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WER IGOR LEVIT auf seine herausragende musikalische Kunst reduziert, hat ihn bisher nicht kennengelernt. Musikmachen ist für ihn untrennbar mit seinem politischen Aktivismus verknüpft, seiner Stellungnahme. Florian Zinnecker, Autor und stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung DIE ZEIT, und Igor Levit haben sich mitten in der Pandemie einer spannenden Zusammenarbeit gestellt – und eine Erzählung „über das, was jetzt erst beginnt“ geschrieben. Dieses Interview führte Anselm Cybinski für den herausgebenden Hanser Verlag.
Igor Levit (IL), Florian Zinnecker (FL) – würdet Ihr Euch einmal kurz gegenseitig charakterisieren?
FZ: Igor ist extrem schnell im Kopf. Ich glaube, er hat ein paar mehr Tonspuren und eine viel größere Bandbreite im Gehirn als sehr viele andere Menschen. Das macht ihn mehrdimensionaler und interessanter. Schon aus der Halbdistanz habe ich das so wahrgenommen. Und ich wollte gerne wissen, ob es stimmt und woran es liegt.
War das Geheimnis zu lüften?
FZ: Ich habe jetzt eine Idee davon, warum es so ist, ja. Aber die kann man nur auf 300 Seiten aufschreiben – wenn überhaupt.
IL: Florian ist klar, er ist direkt. Ein Mensch, der einem in die Augen schaut. Irre schnell im Kopf, sehr frei und – damit kann ich mich sofort identifizieren – chronisch unzufrieden. Dazu wahnsinnig neugierig. Ich kann gar nicht zählen, wie oft Leute zu mir kamen und sagten: „Mach doch ein Buch, mach ein Buch.“ Alle haben sich so wahnsinnig große, hochtrabende Gedanken gemacht. Als dann Florian zu mir sagte: Du, ich habe einfach so viele Fragen, und eigentlich möchte ich das aufschreiben, war das ein Tonfall, der mir sehr entspricht: Leicht und klar und schnell. No bullshit.
„Was war das denn?“
Wie habt Ihr zusammengefunden?
FZ: Bei einem Interview fürs SZ-Magazin. Damals hat Igor keine einzige der Fragen, die ich gestellt habe, beantwortet. Die haben ihn nicht interessiert, er wollte lieber über andere Dinge reden – ein Glück für meinen Text. Und dann war ich in dem Konzert in Hamburg, das im Buch der Anfang der Reise ist: Elbphilharmonie, 18. September 2019, der Auftakt des Beethoven-Zyklus’ mit der Waldstein-Sonate. Ich bin völlig sprachlos rausgegangen und dachte: Was war das denn? Wie kann man das so spielen? Noch nie hatte ich dieses Stück derart dreidimensional und vielfarbig gehört. Zum ersten Mal war der Gedanke da: Eigentlich müsste man, eigentlich sollte man.
Auf welche Weise hat sich das Vorhaben konkretisiert?
FZ: Wir wussten gleich: Wir müssen eine neue Form erfinden. Es sollte kein klassisches Musikerportrait werden. Sondern eine Art nach vorne gewendete Biographie, eine Erzählung über das, was jetzt erst beginnt. Das wollten wir probieren, ohne genau zu wissen, wie der Text dann aussehen könnte.
War die Rollenverteilung klar?
FZ: Natürlich war ich derjenige, der mehr Fragen gestellt hat. Dennoch ist die Art des Erzählens zusammen entstanden, im engen Austausch, im Probieren und Verwerfen. Am Ende war der Text dann auf meinem Computer.
IL: Anfangs haben wir ein paar Telefonate geführt und uns einige Male getroffen, Florian hat ein bisschen was gefragt. Es war alles in Ordnung, es waren gute Gespräche. Und dann kam die Pandemie. Im Grunde waren wir ja alle nah an einem Zusammenbruch in dieser Ausnahmesituation. Wir haben zum Teil täglich gesprochen. Und jeder Tag war anders. Die allermeisten Gespräche fanden tatsächlich in den Wochen der Hauskonzerte statt. In dieser Zeit saß ich alleine zu Hause. Ich habe mich vor Florian, wie vor vielen anderen Menschen auch, komplett durchsichtig gemacht. Es gab keine Zwischenwände, ich hab einfach alles zugelassen. Auch deswegen habe ich auf dem Titel „Hauskonzert“ beharrt: Weil das nicht nur das Musikmachen zu Hause war, sondern der Akt der Türöffnung in mein inneres Wohnzimmer. Das, glaube ich, war der Schlüssel bei diesen Gesprächen: Ich vertraue darauf, dass mein Gegenüber behutsam mit dem umgeht, was ich ihm anvertraue.
„Ich habe mich … komplett durchsichtig gemacht.“
Welche Rolle spielt dabei die Lebensgeschichte Igors?
FZ: Ohne sie zu kennen, würde man viele Dinge nicht verstehen. So wie Du auf ein Konzert schaust, Igor, warum Du manche Stücke nicht spielst oder nicht mehr spielst. Wie Du arbeitest, wer Dich geprägt hat, wie Du Dich politisiert hast, warum Du twitterst: Nur aus der Gegenwart heraus lässt sich das nicht erklären. Igor hat sehr früh gesagt: Pass auf, ich erinnere mich an vieles gar nicht. Daher hat das Buch gar nicht den Anspruch, eine vollständige Biographie zu sein. Es sind eher Einzelaufnahmen.
IL: Wenn es eine übergreifende Erzählung in dem Buch gibt, ist es die eines Emanzipationsprozesses, den ich durchlaufe. Meine Biographie, die Kindheit, die Jugend: All das sind Schritte zur Emanzipation. So sehe ich dieses Jahr 2020 neben all dem Furchtbaren als das befreiendste Jahr meines bisherigen Lebens. Ich habe mich hier zu Hause einfach freigespielt, und das ist auch geblieben!
„… das befreiendste Jahr!“
Wie hat sich die Erzählperspektive eingestellt?
FZ: Die Absicht war, dass Igor über Igor und Florian über Igor spricht. Beides etwa zu gleichen Teilen.
IL: Natürlich habe ich, geprägt auch von dieser rohen Pandemie-Zeit, auf meine Kindheit zurückgeschaut oder auf meine Jugend, die für mich im Grunde sonst überhaupt keine Rolle spielt, die ich komplett von mir weggeschoben habe. Ich lese in dem Buch Dinge, die ich überhaupt nicht wusste. Meine Mutter sagt da Sachen, die mir überhaupt nicht klar waren. Ich habe keine Erinnerung an das Früher, ich beschäftige mich nicht mit früher. Und das von außen zu lesen in dieser Pandemie-Zeit, mit mir selbst umgehen zu lernen, zum ersten Mal wahrscheinlich im Leben, Zeit zu haben, nicht weil ich mich dafür entschieden habe, sondern weil es mir aufgezwungen wurde, das war schon eine krasse Erfahrung. Die erste Lektüre des Manuskripts war für mich eine echte Selbstkonfrontation.
Das Verhältnis zwischen Aktivität und Reflexion im Buch wäre ein ganz anderes gewesen, wenn keine Pandemie gekommen wäre. Das Buch hätte zu großen Teilen auf Reisen gespielt. Hat die Ausnahmesituation bei der Beantwortung Deiner Fragen geholfen, Florian?
FZ: Tatsächlich hätte es, trotz aller Härten, dafür keinen besseren Zeitraum geben können. Das war so viel besser und aufschlussreicher, als wenn ich Igor in die USA hinterhergereist wäre. Wenn man als Journalist jemanden beobachtet, ist diese Person immer voraus, man hechelt hinterher und versucht schreibend irgendwie heranzukommen. Das war nun anders, weil jetzt Tempowechsel gegeben waren und Stillstand, sogar Stagnation. Dass es diese Phase war, in die die Erzählzeit des Buches fällt, ist schon faszinierend, eine bessere Dramaturgie wäre überhaupt nicht denkbar gewesen. Übrigens staune ich auch immer wieder darüber, dass ein Verlag zu finden war, der das in dieser Offenheit mitträgt. Als wir uns zusammenfanden, war ja noch nicht viel mehr klar als: Wir erleben jetzt Zeit miteinander, sprechen miteinander und erzählen damit eine Geschichte. Wie das Ganze ausgeht? Keine Ahnung. Ein immenser Vertrauensbeweis, dass der Hanser-Verlag und namentlich Jo Lendle sagte: Klingt wahnsinnig interessant, ich trau Euch das zu, ich bin dabei, macht mal …!
„Ich selbst reiche aus!“
Zurück zum Hauskonzert: Warum ist genau das die Situation, in der sich Igors Emanzipation so gut manifestieren kann?
IL: Ich will das kurz machen, weil mir alles andere unangenehm ist: Ich habe diese Zeit gebraucht, um zu spüren, dass das alles wirklich aus mir selbst kommt. Das meine ich sehr, sehr ernst: Ich selbst reiche aus. Als Kind und Jugendlicher hatte ich da ganz andere Gedanken. Und insofern verbinde ich mit diesen Hauskonzerten wirklich ein inneres Ankommen.
FZ: Das Interessante daran ist ja auch: Ein Künstler hat hier den direkten Weg zu seinem Publikum genommen. Pathetisch gesprochen: In einem Moment, da aufgrund äußerer Umstände der Betrieb und alles, was damit zusammenhängt ausgeschaltet ist, findet die Kunst dennoch einen Weg. Es ist, trotz allem, Kommunikation möglich zwischen dem Künstler und seinen Zuhörern.
„Citizen. European. Pianist.“: So stellt sich Igor Levit auf seiner Website vor. Ist Euch im Laufe der Monate klarer geworden, an welcher Stelle Igors musikalisches und sein politisch-gesellschaftliches Anliegen zusammentreffen?
IL: Ich weiß nicht, ob ich dazu etwas sagen kann …
FZ: Im Buch gibt es diesen Satz: „Wer sagt, dass man sich von der Realität abwenden muss, um sich der Kunst zuzuwenden?“ Es ist alles immer gleichzeitig da, es ist nichts weniger wichtig. Weil gerade die Waldstein-Sonate auf dem Programmzettel steht, heißt das nicht, dass andere Themen hinten runterfallen. Das macht aus meiner Sicht einen Großteil von Igors Persönlichkeit aus, darin liegt seine erstaunliche Vielspurigkeit und Mehrdimensionalität.