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OB LEBEN oder Literatur – J. D. Barker schreckt vor nichts zurück: So hat er maßgeblich zur Aufklärung eines von der Polizei längst aufgegebenen Mordfalls beigetragen. Und nahezu 20 Jahre als „Buchdoktor“ unzulängliche Manuskripte in druckreife Form gebracht. Selbst hat er als Autor in seiner US-Heimat auch längst Karriere gemacht: durch sein preisgekröntes Debüt „Forsaken“, durch die Fortschreibung von„Dracula“ nach Notizen Bram Stokers und nun durch seinen Thriller „The Fourth Monkey“, der mit Thomas Harris‘ „Schweigen der Lämmer“ verglichen wird.
Ihr erster und mehrfach ausgezeichneter Roman „Forsaken“ war auch für den „Bram Stoker Award“ nominiert. Diesen Preis haben Sie zwar nicht bekommen, dafür aber viel Wertschätzung. Wie war das genau und wie hat sich die Sache inzwischen entwickelt?
Es gibt ein in den USA sehr bekanntes Sprichwort von Alexander Graham Bell: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.“ Ich glaube, das beschreibt am besten, was passiert ist. „Forsaken“ war als bester Debütroman 2014 nominiert und ging gegen starke Konkurrenten ins Rennen. Es war schon eine Ehre für mich, nominiert zu sein. Ich habe nicht gewonnen. Aber am nächsten Morgen hat Dacre Stoker, der Enkel des Neffen von Bram Stoker, meine Frau und mich zum Frühstück eingeladen, um ein Projekt zu besprechen. Er erzählte uns, dass die ganze Familie Stoker mein Buch gelesen habe und sehr mochte. Und er fragte mich, ob ich Interesse hätte, als Co-Autor an einer Fortsetzung von „Dracula“ mitzuwirken – auf der Grundlage von Bram Stokers bisher unveröffentlichten Notizen und Tagebucheinträgen.
Etwas Besseres konnte Ihnen kaum passieren, oder?
Natürlich habe ich ja gesagt. Das Buch ist bereits geschrieben und wird Ende 2018 veröffentlicht werden. Es wird auch eine Verfilmung geben. Paramount hat die Filmrechte gekauft. Als Regisseur wurde Andy Muschetti verpflichtet, der durch Filme wie „Mama“ oder „Es“ nach Stephen King bekannt wurde. Ich kann es kaum erwarten, den Roman mit der Welt zu teilen. Es ist eine faszinierende Geschichte, die zu großen Teilen in Bram Stokers eigenen Worten erzählt ist. Der Titel des Romans ist „Dracul“.
Bevor Sie Vollzeitautor wurden, waren Sie „Buchdoktor“. Was war Ihre Aufgabe? Wie hat es Ihnen zugesagt?
Jedes Jahr nehmen sich Millionen von Menschen vor, ein Buch zu schreiben. Davon werden nur eine Handvoll Projekte fertiggestellt und noch weniger tatsächlich veröffentlicht. Es ist viel schwieriger, als die meisten sich das vorstellen. Manchmal erhalten Agenten oder Verlage einen Roman, der zwar gut ist, aber eben nicht gut genug, um veröffentlicht zu werden. Wenn der Autor dann die Probleme nicht selbst ausbügeln kann, holt er sich Hilfe bei einem Buchdoktor. Ein Buchdoktor erkennt die Schwachstellen, überlegt sich, wie sie verbessert werden können, und schreibt die Geschichte bei Bedarf um. Manchmal kommt der Buchdoktor auch schon früher ins Spiel, bevor der Roman an Agenten oder Verlage geschickt wird. Die Aufgabe ist aber immer die gleiche: Man nimmt einen Roman, der nicht ganz funktioniert, und repariert ihn. Ich habe das fast 20 Jahre lang gemacht – und diese Erfahrung ist unbezahlbar. Da ich direkt mit Lektoren und Verlegern zusammengearbeitet habe, weiß ich, was in einem Roman funktioniert und was nicht. Ich weiß, was sie von den Romanen erwarten, die sie veröffentlichen, und was sich gut verkauft, was die Menschen lesen möchten. Das hat meine eigene Arbeit stark beeinflusst.
Als Adrenalin-Junkie haben Sie die halsbrecherischsten Erfahrungen gemacht. Der Kick dabei?
Ich bin 1991 bei einem Motorradunfall fast ums Leben gekommen. Seither versuche ich, jeden Tag so zu leben, als wäre es mein letzter. Ich habe eine Leidenschaft fürs Fallschirmspringen oder Motorradfahren mit Tempo 240. Mit dem Adrenalinrausch ist es so: Wenn man einmal auf den Geschmack gekommen ist, gibt es kaum noch ein Zurück. Jede Erfahrung muss extremer sein als die letzte.
Was ist Ihr Antrieb?
Meine größte Angst war, irgendwann auf meinem Sterbebett zu liegen und mir vorzuwerfen, dass ich dieses oder jenes nie getan habe. Ich machte es mir zur Aufgabe, alles wenigstens einmal auszuprobieren, egal, wie groß die Gefahr ist … Man lernt dabei sehr viel über sich selbst.
„Egal, wie groß die Gefahr ist …“
Findet Ihre Familie das auch?
Meine Frau und ich sind seit kurzem Eltern, unsere Tochter Ember kam am 15. September 2017 auf die Welt. Das hat für mich einiges verändert. Ich bin ruhiger geworden. Wenn dein Kind dich zum ersten Mal anlächelt, ist nichts mehr so wie vorher.
Sie sollen sogar an der Aufklärung eines Mordfalls beteiligt gewesen sein. Wie kam es dazu?
Beim Treffen zum 20-jährigen Jubiläum meines Highschool-Abschlusses erfuhr ich, dass eine Schulfreundin von mir zwei Jahre zuvor in Tampa, Florida, brutal ermordet worden war. Der Fall war im Sand verlaufen, die Polizei hatte keine Anhaltspunkte. Ich rief die Familie der ermordeten Frau an und versprach, ihnen zu helfen. Wir fanden schließlich heraus, wer sie umgebracht hatte, wo und warum. Aber als wir diese Informationen an den zuständigen Polizisten weitergaben, reagierte er nicht darauf. Wir nannten ihm die Adresse des Hauses, in dem sie gestorben war, und er durchsuchte die falschen Zimmer. Wir brachten ihm das Auto, in dem ihre Leiche transportiert wurde, und er ignorierte es, bis das Auto am nächsten Tag einfach verschwand. Erst dachten wir, dass er ein wirklich schlechter Polizist sei, aber es war noch viel schlimmer. Schließlich kam heraus, dass er über 20 Jahre lang Steuererklärungen für die Opfer abgegeben hat, denen er eigentlich hätte helfen sollen. Er hat die Rückzahlungen kassiert und das Geld dann zusammen mit seiner Frau über das Gefängnissystem gewaschen. Er hat den Mord an meiner Freundin mit voller Absicht nicht aufgeklärt, da er davon profitiert hat. Er wurde später angeklagt, aber die Ermittlungen laufen noch.
Haben Sie als Amateur-Ermittler Blut geleckt?
Seit ich mit diesem Fall zu tun hatte, habe ich im ganzen Land mit der Polizei zusammengearbeitet. Manchmal erkennt jemand, der von außen einen Blick auf eine sonst stockende Entwicklung wirft, welche Fragen gestellt werden müssen, um den Fall aufzuklären. Außerdem bin ich nicht an die gleichen Regeln gebunden wie Polizisten. Sie mögen manches vermuten, können aber aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten diesen Vermutungen nicht nachgehen – ich kann das schon. Echte Verbrechen sind meistens viel einfacher gestrickt als der Plot in einem guten Thriller, was mir sicher auch hilft. Die meisten Verbrecher sind nun mal einfach nicht besonders schlau.
Haben sich damals Polizeibekanntschaften ergeben, die Ihnen für Ihre Thrillerrecherchen nützlich sind?
Ich habe im Laufe der Jahre viele Polizisten kennengelernt und auch einige in meine Geschichten eingebaut. In „The Fourth Monkey“ haben Detective Sam Porter und sein Team bei der Mordkommission eine Art von Humor, der auf der Realität beruht. Wenn man Zeit mit echten Ermittlern der Mordkommission verbringt, stellt man schnell fest, dass sie Humor – schwarzen Humor – nutzen, um die schrecklichen Dinge zu verarbeiten, die sie tagtäglich zu sehen bekommen. Die Ermittler, die die Verbrechen oder Opfer emotional zu nah an sich heranlassen, halten meist nicht lang durch. Die, die an einem grauenhaften Tatort einen Witz machen können, schaffen es in dem Job viel eher bis zur Rente.
Als Schauplatz von „The Fourth Monkey“ haben Sie Chicago gewählt, wo sie aufgewachsen sind. Aber Nostalgie ist bestimmt nicht der einzige Grund für diese Kulisse, oder?
Ich wollte schon immer einen Roman über einen Serienkiller schreiben, und ich wollte auch einen meiner Romane in Chicago spielen lassen. Die Kombination schien mir perfekt. Die Schauplätze von „The Fourth Monkey“ existieren wirklich, jede Straße und jedes Gebäude. Während des Schreibens bin ich oft nach Chicago gefahren und habe die Orte besucht. Chicago ist eine sehr geschichtsträchtige Stadt, besonders was amerikanische Gangs angeht. Die Tunnel, die ich im Roman beschreibe, existieren ebenfalls. Sie wurden früher von Schwarzbrennern genutzt, um während der Prohibition Alkohol in die Stadt zu schmuggeln. Heute beherbergen sie Elektro- und Telefonkabel.
Was erwartet Leser Ihres Thrillers „The Fourth Monkey“?
Der „Four Monkey Killer“ würde sagen: „Du und ich, wir werden zusammen eine Menge Spaß haben.“
Und was sagen Sie?
Im Leben ist nichts einfach schwarz oder weiß. Nach dem Lesen werden Sie vielleicht dem Mörder gegenüber mehr Gefühle aufbringen als für seine Opfer.
Sie schreiben Ihrem „Four Monkey Killer“ Anson Bishop einen exquisiten Geschmack zu. Davon zeugen zumindest seine Taschenuhr oder auch seine Maßschuhe vom Londoner Traditionsunternehmen John Lobb, bei dem auch Prinz Charles, Camilla und Co. einkaufen. Sind das Ihre eigenen Faibles?
Ich trage meistens Jeans und T-Shirt – seine Garderobe ist also nicht von meinem eigenen Stil inspiriert. Ich versuche, meine Figuren immer so gut wie möglich kennenzulernen, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Ob es dann im Buch zur Sprache kommt oder nicht, ist nicht so wichtig. Aber ich kenne ihre ganze Geschichte, ihre Vorlieben und Abneigungen. Ich weiß, wo sie zur Schule gingen, was sie gern lesen und welche Filme sie ansehen. Wenn man sich eine Figur so bis ins kleinste Detail überlegt, lernt man auch ihre Sprechweise kennen und schafft so einen einzigartigen Dialog. Die Kleidungsvorlieben haben ihren Ursprung in der Vergangenheit, in der Art und Weise, wie die Figur aufwuchs. Als Kind hatte der Mörder all diese Dinge nicht, also sehnt er sich als Erwachsener nach ihnen.
Stilbewusstsein kommt in gewisser Weise auch beim Konzept des Serienkillers zum Ausdruck, etwa durch seine kleinen Päckchen, die er verschickt. Wie kamen Sie auf die Idee, Ästhetisches und Makabres so zusammenzubringen?
Ich arbeite beim Schreiben gern mit Extremen. Bevor ich die Leser erschrecke, bringe ich sie zum Lachen. Hier ist es eigentlich ähnlich: Man nimmt etwas Fürchterliches und verpackt es in etwas Schönem. Die Bedeutung des weißen Kartons wird in einem späteren Roman erklärt werden. Es gibt einen Grund, warum er sie verwendet. Es gibt für alles einen Grund.
Können Sie selbst noch mit unschuldiger Freude Geschenke auspacken, seit Sie das geschrieben haben?
Wenn ich jetzt Geschenke bekomme, sind sie immer in einem weißen Karton mit schwarzem Band verpackt. Ich habe das Gefühl, dass es noch ein wenig dauern wird, bis sich das wieder legt. Zum Glück beinhalten diese Geschenke nicht das, was der „Four Monkey Killer“ bevorzugt verschickt.
Der „Four Monkey Killer“ Anson Bishop hinterlässt ein Notizbuch, das sich wie eine sarkastische Autobiografie liest. Wie haben Sie die charakteristische Tonlage gefunden?
Ich musste meinen Laptop ziemlich oft von mir wegschieben, weil das, was ich gerade geschrieben hatte, mich selbst so abstieß. Aber gerade dann, wenn es schwierig war für mich, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Inwiefern?
Beim Schreiben habe ich oft das Gefühl, dass sich in meinem Kopf ein Film abspielt, den ich einfach nur nacherzählen muss. Dieser Film war gerade bei den Tagebucheinträgen verstörend und angsteinflößend, aber auch reizvoll. Es drängt sich die Frage auf, ob jeder unter entsprechenden Umständen zum Serienkiller werden könnte oder ob manche Menschen einfach böse sind.
Der wichtigste Gegenspieler des Killers ist Detective Samuel Porter von der Mordkommission in Chicago. Was für ein Charakter ist er in Ihren Augen?
Sam hat in seinem Leben einiges durchgemacht, sowohl privat als auch beruflich. Ich würde ihn gern als herzensgut beschreiben, und ich glaube, er würde sich auch selbst gern so sehen. Aber manchmal dringen schlimme Erlebnisse tief ein und hinterlassen bei einem eigentlich guten Menschen Spuren. Wenn man Sam am Anfang seiner Karriere bei der Polizei getroffen hätte, hätte man ihn als wagemutigen, motivierten Mann kennengelernt, der alles Schlechte in der Welt beseitigen will und glaubt, dass die Menschen entweder gut oder böse sind. Über 20 Jahre später allerdings hat er erkannt, dass es nicht so einfach ist und dass jeder beide Seiten in sich trägt. Sam möchte das Richtige tun, aber die Umstände halten ihn oft davon ab.
Was inspiriert Sie?
Die besten Geschichten tauchen auf, wenn man es am wenigsten erwartet. Eines Tages stand ich in der Schlange im Supermarkt, vor mir eine sehr übergewichtige Frau, hinter mir ein kleiner Junge und sein Vater. Der Junge flüsterte seinem Vater etwas über die beleibte Frau zu, das ich hier lieber nicht wiederholen möchte. Daraufhin ermahnte ihn der Vater: „Sag nichts Böses, mein Sohn.“ Sobald ich das hörte, hatte ich die Hintergrundgeschichte meines Mörders im Kopf. Wer sagt so was? Was spielt sich bei solchen Leuten ab?