Die Literatur ist aus Uwe Wittstocks Leben nicht wegzudenken. Begonnen hat er 1980 als Journalist bei der FAZ, wechselte dann zum S.FISCHER Verlag als Lektor für deutschsprachige Gegenwartsliteratur, bevor er zur Presse zurückkehrte: Mit Stationen bei der „Welt“ und beim Magazin „Focus“. Der angesehene Autor landete mit „Februar 33“ seinen ersten Sachbuch-Bestseller, mit dem er für den Prix du Livre Européen nominiert war. In seinem aktuellen Buch folgt er den deutschen Literaturgrößen, die hofften, sich über Marseille vor den Nazis 1940 in Sicherheit bringen zu können.​

Die Schicksale der Schriftsteller:innen in den 1930er und 1940er Jahren scheinen Sie nicht loszulassen. Was treibt Sie um, dass sie nach „Februar 33“ nun „Marseille 1940“ geschrieben haben?
Die 1930er Jahre sind heute auf eine gespenstische Weise wieder gegenwärtig geworden. Damals eroberten die Faschisten bei Wahlen halb Europa, heute sind es die Rechtspopulisten. Damals führte das zum Krieg, wohin es heute führt, ist noch unklar. Die deutsche Literatur der Weimarer Republik und der Exilzeit hat mich immer fasziniert, weil sie die extremen politischen Spannungen der Epoche spiegelt. Auch im Leben der Autorinnen und Autoren zeigen sich diese Spannungen. Ich habe insgeheim den Verdacht, wenn man ihre Biografien nur genau genug betrachtet, lernt man auch etwas über unsere Gegenwart – vielleicht sogar etwas über unsere Zukunft.

Wie kamen Sie auf den Titel „Marseille 1940“ und die Abbildung auf dem Cover?
Das Cover ist nicht symbolisch gemeint, sondern konkret. Es zeigt Häuser am Alten Hafen in Marseille. Im Restaurant Basso haben sich viele der handelnden Personen des Buches getroffen, haben dort gesessen und gegessen. Der Titel ist ebenfalls sachlich gemeint: In Marseille haben sich 1940/41 die Lebenswege vieler weltberühmter Literaturgrößen gekreuzt und dramatische Wendungen genommen. Davon möchte ich erzählen.

„… und jeder kann sich auf der Flucht in einem fremden Land wiederfinden.“

Was ist Ihre Mission beziehungsweise Ihr großes Anliegen in „Marseille 1940“?
Die Allermeisten in Deutschland haben das Glück, nicht auf der Flucht zu sein. Ich auch. Aber wir sollten uns gelegentlich vor Augen stellen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eben: Glück. Auch Thomas und Heinrich Mann, Hannah Arendt, Franz Werfel, Anna Seghers und all die anderen hätten niemals gedacht, zu Flüchtlingen zu werden. Plötzlich waren sie es. Es braucht nicht viel, nur zwei, drei fatale Fehlentscheidungen bei Wahlen und jeder kann sich mit einem Koffer in der Hand auf der Flucht in einem fremden Land wiederfinden.

Geografisch ziehen Sie in Ihrem Buch viel größere Kreise, als der Titel vermuten lässt. Welchem Plan sind Sie gefolgt?
Wer erzählen möchte, muss der inneren Logik seiner Geschichte folgen. Sie hat ihren eigenen Willen, sie gibt den Plan vor. Seit dem 20. Jahrhundert weiten sich Krisen und Kriege schnell über alle Grenzen hinweg aus. Da ich von den Abenteuern erzählen wollte, die in Marseille 1940/41 ihren Höhepunkt fanden, musste ich ihren Ursachen folgen, die nicht selten auf anderen Kontinenten zu finden waren.

New York, Berlin, Paris, London, Sanary-sur-Mer: Wie mit einer Kamera schwenken Sie zwischen Ihren Schauplätzen hin und her. Was spricht für dieses filmische Vorgehen?
Es freut mich sehr, wenn Sie das Gefühl haben, die Szenen meiner Geschichte seien wie mit einer Kamera eingefangen. Es war mein Ziel, die Erlebnisse der Flüchtlinge und ihrer Fluchthelfer so anschaulich zu machen wie in einem Film. Je lebendiger und plastischer das Schicksal meiner Helden ist, desto eindrucksvoller wird es für die Leser:innen.

Ihr Buch wirkt wie ein Roman, aber Sie betonen schon im Vorwort: „Nichts wurde erfunden.“ Wie sind Sie stattdessen vorgegangen? Und wie würden Sie Ihr Genre nennen?
Ich brauche in Frankfurt per Fahrrad nur 20 Minuten zur Deutschen Nationalbibliothek mit ihren unermesslichen Bücherschätzen. Dort und im Deutschen Exilarchiv kann man alles finden, um die Lebensspuren der Flüchtlinge zu rekonstruieren. Man muss suchen und genau lesen. Wie man das Genre nennt, ist mir nicht so wichtig. In der Verlagsbranche heißt es „Narrative Non-Fiction“.

In Schlaglichtern vergegenwärtigen Sie Einzelschicksale. Wie haben Sie Ihre Protagonist:innen ausgewählt?
Ich habe mich auf die Personen konzentriert, von denen in den Archiven viele Dokumente erhalten geblieben sind, damit ich möglichst lebendig erzählen konnte.

„Mich interessieren gebrochene ­Charaktere.“

In Ihren Schilderungen entpuppt sich z.B. ein Erfolgsautor als Erotomane, ein anderer macht Urlaub von seinen antifaschistischen Idealen. Was ist Ihnen bei Ihren Charakterisierungen (generell) wichtig? Was interessiert Sie selbst am meisten?
Ich habe nicht das Recht, die Menschen, die damals vor den Nazis flohen und manchmal buchstäblich um ihr Leben gerannt sind, zu be- oder gar zu verurteilen. Mich interessieren gebrochene Charaktere am meisten, Menschen, die keine Heiligen sind. Und seien wir ehrlich, wir alle haben unsere Fehler und Schwächen. Warum sollte es bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern anders sein?

Würden Sie sagen, Hannah Arendt hat einen Sonderstatus unter den Flüchtenden?
Ja und Nein. Sie war eine sehr kluge Frau und hat auf der Flucht kluge Entscheidungen getroffen. Aber 1940 hatte sie noch so gut wie nichts veröffentlicht. Sie war als Autorin völlig unbekannt. Ihre großen Bücher schrieb sie erst in den USA. Gerettet wurde sie unter dem Namen ihres Mannes – als Madame Blücher.

Eine geheime Hauptrolle spielt – in der historischen Wirklichkeit und in Ihrem Buch – ein bislang viel zu wenig bekannter Mann: Varian Fry. Wie würden Sie ihn beschreiben?
Varian Fry war Amerikaner, Journalist und einer der gebrochenen Charaktere, die ich so interessant finde. Er war ein sehr politisch denkender, oft sehr widerspenstiger, schwieriger Mann. Er liebte die Literatur und konnte Ungerechtigkeit nicht ertragen. Er hat mit 32 Jahren seinen Beruf verlassen und seine Karriere ruiniert, um nach Marseille zu reisen und deutsche und österreichische Hitlergegner aus dem von den Nazis eroberten Frankreich zu befreien. Er hat rund 1.500 Menschen das Leben gerettet und das eigene dabei oft aufs Spiel gesetzt.

„In Marseille entpuppte er sich plötzlich als exzellenter Menschenkenner.“

Varian Fry war nicht der geborene Wohltäter. Was trieb ihn an?
Schwer zu sagen. Er hatte oft Depressionen und geriet schnell mit anderen in Streit. Aber als er in Marseille eintraf, entpuppte er sich plötzlich als exzellenter Menschenkenner. Er hat mit traumhaft sicherem Griff lauter hochbegabte, loyale, mutige Leute um sich geschart. Ohne sie hätte er niemals so viele Menschen retten können. Es klingt absurd, aber bei seiner gefahrvollen Arbeit in Frankreich ist er oft glücklich gewesen. Später, nach seiner Rückkehr in die USA, ließ sich seine Frau von ihm scheiden, wurde er vom FBI beobachtet, verlor er seinen Job und kam beruflich und gesundheitlich nie wieder richtig auf die Beine.

Fry hat seine Mission mit fast nichts in der Hand und unter Lebensgefahr begonnen. Was imponiert Ihnen am meisten an ihm und seinen hochriskanten Aktionen mit seinem Netzwerk?
Seine Kompromisslosigkeit. Mit seinem Kampf gegen die Mordmaschinerie Hitlers hat er sich nicht nur bei den Nazis gefährliche Feinde gemacht. Sondern auch unter den Anhängern der halbfaschistischen Pétain-Regierung in Frankreich und ebenso bei den amerikanischen Behörden, die keineswegs glücklich waren, dass er so viele Flüchtlinge über den Atlantik in die USA brachte. Aber das war ihm egal. Er ließ sich nicht aufhalten, auch um den Preis, seine eigene Zukunft zu Grunde zu richten.

„Menschen, die völlig uneigennützig anderen in Not helfen.“

Was haben Sie beim Schreiben – trotz der Dramatik – als Hoffnungsfunken und Ermutigungen empfunden?
Es ist wunderbar, dass es Menschen gibt wie Varian Fry und seine Leute. Menschen, die völlig uneigennützig anderen in ihrer Not helfen. Selbst wenn sie dafür ihr Leben riskieren müssen. Dass es in der Geschichte immer wieder solche Menschen gibt, ist eine enorme Ermutigung.