Orientierung im Zeitalter der Verwirrung, das ist der Ansatz von Gerald Hüther, Neurobiologe und Verfasser zahlreicher Bücher, sowie Robert Burdy, Moderator und Journalist. Beide können dem Plus an Information sowie der freien Zugänglichkeit für alle durchaus Gutes attestieren, befürchten jedoch, dass wir Menschen allzu leicht Opfer von Manipulation und Überreizung werden. Dennoch sind beide Autoren zuversichtlich: Wer die Stolperfallen kennt, kann ihnen geschickt ausweichen!

Typisch für unser Informationszeitalter, dass viele ihr Smartphone ständig auf Empfang haben. Sie auch?
RB: Das Telefon ist oft auf Empfang, aber nicht ständig. Und ich widme ihm meine Aufmerksamkeit gezielt und nicht jedes Mal, wenn es meint, piepen zu müssen.
GH: Mein Smartphone ist für mich ein Arbeitsgerät, das ich nutze wie Papier und Bleistift, aber nur dann, wenn ich damit arbeiten will.

Wie oft checken Sie normalerweise Ihr digitales Postfach und wie schnell reagieren Sie?
RB: Schon häufiger am Tag. Aber wichtig ist auch hier, Prioritäten zu setzen und einzuhalten.
GH: Ich erledige alle Anfragen per E-Mail am Rechner im Büro, grundsätzlich nicht unterwegs am Smartphone.

Was macht das Informationszeitalter zugleich zum Segen und Fluch?
RB: Das Informationszeitalter bietet uns einen unglaublichen Reichtum an Wissen, an Daten und auch an Geschichten, die unser Leben verstehbarer, erklärbarer und interessanter machen. Und es überflutet unsere Gehirne mit Botschaften, die für eine massive Verwirrung sorgen.
GH: Ein Segen sind die digitalen Medien, weil sie die Möglichkeit bieten, uns über alles zu informieren, was auf der Welt geschieht und weil sie vieles vereinfachen, was ohne sie umständlicher und schwieriger wäre. Zum Fluch werden sie dann, wenn wir ohne ihre Hilfe nicht mehr auskommen.

Was passiert mit uns seit Einführung der dauerhaften Erreichbarkeit?
RB: Die Aufmerksamkeits-Ökonomie macht uns zu Informations-Verbrauchern und der übermäßige Konsum der Botschaften schafft eine Bedürftigkeit, die uns ärmer macht, statt uns zu bereichern.
GH: Wenn alles immer schneller geht, werden die Menschen zu Getriebenen, die nichts verpassen wollen. Und wenn alles immer perfekter funktioniert, wird das perfekte Funktionieren zum Leitbild für die eigene Lebensgestaltung. Beides macht auf Dauer krank.

Welchen Auslöser hatte ihr Buch?
RB: Der Satz „Das System der Demokratie hat versagt“. Das war die gefährlichste Botschaft, die mich in den vergangenen Jahren erreicht hat. Sie trifft nicht zu, kann aber leicht zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
GH: Bei mir war es die Sorge, dass sich zu viele Menschen im Dschungel widersprüchlicher Informationen verirren. Im Gehirn führt ein Übermaß an Informationen zu einem ähnlichen Effekt wie ein Mangel an Informationen: Ratlosigkeit.

„Die Warnung vor epochalen und gefährlichen Entwicklungen.“

Ihr Buchtitel ist nicht zuletzt eine Anspielung auf Neil Postman und seinen Klassiker „Wir amüsieren uns zu Tode“. Was verbinden Sie mit ihm?
RB: Was uns verbindet – und so sind wir auch auf den Titel gekommen – ist die Warnung vor epochalen und gefährlichen Entwicklungen in unserer zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Kommunikation.

Ihr Buchtitel wirkt wie ein Alarmsignal. Was ist für Sie der Auslöser?
RB: Der Buchtitel ist das Echo eines Alarmsignals, das die meisten von uns täglich hören und empfinden: Achtung, ich erfahre zu viel und lerne zu wenig!

Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht von einer „Infodemie“. Wie lautet Ihre Diagnose?
GH: Es ist jetzt schon absehbar, dass die Folgen der Überflutung des Gehirns mit Informationen künftig als eine Erkrankungsursache betrachtet wird. Sie ist durch unser Verhalten ausgelöst, wie alle Suchterkrankungen.
RB: Und sie ist global und nachhaltig. Insofern dürfte „Infodemie“ in Anlehnung an Pandemie durchaus zutreffend sein.

Wie würden Sie das Thema Ihres Buches auf den Punkt bringen
RB: Die Menge der gegenwärtig angebotenen Informationen überflutet unsere Gehirne. Jeder von uns entscheidet, welches Angebot er oder sie annimmt. Wir müssen und können raus aus der permanenten Bedürftigkeit, uns alles erklären zu wollen.
GH: Über etwas informiert zu werden oder etwas erklärt zu bekommen, führt nicht zwangsläufig dazu, dass jemand auch wirklich versteht, worum es geht und was es bedeutet. Wir wollen den Leserinnen und Lesern dieses Buches helfen, besser als bisher zu verstehen, wodurch diese Informationsflut ausgelöst wird und welche Folgen sie hat. Und vor allem: Dass ihr niemand hilflos ausgeliefert ist. Dass es möglich ist, Dämme zu bauen, die uns davor schützen.

Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit und wie ergänzen Sie einander bei Ihrem gemeinsamen Buchprojekt?
RB: Am Anfang war es nur eine Idee. Dahinter steckte ein von uns beiden erlebtes Gefühl. Und daraus wurde in zahlreichen Gesprächen das Buch. Es ist zwischen uns gewachsen und wir sind mitgewachsen.
GH: Es wird ja immer dann richtig spannend, wenn sich zwei Menschen mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und Erfahrungen gemeinsam auf den Weg machen. Wir kamen aus völlig verschiedenen Richtungen und sind einander beim Schreiben immer spürbarer begegnet. Co-Kreativität nennen das die Innovationsforscher.

„Wiederentdeckung der Bedeutung von Langsamkeit und Muße!“

Der technische Fortschritt ist rasant. Aber wie steht es um die Evolution, wie kommt unser Gehirn mit, Herr Hüther?
GH: Wenn es immer schneller gehen soll, muss es immer flacher werden. Das wissen schon die Bootsbauer. Wir Menschen verdanken unser zeitlebens lernfähiges Gehirn aber einer evolutionären Erfindung, die so gar nicht in diese hektische Zeit passt: Verlangsamung. Je langsamer es sich formiert, desto differenzierter kann es sich ausbilden. Wenn es schnell gehen muss, kann das, was möglich wäre, also auch das Vernetzungspotential im Gehirn, nicht entfaltet werden. Dann kommt es zu dem, was wir bei Pflanzen als „Notreife“ bezeichnen. Wenn unser Buch zur Wiederentdeckung der Bedeutung von Langsamkeit und Muße führt, wäre das eine wichtige evolutionäre Kurskorrektur.

Mit der Anzahl an Informationskanälen steigt die Qual der Wahl. Welche Gefahren bringt diese Entwicklung mit sich, Herr Burdy?
RB: Wir bewegen uns zunehmend in Richtung individualisierter Wahrnehmungswelten. Das macht Kommunikation zwischenmenschlich und in der Gesellschaft immer schwieriger. Die Qual beginnt aber nicht mit der Wahl. Gezielte Auswahl wäre gut. Die Qual kommt vom unreflektierten Konsum von vermeintlichen Informationen. Übermäßige Informationsaufnahme führt wie übermäßige Nahrungsaufnahme zu Verstopfung und Verfettung.

Information und Manipulation sind immer schwieriger zu unterscheiden. Was tun?
RB: Das Wichtigste ist: Wir müssen lernen, nicht sofort auf emotional aufgeladene Botschaften zu reagieren. Das geht! Dass zum Beispiel der Freistaat Sachsen nun in einem Projekt Achtsamkeit als Schulfach eingeführt hat, gibt mir Hoffnung.
GH: Hirntechnisch sind wir durchaus in der Lage zu erkennen, wenn uns jemand dazu bringen will, etwas zu tun, das wir nicht selbst wollen. Aber dazu müßten wir unser Gehirn eben auch einschalten.

Ob Pandemie oder Putins Krieg: Je brisanter die Lage, desto mehr Schreckensmeldungen sind wir ausgesetzt. Welche Folgen hat das?
RB: Wir verfallen dem „Bad-World-Syndrom“. Durch die Flut negativer Nachrichten bekommen wir den Eindruck, die Menschen und die Welt seien schlecht. Das ist aber nicht so.
GH: Wenn ein Mensch in seinem Gehirn ständig mit Schreckensmeldungen bombardiert wird, findet es dafür irgendwann auch eine Lösung: Es schaltet ab, hört nicht mehr zu und schaut nicht mehr hin. Resignation und Gleichgültigkeit sind die fatalen Folgen.

„Wer Bericht erstatten will, muss erstmal hinhören und hinschauen!“

Welche Weichenstellungen sind in der Berichterstattung nötig?
RB: Wer Bericht erstatten will, muss erstmal hinhören und hinschauen!
GH: Und er sollte berichten, was er gehört und gesehen hat und nicht seine oder irgendeine Meinung anderer verbreiten.

Was verhilft uns zu einem gesunden Umgang mit der Informationsflut?
RB: Wir selbst!
GH: Indem wir uns fragen, wozu wir das alles brauchen, was uns an vermeintlichen Informationen angeboten wird.

Was ist Ihr persönlicher Rettungsanker?
RB: Ich versuche, einen guten Teil meines Tages mit Tätigkeiten zu verbringen, die mich nicht zum Bedürftigen machen und stattdessen meine Neugierde auf eine bestimmte Sache richten. Aikidotraining. Meditation. Yoga. Und Schreiben!
GH: Ich versuche mich immer wieder daran zu erinnern, was mir im Leben wirklich wichtig ist. Und das mache ich dann auch so oft es geht. Zum Beispiel draußen in der Natur zu sein.