Als brillanter Erzähler mit fulminantem Wissen und Einfühlungsvermögen ist Hans Pleschinski bestens bekannt für seine Kunst, unterhaltsam und zugleich geistreich zu schreiben, wie in seinen vielen Romanerfolgen, z.B. „Königsallee“, „Wiesenstein“ und „Ludwigshöhe“. Nun zieht er alle Register in seinem aktuellen Opus „Der Flakon“ über den Überfall Preußens auf Sachsen 1756 und die mutige Geheimmission der Reichsgräfin von Brühl, um diesen Krieg zu beenden. Ein Bravourstück!

„Mir ging es immer darum, Historie wachzurufen“, haben Sie in einem Deutschlandfunk-Interview anlässlich Ihres 60. Geburtstags erklärt. Was macht Ihnen Geschichte so bedeutsam?
Im Grunde gibt es nichts Vergangenes. Alles wirkt weiter. So ist Geschichte der Humus, aus dem wir wachsen. Und wer mehr über Geschichte, also über das Entstehen der Gegenwart weiß, der ist reicher als andere. Geschichte ist ein Schatzhaus, in das ich gerne gehe, um Wunderbares, Gefährliches, Abenteuerliches und auch überraschende Banalitäten zu entdecken. Und diese Funde teile ich gerne Lesern mit. Denn wir sind alle Erben unserer Ahnen.

In Ihrem aktuellen Roman beleuchten Sie ein dramatisches Kapitel deutscher Geschichte neu. Was macht das Geschehen anno 1756 und in den Folgejahren für Sie – vielleicht gerade jetzt – erzählenswert?
1756 begann der Siebenjährige Krieg, und es entschied sich, welchen Weg Deutschland nehmen würde. Würde es ein entspanntes, buntes, oft heiteres Land bleiben oder für lange Zeit preußisch-militaristisch werden? Als die sächsische Armee vor den Preußen Friedrichs des Großen kapitulierte, war dies der Dammbruch. Militärische Gewalt triumphierte. Bedeutsam daran ist auch, dass 1756 erstmals in der Neuzeit ein Land, Preußen, seinen Nachbarn, Sachsen, ohne Kriegserklärung überfiel. Ein schlimmes Beispiel der Aggression, dessen Nachahmung wir leider auch im Überfall Russlands auf die Ukraine erleben. Die Parallele zu 1756 springt ins Auge. Und diese Vorgänge sind entscheidend für meinen Roman.

„Preußen wollte sich diesen fetten Happen einverleiben.“

Preußen gegen Sachsen 1756: Welche Gegensätze prallen da aufeinander?
Preußen und Sachsen waren Konkurrenten um eine Vorherrschaft in Deutschland. Preußen war eher arm, Sachsen, damals noch viel größer, war durch Handel und Gewerbe reich. Allein die Meißener Manufaktur erwirtschaftete ein Vermögen. Viel preußischer Neid auf den Wohlstand, eine sorglosere Lebensart, das Blühen von Kunst und Kultur in Sachsen spielte eine Rolle. Preußen wollte sich diesen fetten Happen einverleiben. Die Kunstsammlungen Dresdens überflügelten die Berlins bei weitem. Anschaulich wird der fundamentale Lebensunterschied in der herrlichen Silhouette Dresdens und den damals kargen Straßen Berlins. Bleibende Symbole für zwei Welten sind der Dresdener Zwinger, ein Ort für Feste, und das Brandenburger Tor, eine Schleuse für Militärparaden. In Sachsen herrschte eher ein Laissez-Faire, in Preußen der Kommandoton.

Ist der Romantitel ein bewusster Verzicht auf Kriegsvokabular? Warum etwas geheimnisvoll „Der Flakon“?
Im Roman geht es um wenig bekannte historische Vorgänge, um eine Verschwörung gegen einen übermächtigen Aggressor. Und der Flakon, der entscheidend ist, ist keineswegs harmlos. In einem Flakon lassen sich Parfüms, aber auch Lebensbedrohliches abfüllen. Ich hoffe, der Leser wird sich gespannt fragen, wie dieser Flakon zum Einsatz kommt. Davon hing schließlich der Lauf der deutschen Geschichte ab. Der Krieg mit seinen Schrecken bleibt notwendigerweise präsent. Und es ging darum, dies Massaker zu beenden.

„Wissen um Vergangenheit macht reicher.“

Mit welchem Idealanspruch und Plan haben Sie sich an Ihr literarisches Werk gemacht?
Ich wollte eine weithin vergessene, doch entscheidende Phase unserer Geschichte verlebendigen. Wie gesagt, Wissen um Vergangenheit macht reicher. Die damals niedergetretene Lebenslust in Deutschland wollte ich aufblühen lassen. Sachsen stand für Festlichkeit, Kunstemphase und einen kulturellen Rausch. Es ist lohnend, sich daran zu erinnern. Der Roman soll in diese Zeit entführen, in der in vielen Bereichen auch unser modernes Leben entstand. So war Leipzig, das im Roman sehr wichtig ist, eine Schmiede für unsere Sprache und das selbständige Denken des Menschen. Leipzig war Deutschlands geistiges Zentrum.

Am Anfang Ihres Romans erklingt nicht nur Kanonendonner beim preußischen Ansturm auf Sachsen, sondern auf der Festung Königstein auch Bachs „Jauchzet, frohlocket“. Ein Bekenntnis? Kultur als Rettungsmanöver gegen die Barbarei des Krieges? Kunst als Lebenselixier im Kurfürstentum Sachsen, in dem Ihr Roman spielt, und auch von Ihnen, Herr Pleschinski?
Musik war in Sachsen immer von großer Bedeutung. Die Oper in Dresden besaß Weltgeltung. Und es gab kaum einen großen Komponisten, der nicht aus dem sächsischen Kulturkreis stammt: Schütz, Händel, Bach, Telemann und viele mehr. Es war sozusagen ein swinging country, natürlich auch mit viel normalem Alltag. Man war stolz auf sein lebendiges, klingendes Land und fühlte sich sicher. Das war ein Trugschluss; Sachsen war zu wehrlos. So etwas lässt sich auf heute übertragen. Was gegen die Barbarei des Kriegs überlebt hat, sind dennoch die Kunstschätze. Dresdens Grünes Gewölbe ist noch da, Preußen dagegen gibt es nicht mehr. So triumphiert denn vielleicht doch die Kultur.

Viel Erzählstoff für Ihren Roman „Der Flakon“ liefert Ihnen die Feindschaft zwischen Preußenkönig Friedrich II. und Sachsens Premierminister Reichsgraf Heinrich von Brühl. „1.500 Perücken für einen Kopf“ soll Friedrich II. über Brühl gespottet haben – unter anderem. Wie erklären Sie sich dieses tiefe Zerwürfnis?
Brühl war durch und durch Zivilist und Diplomat, zudem ein raffinierter Karrierist. Friedrich hasste den geschmeidigen Aufsteiger, der wie ein heimlicher König lebte. Brühls diplomatische Systeme wurden von Friedrich mit Gewalt und geradezu lustvoll zerschmettert.

„Für die Geschehnisse gibt es einige, aber wenige Anhaltspunkte.“

Wie haben Sie Ihre Fiktion und die Überlieferung historischer Fakten in Einklang gebracht und welche literarischen Freiräume waren Ihnen am wichtigsten?
Für die Geschehnisse, die ich schildere gibt es einige, aber wenige Anhaltspunkte, historische Fakten. Die Leerstellen dazwischen habe ich zu rekonstruieren versucht. Ich halte mich so genau wie möglich an die historische Wirklichkeit. Es gibt den preußischen Überfall, es gibt die sächsischen Gedanken an Befreiung und Rache, es gibt den Flakon und den König von Preußen, der Europa in Kriege stürzt. Freiräume fülle ich nach bestem Wissen historisch präzise und mit der unverzichtbaren Einfühlung in Personen und Ereignisse. Nicht zuletzt erlebt der Leser mit, wie strapaziös es war, mit einer Postkutsche im Winter von Dresden nach Leipzig zu fahren und was man dabei erlebte. Ich selbst habe dabei viel gelernt.

Auf der Festung Königstein schmäht Sachsens Premierminister Heinrich von Brühl den Preußenkönig Friedrich II. als „Nimmersatt und Brandstifter im Herzen Europas“. Welche Eindrücke haben Sie von Friedrich dem Großen gewonnen?
Heinrich von Brühl und Friedrich der Große waren Erzfeinde. Brühl, ein erstrangiger Diplomat, lebte glanzvoll und besaß mehr Gemälde und Tabaksdosen als Friedrich. Schon das verzieh der Preußenkönig nicht. Friedrich der Große bleibt eine überragende Gestalt. Er war gewiss einer der intelligentesten und geistreichsten Männer, die je regiert haben. Aber als Anstifter von Kriegen war er furchtbar und gnadenlos. Eine gespaltene Persönlichkeit und am Ende ein Nihilist. Friedrich war es egal, ob nach ihm sein Preußen noch existieren würde. Er lebte seinen Geist und seine Kräfte in der Gegenwart aus. Er glaubte an nichts, außer an das Schicksal. Ein gefährlicher Mann.

Schon vielfach verdient gemacht haben Sie sich auch als Übersetzer und Herausgeber von Tagebüchern und Briefwechseln. Was schätzen Sie an diesen Quellen und welche erwiesen sich als besonders ergiebig und aufschlussreich für Ihren neuen Roman?
Viel Vorwissen hatte sich über die Jahre angestaut. Zur Vertiefung las ich Literatur und Schriften jener Zeit, Briefe des Ehepaars Brühls, Werke Friedrichs des Großen, Memoiren. Es war eine Unmenge Stoff, den ich sichten und filtern musste. Allerdings kann ich nun für die Geschichte des Verkehrswesens jedermann das „Lexikon Kursächsische Postmeilensäulen“ nur dringend empfehlen.

„Die Reichsgräfin von Brühl ist sozusagen eine Jeanne d’Arc Sachsens.“

Welchen Status hat die Reichsgräfin von Brühl in Ihrem Roman und warum gebührt ihr dieser Stellenwert?
Maria Anna Franziska von Brühl, die Gattin des sächsischen Premierministers, war ein weltkluge und mutige Frau. Genau wie die Königin von Sachsen weigerte sie sich, vor den preußischen Invasoren zu fliehen. Dazu war sie zu stolz. Eine zivile Heldin. Sie nahm, wie Dokumente es mir bewiesen, den Kampf gegen Friedrich den Großen auf, eine Eine-Frau-Widerstandsgruppe. So musste und konnte ich mich der Reichsgräfin von Brühl widmen, ihre Gedanken und Taten treiben den Roman voran. Sie ist sozusagen eine Jeanne d’Arc Sachsens, ja Deutschlands. Die Besitztümer des Ehepaars Brühl ließ Friedrich übrigens systematisch zerstören.

Während sich die offiziellen Machthaber Sachsens nach Polen absetzen, tritt die Reichsgräfin von Brühl inkognito die Flucht nach vorn an. Was treibt sie zu dieser abenteuerlichen Mission und was ist das Imponierende und Bemerkenswerte daran?
Das gesunde Selbstbewusstsein und ein Gerechtigkeitsgefühl sind der Motor für das Handeln der Gräfin Brühl. Sie ließ sich nicht beugen und verknechten: „Wer bin ich denn!“ Das bleibt faszinierend. Sie steht auch für viele Frauen jener Zeit – natürlich oft aus der Oberschicht –, die weitaus einflussreicher waren und mehr Rechte besaßen als wir es heute glauben. Die Gräfin kämpfte zudem für die Zukunft ihrer Kinder. Was sie zur Befreiung Sachsens einfädelte und wagte, bleibt atemberaubend kühn.

Unterwegs ist die Reichsgräfin von Brühl mit ihrer Kammerfrau Luise von Barnhelm. Wie deuten Sie ihre Rolle?
Luise von Barnhelm steht für lebensbejahende Jugend. Sie ist manchmal kess, manchmal scheu, aber eine gute Seele, bei der auch im Liebesleben noch manches unklar ist. Eine duftende Rose des Rokokos, zu der Krieg so gar nicht passt. Sie tanzt lieber.

„Frauen haben Schwung in die Geschichte gebracht!“

Was hat Sie bewogen, verstärkt Frauen aus dem Schatten treten zu lassen? Welche weiblichen Persönlichkeiten und Leistungen beeindrucken Sie besonders?
Ich musste Frauen nicht aus dem Schatten ziehen, sie traten elegant und klug selbst daraus hervor. Es war keine Mühe, Frauen in meinem Roman zu würdigen. Ich sah ihr Wesen und ihre Taten. Eine besondere Rolle spielt dabei auch Luise Gottsched, sie war die erfolgreichste Komödiendichterin Deutschlands, ein Sprachgenie, die mit ihrem Mann die Grundlagen für unser modernes Deutsch schuf. Ihr, wie der Gräfin Brühl, wollte ich auf alle Fälle ein Denkmal setzen. Solche Frauen haben viel freien und frischen Schwung in die Geschichte gebracht und dafür bin ich dankbar. Das 18. Jahrhundert war vielfach ein Jahrhundert der Frauen, man denke nur an Madame de Pompadour oder an Maria Theresia. Und an die Gräfin Brühl.