielt immer eine Hauptrolle – auch in seinen Kriminalromanen um den unbeugsamen Oberkommissar Max Heller. Schon „Der Angstmann“ zum Auftakt war ein Bestseller. Nach „Tausend Teufel“ nun der dritte Band „Vergessene Seelen“.

Ihre Tattoos sind ein Blickfang, um den man nicht herumkommt. Was wollen Sie uns da durch die Blume sagen?
Schaut mich an! Das klappt ganz gut. Aber das ist nur ein Teil der Botschaft, der Rest gilt mir selbst.

Und wie lauten die kompletten Botschaften?
Ich habe mir lange Zeit gelassen, ehe ich begonnen habe, mich tätowieren zu lassen. Mein linker Arm ist Zeichnungen meiner Kinder und diversen anderen Symbolen gewidmet, die mir wichtig sind. Der rechte Arm ist ein Symbol für eine meiner Schwächen. Zwar packt mich oft das Fernweh, doch ich bin viel zu bequem, Reisestress und -strapazen auf mich zu nehmen. „This is what you get when you mess with love“ auf dem Oberkörper ist ein Liedtext von der Band GusGus. Ich hätte ihn spiegelverkehrt tätowieren lassen sollen, denn der geht direkt an mich.

Wenn man auf Partys jemand kennenlernt, stellt sich eigentlich früher oder später immer die Frage nach dem Job. Was antworten Sie da? Maler- und Lackierermeister? Oder Schriftsteller?
Ich sage, ich habe zwei Berufe, und zähle sie alphabetisch auf. Aber man findet mich nicht auf Partys.

Was sprach für Sie als ganz junger Mann dafür, erst einmal eine solide handwerkliche Ausbildung zu machen?
Die Wirren der Wendezeit. Die Unlust, weiter die Schulbank zu drücken. Absolute Planlosigkeit, was ich mit mir anfangen sollte. Mein Vater, damals angestellter Meister in einem Malerbetrieb, sagte: Komm zu uns. Damit war das klar.

Und wann und wie haben Sie das Schreiben für sich entdeckt?
Ich war schon immer künstlerisch ambitioniert, habe gezeichnet. Mit 20 etwa spürte ich, dass es stagnierte, keine Entwicklung in Aussicht war. Von einem Tag zum nächsten hörte ich auf. Doch die entstandene Leere musste gefüllt werden. Ich hatte bis dahin sehr viel gelesen. Also setzte ich mich hin, fing an zu schreiben. Ein so ergreifender Moment – es hätten Posaunen und Glocken erklingen müssen. Ich wusste augenblicklich, das ist es, was ich will. Seit diesem Augenblick habe ich keinen Tag ausgesetzt mit Schreiben.

„Ich glaube, es gibt kein Gut und Böse“

Welchen Stellenwert hat das Schreiben für Sie gewonnen?
Einen erschreckend hohen Stellenwert. Es gehört zu meinem Leben wie Atmen und Schlafen. Es gibt keinen Plan B.

Wie gelingt es Ihnen, Brotberuf und Berufung zu verbinden und beidem gerecht zu werden? Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus?
Aufstehen um sechs, Kinder zur Schule schicken, arbeiten gehen, heimkommen, Haushalt, Hausaufgaben, Abendessen, Kinder zu Bett, schreiben und jeden Tag viel zu spät ins Bett, meist erst um eins.

Würden Sie sagen, es sind zwei verschiedene Welten, in denen Sie aktiv sind?
Es sind zwei verschiedene Welten. Ton und Geschwindigkeit unterscheiden sich enorm. In der Literatur erfahre ich viel Wertschätzung, die mir im Handwerk oft versagt bleibt. Da geht es meist nur um Termine und Preise. Und doch lässt sich die Arbeit an einem Roman mit einer Baustelle vergleichen. Kreativität macht da nur einen Teil aus, der Rest sind Fleiß und Ausdauer.

Welche Rolle spielt Ihre Heimatstadt Dresden für Sie als Inspirationsquelle?
Mein Leben ist natürlich untrennbar mit Dresden verknüpft, all meine Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Ein Ort muss Ecken und Kanten haben, Widersprüche, Zwiespälte, das Hässliche neben dem Schönen, um mich zu inspirieren. Von alldem habe ich genug hier.

Wer oder was weckte Ihr Interesse als Autor an den 1940er Jahren?
Mein Großonkel Werner, der nach 60 Jahren sein Schweigen über seine Kriegserlebnisse brach. Seine Schilderungen von Kindheit, Krieg, Verwundungen, Gefangenschaft in Russland und vor allem von der Heimkehr 1947 haben mich tief bewegt. Ihn empörte damals, wie scheinbar gleichgültig die Dresdner für die Zerstörung der Stadt geworden waren und ihrem Tagwerk nachgingen. Dabei hatten sie ganz andere Sorgen. Schon wenige Tage später war mein Großonkel selbst vom alltäglichen Überlebenskampf so vereinnahmt, dass auch er die Zerstörung kaum noch wahrnahm. Diese Berichte lösten aus, dass ich mich wirklich intensiv mit der Geschichte Dresdens beschäftigte.

Wie kommen Sie eigentlich auf die Kriminalfälle, über die Sie schreiben?
Meist erfinde ich ein Szenario, überlege dann, wie es dazu kommen konnte. Ich recherchiere den geschichtlichen und technischen Hintergrund, habe dazu Zeitzeugen, Archivare, Kriminalpolizisten. Die Kriminalfälle selbst denke ich mir aus. Die Realität liefert Ideen genug.

In Ihren Krimis ermittelt Max Heller. Was für ein Charakter schwebte Ihnen da vor?
Max Heller ist unbestechlich. Ihm gelingt es fast immer, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist hartnäckig, erträgt Erniedrigungen. Er lässt sich nicht beeindrucken, verweigert sich allen politischen Lockungen und Drohungen. Aber er macht vieles mit sich aus, hadert mit seinen Traumata, seiner Angst, Keller zu betreten, und weiß nie, ob er wirklich genug getan hat.

„Max Heller ist un­be­stech­lich“

Ihre Max-Heller-Reihe beginnt mit „Der Angstmann“ im bitterkalten Winter 1944. Als Vorgesetzten hat Max Heller nun einen Mann, der zwar keine kriminalistischen Erfahrungen, dafür aber eine Vergangenheit bei der Waffen-SS mitbringt. Im Gegensatz dazu ist Max nie der NSDAP beigetreten. Konfrontationen sind an der Tagesordnung. Typisch für Ihren Helden?
Seine Stärke ist gleichzeitig seine Schwäche. Wenn man immer alles richtig machen, neutral und gerecht sein will, stößt man unweigerlich an seine Grenzen. Wenn man keine Rücksicht auf Obrigkeiten nimmt, muss man die Konsequenzen tragen. Er ist bereit dazu, mehr als es sich seine Frau Karin wünscht.

Über dem Klappentext von „Der Angstmann“ steht die essenzielle Frage: „Was, glaubst du, macht der Krieg aus uns Menschen?“ Welche Eindrücke haben Sie bei Ihren Recherchen gewonnen?
Das Jahr 44 war von großem Misstrauen geprägt, jeder hatte Angst vor Denunziation. Die meisten ahnten, dass der Krieg kein gutes Ende nehmen würde, niemand wagte es laut auszusprechen.

So ganz kann man das Hier und Jetzt beim Schreiben bestimmt nicht ausblenden, oder? Geistern Ihnen die politischen Katastrophen unserer Tage und die Millionen Menschen auf der Flucht durch den Hinterkopf?Ununterbrochen denke ich darüber nach, entdecke immerzu Parallelen. Neues Großmannsdenken in allen Nationen. Missgunst, Neid. Eine Minderheit von hilfsbereiten Menschen. Der Bezug zur Gegenwart ergibt sich von allein.

Wenn Max Heller durch das Schicksal des invaliden Schulhausmeisters ins Grübeln über Kriege gerät: Spricht Ihnen Ihr Held da aus dem Herzen? Inwiefern ist Max auch sonst ein Geistesverwandter von Ihnen?
In dieser Hinsicht sind er und ich eine Person. Ich hasse Gewalt und Krieg, erkenne keinerlei Nutzen, keinen Sinn. Immer leiden nur die kleinen Leute, immer wieder lassen sie sich glauben machen, sich für eine gute Sache zu opfern, zu sterben. Unglaublich, dass zwanzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg schon ein neuer Krieg beginnen konnte.

Am Anfang von Max Hellers zweitem Fall „Tausend Teufel“ steht die Frage nach dem Preis fürs Überleben. Wie wichtig sind Ihnen solche zeitlosen Denkanstöße? Und wie wichtig sind Ihnen Bezüge zum Hier und jetzt?
Ich glaube, jeder der etwas Schreckliches überlebt, ein Unglück, einen Krieg, eine Krankheit, bezahlt dafür, indem er den Rest seines Lebens daran denken muss. Mancher mehr, mancher weniger. Ich mag meine Leser gern auf diese Art und Weise zum Denken anregen, möchte zeigen, die Menschen damals waren keine andere Spezies, sondern genau wie wir. Ich möchte zeigen, wie schnell Menschen ihre Menschlichkeit verlieren können, wie sie sich zu unglaublichen Taten hinreißen lassen, weil sie glauben, dass allein der Kriegszustand die fürchterlichsten Handlungen legitimiert.

„… wie schnell Men­schen ihre Mensch­lich­keit ver­lieren können“

„Vergessene Seelen“, der neueste Fall für Max Heller, beginnt im Sommer 1948 – kurz vor der Währungsreform. Welches Bild bietet Dresden inzwischen? Was prägt das Lebensgefühl?
Zwar sind die Straßen geräumt, doch noch immer liegt die Stadt in Trümmern. Die Leute sehen die Ruinen nicht mehr, haben anderes zu tun. Das Leben spielt sich außerhalb des Stadtzentrums ab, ist von allerlei Sorgen geprägt. Noch immer herrschen Wohnungsmangel und Versorgungsnot. Viele Menschen gehen in den Westen. Die Spaltung Deutschlands wird immer absehbarer.

Während sich Max Heller erschöpft durch den Sommertag schleppt, sind die Trümmerfrauen unermüdlich im Einsatz. Worin besteht für Sie das besondere Verdienst dieser Frauen?
Der Wert ihrer Arbeit kann nicht hoch genug geschätzt werden, und zwar nicht nur, weil sie die vielen hunderttausende Männer ersetzen mussten. Ihr Verdienst liegt nicht allein in der körperlichen Arbeit, die sie leisteten, sondern auch in der Botschaft, die sie damit vermittelten: Dass man trotz der schier unermesslichen Trümmerberge etwas tat, einen Neuanfang wagte, den Aufbruch in eine neue Zeit. Ich persönlich habe keine Trümmerfrau kennenlernen dürfen, doch wurden wir Kinder in der DDR schon früh dazu erzogen, diese Leistung zu würdigen.

Allen Verheißungen der neuen kommunistischen Machthaber zum Trotz herrschen in Dresden Mangel und Misswirtschaft. Kein Wunder, dass für viele der Westen verlockend wirkt, wo alles besser sein soll. Max Heller ist dagegen immun. Was hält ihn?
Genau diese Frage wird ihn in der Fortsetzung der Reihe mehr und mehr beschäftigen, zumal er sich immer öfter gezwungen sieht, nach den politischen Vorgaben seiner Vorgesetzten zu handeln, anstatt seiner wirklichen Polizeiarbeit nachzugehen. Andere um ihn herum werden befördert, und er muss bald sehen, dass erneut die Parteihörigkeit über Integrität und Leistung gestellt wird. Noch ist es der Sohn Klaus und das Heimatgefühl, die Karin und ihn an die Stadt binden. Doch ihr jüngerer Sohn Erwin wartet im Westen.

Und Sie? Was macht Ihr ganz besonderes Dresden-Lebensgefühl aus?
Es ist meine Heimatstadt, es sind meine Erinnerungen. Ich kenne alle schönen Ecken und auch die weniger schönen, beides hat seinen Reiz. Ich mag die Elbwiesen sehr und auch dass die Stadt nicht überdimensioniert ist.

Und wie ist es mit den Schauplätzen Ihres neuesten Kriminalromans „Vergessene Seelen“? Was kann man davon noch besichtigen
Fast alle Schauplätze kann man noch besichtigen. Die Schule, das Polizeipräsidium, den Rißweg, wo die Hellers wohnen. Jedoch wurden viele baufällige Häuserblocks abgerissen und durch DDR-Neubauten ersetzt. Am meisten beschäftigte mich der Gedanke, wie es den Leuten ergangen sein mochte, nach der Naziherrschaft, dem verlorenen Krieg und den neuen Hoffnungen nun doch wieder in ein totalitäres System zu geraten. Und wie viel Pragmatismus, wie viel Opportunismus legitim sind, um sich zu arrangieren und zu überleben. Im Nachhinein zu sagen, man hätte mehr tun müssen, mehr Widerstand leisten, ist leicht. Aber jeder hat ja nun mal nur das eine Leben.

Max Heller hat in „Vergessene Seelen“ nicht zuletzt Vatersorgen, vor allem um seine zwei fast erwachsenen Söhne, aber auch um seine kleine Pflegetochter Anni. Spricht er da auch dem mehrfachen Vater Frank Goldammer aus Herzen, wenn es um Grübeleien geht, was man mit den Kindern womöglich anders und besser hätte machen sollen?
Natürlich bleibt es nicht aus, dass da auch der Vater aus mir spricht, wenn auch Hellers Sorge um seine Kinder, den Umständen geschuldet, viel tiefgreifender ist. Im vierten Teil dann, „Roter Rabe“, wird Max Heller eine noch viel ausgeprägtere Vaterrolle zuteil.

In Ihren Kriminalromanen sind Gut und Böse mitunter kaum zu trennen. Absicht? Welche Überzeugung steckt dahinter?
Da sind Max und ich wieder eine Person. Ich glaube, es gibt kein Schwarz und Weiß, kein Richtig und Falsch, kein Wir und Die, kein Gut und Böse. Keine einfachen Lösungen. Sobald man ins Detail geht, sieht man, dass alle Grenzen sich auflösen.

Max Heller lernen wir in Ihren Romanen als einen Mann kennen, der die Einfühlsamkeit in Person ist. Aber am Ende von „Vergessene Seelen“ erscheint er uns in einem neuen Licht. Was macht diesen erhellenden Einblick nötig?
Es soll aufzeigen, warum Max Heller jetzt der Mensch ist, der er ist. Auch er hat einen Prozess durchlaufen, eine Entwicklung gemacht, so wie jeder Mensch in der Lage sein sollte, an sich zu arbeiten, sich zu entwickeln. Ich hoffe, ich werde später noch mehr vom diesem jungen Max Heller zeigen dürfen.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Menschen aus der Geschichte lernen?
Ich will nicht allzu pessimistisch erscheinen. Ich glaube noch immer, wie Max Heller, an das Gute im Menschen. Doch ich habe gelernt, dass offenbar jede Generation aufs Neue lernen muss wie wertvoll Frieden und vor allem Demokratie – mit all ihren Schwächen – sind.

Welche Zukunftspläne haben Sie mit Max Heller? Wird er an seiner Prinzipientreue scheitern?
Bis jetzt ist vorgesehen, dass er 1961, im Jahr des Mauerbaus, in Pension geht. Er wird immer wieder scheitern und doch moralischer Sieger bleiben, mit dem Wissen, das Richtige getan zu haben – manchmal nur ein schwacher Trost.