Willkommen in den Echokammern eines Ausnahmekünstlers, der sich immer wieder neu erfunden hat: Rocko Schamoni ist Musiker, Melodientüftler, Songtexter, Schauspieler, Entertainer und Autor von Bestsellern wie „Dorfpunks“, „Große Freiheit“ und „Der Jäger und sein Meister“. Einer, der über sich selbst und seine Befindlichkeiten nicht nur lachen, sondern auch wunderbar schreiben kann. Der aktuelle Beweis: „Pudels Kern“, Schamonis schonungsloses Selbstporträt als junger Mann, der im wilden Sankt Pauli der 80er Jahre die Freiheit und den Punk feiert.

Erst Ihr legendärer „Pudel Club“, nun „Pudels Kern“ in Buchform: Warum haben es Ihnen speziell diese Hunde angetan?
Der Pudel ist mein Wappentier, allerdings habe ich ihn mir nicht ausgesucht, sondern er ist mir in einem Traum zugelaufen und begleitet mich seitdem, ob ich will oder nicht. Zudem ist der Pudel ein multidimensionales Wesen: Oberflächlich ist er süß, putzig, fein, dressiert, spießig. Im Kern aber räudig, verlaust, bissig, brennend teuflisch. Genau das Gegenteil von mir.

Was ist „Pudels Kern“ für Sie? Worum geht es Ihnen?
Vor 20 Jahren erschien meine Geschichte eines Dorfpunks, der aus der Einöde ausbrechen musste. Doch was geschah eigentlich danach? „Pudels Kern“ erzählt, wie der Künstler Rocko Schamoni das Licht der Bühne erblickte, als Fun-Punk-Schlagerstar die Szene aufmischte – und zunächst scheiterte. Der Roman umfasst die Jahre 1986 bis 1994 und endet mit der Gründung des „Goldenen Pudel Club“ – es waren wilde Jahre.

Was hat Sie bewogen, Ihren Erinnerungsschrank zu öffnen?
Nachdem mich über die Jahre viele Menschen gefragt hatten, beschloss ich zu erzählen wie es weiterging, wie Roddy Dangerblood zu Rocko Schamoni wurde – wie die Großstadt Hamburg, der Kiez, St. Pauli als Fixstern der Verrückten diesen Künstler schufen. Und das alles in einer Zeit, in der große politische und gesellschaftliche Umbrüche anklopften: das Ende des kalten Krieges, der Fall der Berliner Mauer, der Beginn der unbekümmerten Neunziger. Und es war die Zeit jener Musik und Künstler:innen, die Rocko Schamoni zu dem machten, was er heute ist.

Wie nah oder fern ist Ihnen die Welt von damals und Ihr junges Ich in den Tagebüchern?
Sobald ich die Tagebücher aufschlage, ist mein jüngeres Ich wieder da. Ich muss häufig über dessen Naivität lächeln, aber im Grunde ist mir dieses Ich nach wie vor sehr vertraut, es ist ein Teil meines Kerns, verborgen unter Schichten von Erwachsensein.

Ihr Protagonist nennt sich genau wie Sie selbst: erst Roddy Dangerblood, dann Rocko Schamoni. Ist Ihr Buch genau an Ihrem Leben entlangerzählt oder autofiktional?
Darüber werde ich Sie im Ungewissen lassen, das ist mein Vorteil und meine Freude als Autor.

„Von einer Angst angetrieben, etwas zu verpassen.“

Wie würden Sie Ihr 19-jähriges Ich von 1986 beschreiben?
Wild, zügellos, unkultiviert, naiv, von einem starken Feuer und einer Angst angetrieben, etwas zu verpassen. Eine Persönlichkeit, die zwischen Depression und Euphorie oszilliert, sehr stark und schwach zugleich ist.

Was drängte Sie als Dorfpunk aus dem schleswig-holsteinischen Lütjenburg zum Auf- und Ausbruch?
Das Abenteuer, die Wildheit der Großstadt, Kunst, Mode, Politik, Sex, all das gab es auf dem Land nur in Spurenelementen, aber in Hamburg und Berlin in dicken Dosen.

Freiheit haben Sie bei Ihrem Absprung von Zuhause nicht nur sich selbst gewünscht, sondern auch Ihren Eltern. Warum lag Ihnen das so am Herzen?
Weil Familien auch eine Art Gefängnisse für alle Beteiligten sind. Es können sich erst Tore öffnen, wenn man ihre Regeln in Frage stellt und sich irgendwann buchstäblich gehen lässt. Erst als ich ging, konnte ich die Liebe zu meiner Familie wieder entdecken.

„Im Nichts zu verschwinden …“

Ihr Sehnsuchtsziel war St. Pauli. Was lockte Sie? Was fanden Sie an dem Hamburger Kiez so verheißungsvoll?
Das Unbürgerliche, Anarchistische, die Möglichkeit abzutauchen, im Nichts zu verschwinden, bis die eigenen Spuren nicht mehr nachzuverfolgen sind.

Was war Ihr Plan für den Neuanfang?
Nichts.

Was hat Sie an und in der wilden Welt des Punk am meisten fasziniert?
Das wir überall auf der Welt Gleichgesinnte finden konnten, Wahlverwandte in allen Dörfern und Städten, eine große Gruppe von Unzugehörigen, die man sofort an der zerrissenen Uniform erkennt.

„Pudels Kern“ ist nicht nur Coming of Age, sondern auch Coming of Stage. Wo wollten Sie unbedingt hin? Was war Ihr Traum oder Ihre Vision?
Ich wollte erstrahlen, am liebsten in der Welt der Kunst, wozu für mich auch Musik, Film und Theater gehörten. Wichtig war allein: Weg von allen Pfaden, die andere für mich gewählt hatten. Ich wollte frei sein, sowohl im Schaffen als auch im Sein.

„Das war eine unendliche Selbstinitiation.“

Mit 19 waren Sie überzeugt, um in der Kunst etwas zu sagen zu haben, müsse man erst mal Narben sammeln. Wo und wie haben Sie sich die hauptsächlich geholt?
Durch Prügeleien! Ich mutete mir und meinem Körper einiges zu. Ich kam jedes Wochenende mit offenen Wunden nach Hause. Immer war irgendwo ein blutendes Loch, das ich als einen Orden betrachtete. Das war eine unendliche Selbstinitiation. Ganz abgesehen von den Wunden und Narben auf der Seele, der schwarze Lorbeer, der eine Künstlerseele umkränzt, um es mal blümerant zu formulieren.

Mit den „Toten Hosen“ und den „Goldenen Zitronen“ auf Tournee zu gehen, wirkt wie ein Ritterschlag. Wo war der Haken?
Die „Hosen“ und die „Zitronen“ waren zwei extrem angesagte, wilde Punkbands, zwischen den beiden als Solobarde aufzutreten war nicht nur eine Dummheit, sondern vor allem ein maximales Spießrutenlaufen, denn man beschmiss mich mit allem, was die Punks so bei sich trugen, Beulen und Blessuren waren garantiert.

Was waren die größten Stolper- und Meilensteine?
Meine fehlende Selbsterkenntnis darüber, wer ich war und was ich konnte – ich musste sehr viele Umwege gehen, das hat mich Jahre gekostet.

Seit Ihrem 17. Lebensjahr machen Ihnen immer wieder düstere Wolken zu schaffen. Warum haben Sie dieses Bild für Ihre Depression gewählt und was hilft Ihnen, damit umzugehen?
Welches Bild habe ich gewählt? Die Wolken stammen nicht von mir. Letztendlich hat mir das Alter geholfen, denn heute greift mich die Depression kaum noch an, im Gegenteil: ich reite sie, ich benutze sie, ich beute sie aus, jetzt ist Payback Time und ich stehe oben.

„… die Lust auf Schaffen.“

Ob künstlerische Rückschläge oder Abstürze: Was war und ist Ihr Rettungsanker?
Der Blick nach vorne, die Lust aufs Schaffen, immer weiterzumachen, egal was andere – vor allem Kritiker – sagen. Ich bin von der Lust auf die Kunst getrieben.

Fast so etwas wie ein Wahrzeichen ist für viele der „Pudel Club“, den Sie damals mit Schorsch Kamerun gründeten. Wie kam es zu diesem Projekt und was war Ihnen dabei am Wichtigsten?
Der „Pudel Club“ schaffte für die Verlorenen der Nacht einen Platz. Wir schufen diesen Platz nach unseren eigenen Vorlieben: schrottig, verwegen, halb verfallen, wild glitzernd, abgründig, das Gegenteil von posh. Das schönste an diesem kleinen Schrotttempel war seine repräsentative Lage: während alles andere am Elbufer glitzerte, stand hier ein stolzer, halb zerfranster, hässlicher, bissiger Köter – in Hausform, um die Anreisenden zu begrüßen.

Ihre Romane „Große Freiheit“ und „Der Jäger und sein Meister“ zählen Sie zu Ihrem Freak-Projekt. Wie reiht sich „Pudels Kern“ da ein?
„Große Freiheit“ behandelt die Freakwelt der 1960er-Jahre, „Der Jäger und sein Meister“ die der Siebziger und meine eigene Freakwelt war die der Achtzigerjahre, es schließt sich also der Kreis.

„Halte durch! Gehe nicht über die Abkürzung!“

Was würden Sie Ihrem jungen Ich heute mit auf den Weg durch die Höhen und Tiefen geben?
Es ist sinnlos, jemandem etwas mit auf den Weg geben zu wollen, außer vielleicht: „Halte durch! Gehe nicht über die Abkürzung!“

Wieviel von dem Punk-Ich von einst steckt noch in Ihnen?
37,4 Prozent.