Sein Ausnahmestatus in der Weltliteratur ist ihm für immer sicher: Franz Kafka (1883-1924) hat sich mit Werken wie „Die Verwandlung“, „Der Prozess“ und „Das Schloss“ sagenhaften Ruhm erschrieben – obwohl sein Werk als rätselhaft gilt. Wie brillant und hochaktuell er als Seismograf der Moderne ist, erschließt der renommierte Literaturkenner und Bestsellerautor Rüdiger Safranski in seinem neuen Buch.​

Was macht Franz Kafka für Sie zum Solitär?
Für Kafka war das Schreiben, die Literatur, das Allerheiligste. Er hatte solche Ansprüche an Vollkommenheit, dass das meiste, was er geschrieben hat, ihnen nicht genügte. Wir aber können froh sein, dass sein Freund Max Brod seine Schriften vor der von Kafka gewünschten Vernichtung bewahrt hat.

Kafka umgibt die Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften. Was begründet oder rechtfertigt dieses Image?
Kafka fühlte sich in der Welt nicht sehr gut zu Hause. Ein fremder, verfremdender Blick auf das eigene Leben und seine Umgebung ist die Folge. Dadurch bekommt alles ein rätselhaftes Aussehen. Dabei zeigt sich dann das Rätselhafte und Abgründige des Lebens. Kafka beschreibt die Welt, als käme er vom Mond.

In welche Welt wurde Kafka 1883 in der Prager Altstadt hineingeboren?
Eine deutsch-jüdische Welt inmitten einer deutschen Welt und umgeben von einer tschechischen Welt. Eine Welt, von Gegensätzen zerrissen. Man musste auf der Hut sein.

Kafka lebte in einer Zeit der Fortschrittsexplosion und Beschleunigung. Wie beeinflusste ihn das?
Die technischen Entwicklungen faszinierten ihn, die ersten Flugzeuge, Automobile, der Film, die Diktiergeräte usw. Er hatte auch mit ihren Schattenseiten zu tun: bei der Arbeiter-Unfallversicherung, wo er angestellt war.

„Er ist der Autor des religiösen Phantomschmerzes …“

Was macht Kafka zum Wegbereiter oder vielleicht sogar zu einer Ikone der Moderne?
Er ist der Autor des Selbstverlustes in der anonymisierten, bürokratisierten, verwalteten Welt. Und er ist der Autor des religiösen Phantomschmerzes in einer entzauberten Welt.

Schon in Ihrem Bestseller „Einzeln sein“ widmen Sie Kafka den Schlussakkord. Warum? Was verkörpert er Besonderes?
Das Paradox: Es kommt auf den Einzelnen an – zugleich wird der Einzelne abgewiesen und zählt nicht.

Über Kafka und sein Werk wurde und wird viel geforscht und noch mehr geschrieben. Was bewog Sie, nun einen eigenen Akzent mit Ihrem neuen Buch zu setzen?
In der Tat: Kafka ist der am meisten kommentierte und gedeutete Autor des 20. Jahrhunderts. Ich verfolge nur eine Spur, aber eine entscheidende: Was bedeutet das Schreiben für Kafka? Warum hat es diesen absoluten Wert für ihn mit der Folge, dass er alle anderen Anforderungen und Glücksangebote des Lebens letztlich zurückweist? Für Kafka gilt ein Absolutismus der Literatur – das ist seine Religion.

Wie würden Sie die Bedeutung des Schreibens für Kafka auf den Punkt bringen und was sind die klarsten Selbstauskünfte dafür?
Ich habe kein litterarisches Interessen, ich bin Litteratur und sonst gar nichts“ *– das schrieb er einmal seiner Verlobten Felice Bauer.
* Originalschreibweise Kafka

Welche Quellen haben Sie für Ihr Buchprojekt genutzt und was war am ergiebigsten?
Kafka ist quellenmäßig inzwischen sehr gut erschlossen, wenn auch in der „Kritischen Ausgabe“ nicht immer besonders übersichtlich präsentiert. Die Tagebücher, die Briefe, die Schriften aus dem Nachlass. Und nicht zu vergessen die hervorragenden biografischen Forschungen Rainer Stachs.

„Kafka schrieb … soweit ihn der erste Anfang trug.“

Von Kafka sind ziemlich viele Fragmente erhalten. Typisch für Kafka?
Kafka schrieb immer in einem Zug, soweit ihn der erste Anfang trug. Manchmal setzte er dann wieder neu ein, aber ein nachträgliches Überarbeiten, Herumkorrigieren gab es bei ihm nicht. Alles lebte von dem Schwung des jeweiligen Anfangens. Die Romane hören deswegen irgendwann auf, wenn der Fluss versiegt. Man hat aber den Eindruck: das geschieht an der richtigen Stelle, wenn es eben genug ist. Wie im richtigen Leben. Deshalb gibt es bei ihm so viel Unvollendetes.

Zu Kafkas bekanntesten Werken zählt sein „Brief an den Vater“. Was macht ihn bedeutsam und aufschlussreich?
Kafka selbst nannte ihn später einen „Advokatenbrief“. Ein virtuoses Stück Literatur. Alle Schuld wird auf den Vater gehäuft und dann klagt er sich selbst dieses Umstandes wegen an. Dem Vater selbst ist der Brief wohl nicht vor Augen gekommen. Er musste geschrieben, aber brauchte nicht unbedingt gelesen werden – außer von dem millionenstarken Lesepublikum seither. Heute sind die Väter in der Regel nicht mehr solche Patriarchen, dass sich solche Briefe an sie lohnen würden.

„Kafkas Schreiben ist prall von Leben.“

„Das Urteil“ und eine Reihe weiterer Geschichten von Kafka enden tödlich. Welche Haltung zu Leben und Tod erkennen Sie bei Kafka?
Im „Urteil“ stürzt sich der Protagonist in den Fluss, hört aber, offenbar mit Genugtuung, dass auch der Vater, der ihn verurteilt hat, zusammenbricht. Kafkas Schreiben ist prall von Leben, aber er selbst hatte das Gefühl, dem gewöhnlichen Leben abgestorben, also lebendig begraben zu sein, wenn er schrieb. So war das aber nur aus der gewöhnlichen Perspektive gesehen. Von innen her gesehen war das Schreiben für Kafka schlicht ein ekstatischer Zustand, auch ein Glück, jedenfalls das intensivste Leben, das sich denken lässt.

Das Judentum hat Kafka Zeit seines Lebens beschäftigt. Was war ihm dabei am Bedeutsamsten?
Das nicht assimilierte Ostjudentum, das er geradezu romantisierte. Von sich selbst sagte er, dass er nur noch einen letzten Zipfel des jüdischen Gebetsmantels erwischt habe. Das genügte aber, davon zu träumen, nach Palästina auszuwandern. Ganz am Ende noch mit der Geliebten Dora Diamant. Mit ihr konnte er sich vorstellen, vielleicht in Tel Aviv ein Restaurant aufzumachen; er könnte kellnern.

„Kafka war ein Frauentyp.“

Viel Kopfzerbrechen verursacht Kafkas Verhältnis zu den Frauen. Was macht es so kompliziert?
Kafka war ein Frauentyp. Er zog sie reihenweise an. Er selbst war ein Zaungast seines erotischen Begehrens. Deshalb konnte er siebenhundert Seiten Briefe an Felice Bauer schreiben und sich zweimal verloben und entloben. Herausgekommen dabei ist ein Stück Weltliteratur. Wir als Leser jedenfalls können uns bei Kafkas Handlungshemmung bedanken. Am schönsten ist immer noch das, was nicht voll realisiert wird.

Kafka verfolgte die Idee, „eine Frau durch das Schreiben zu binden“. Wie ist das zu verstehen und was erhoffte er sich?
Macht, Schreiblust und Einfälle ohne Ende. Gerade auch bei Frauen wollte Kafka unbedingt ihr Rätselhaftes, ihr nicht auflösbares Geheimnis bewahren. Im Leben gelingt das schlechter als im Schreiben.

Wie hat sich Ihr Bild von Kafka entwickelt und was sind Ihre wichtigsten Entdeckungen bei Ihrem Buchprojekt?
Kafka ist ein überaus höflicher, geheimnisvoller Mensch, man kann ihn sich, sofern er schrieb, durchaus als ziemlich glücklich vorstellen. Zugleich hat er auch das Liebenswerte eines Don Quichotte. Er kämpfte unerschrocken gegen die metaphysischen Windmühlen. Mein Bild von Kafka: Er schlich einmal durch einen Raum, wo jemand schlief und sagte: „Lassen Sie sich nicht stören, betrachten Sie mich als Teil Ihres Traums.“