JAN-PHILIPP SENDKERS erster Besuch in Burma (seit 1998 Myanmar) geht auf das Jahr 1995 zurück. Damals hat der frühere Asien-Korrespondent Land und Leute in sein Herz geschlossen. Ihre Freundlichkeit, die respektvolle Gelassenheit und reiche Kultur – das alles lässt Jan-Philipp Sendker in magischen Romanen lebendig werden. Nach der packenden China-Reihe vollendete er jetzt mit „Das Gedächtnis des Herzens“ die Burma-Serie. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren, dessen bewegende Romane auch in Asien Bestseller sind. Die Verfilmung von „Das Herzenhören“ ist in Vorbereitung.

Heute haben wir das Vergnügen, mit Ihnen über den dritten und finalen Band der „Burma-Reihe“ zu sprechen: „Das Gedächtnis des Herzens“. Wie fühlt es sich an, den letzten Satz geschrieben zu haben?
Ich habe an dem Buch über zwei Jahre geschrieben und verspürte eine große Erleichterung, als es fertig war.

Die Herzens-Trilogie umfasst eine große Liebesgeschichte. Im Mittelpunkt: Julia. Gibt es für diese Figur eine lebende Person als Vorlage?
Ich vermeide das Wort Trilogie. Die drei Bücher stehen natürlich in Bezug zueinander, aber Sie können sie völlig unabhängig voneinander lesen. Und nein, Julia ist ein Produkt meiner Fantasie, es gibt keine lebende Person als Vorlage.

„Suchende sind die interessantesten Menschen!“

Themen wie ihre Vater-Tochter-Beziehung, die Suche nach dem Sinn ihres Lebens bis hin zum Burn-out … Kann man sagen, Julia kämpft sich durch ihr Leben?
Richtig, sie ist eine Suchende. Das sind nicht immer einfache Menschen, aber die interessantesten … Die Gründe liegen natürlich in ihrer Herkunft, aber es sind auch die von Ihnen erwähnten Themen, die vermutlich viele Leserinnen und Leser irgendwann in ihrem Leben beschäftigen.

Ein Psychoanalytiker würde Julia dringend anraten, professionelle Hilfe zu suchen. Was hält sie ab?
Das hat sie in „Herzenstimmen“, aber da nicht die Hilfe gefunden, die sie gebraucht hätte.

Thar Thar, Julias burmesischer Partner und Mann, trägt selbst schwer an seiner Kindheit und Jugend. Die Liebe zu Julia fordert viel von ihm. Klaglos scheint er sich ihren Bedürfnissen und Wünschen unterzuordnen?
Da muss ich Ihnen widersprechen, er widersetzt sich in einem entscheidenden Moment Julias Bitten, das bereitet ihm auch lange ein schlechtes Gewissen. Und ja, er ist Zerreißproben ausgesetzt und wie er damit umgeht, macht ihn ja auch zu einer interessanten Figur, hoffe ich.

Zu Beginn lernen wir Ko Bo Bo kennen. Der 12-Jährige ist wissbegierig, neugierig. Wie wirkt sich auf ihn die Ost-West-Konstellation seiner Familie aus?
Er ist aus vielen Gründen ein Außenseiter. Das Aufeinandertreffen der amerikanischen, wenn Sie so wollen, westlichen Kultur und der burmesischen und was das für die einzelnen Charaktere bedeutet, was wir voneinander lernen können, ist ein wichtiges Thema dieses Romans.

Ko Bo Bo hat die Gabe, „in Augen zu lesen“. Ist das sein Versuch, sich den verschlossenen Themen in seiner Umgebung zu nähern?
Vielleicht, so habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Für mich besitzt er diese Gabe einfach, eine Anspielung auf seinen Großvater, der die Gabe hatte, Herzen hören zu können …

Die letztlich bedeutsamere Gabe dieses 12-Jährigen liegt aber in seiner Fähigkeit, vollkommen zu vergeben. Liegt das in seinem Alter begründet oder in seinem Herzenswunsch, der Mutter näher zu kommen?
Vermutlich in beidem.

In allen drei Bänden haben Briefe oder Brieffragmente eine wichtige Bedeutung. Würden Sie zustimmen, dass wir hin und wieder leichter im Schriftlichen Themen ansprechen oder erklären können als von Angesicht zu Angesicht?
Ja, aber das ist nicht der Grund. Für mich ist es eine Möglichkeit, eine neue Erzählperspektive in den Roman einzubauen.

„Bücher zur Erziehung des Herzens.“

Ko Bo Bo wie auch sein Onkel lesen gerne und viel. Bücher sind für beide ein Kompass. Wofür?
Werte. Bücher tragen für sie zu einer Art „Erziehung des Herzens“ bei.

In Kalaw, dem Heimatort von Ko Bo Bo und U Ba, wird viel gebaut, Touristen erobern die Region, Smartphones ebenso wie das Internet halten Einzug. Was bewirken diese Veränderungen für die einheimische Kultur?
Das Leben wird schneller und hektischer. Die Menschen lesen weniger, reden weniger miteinander und verbringen mehr Zeit an und mit ihren Telefonen. Nicht anders als bei uns. Doch glaube ich, dass sich die Seele eines Volkes nicht so schnell verändert, trotz Internet und Smartphone.

Die Burma-Reihe ist eine vielschichtige, zutiefst menschliche Liebesgeschichte. Und doch spielen politische Rahmenbedingungen eine große Rolle. Wie schaffen Sie es, hier die Balance zu finden?
Wie ich das schaffe, weiß ich nicht. Es freut mich aber, dass es aus Ihrer Sicht gelungen ist. Der Aspekt ist mir wichtig, weil ich in den drei Bänden ja auch beschreibe, wie sich das Land Burma in der Zeit, immerhin fast 80 Jahre, verändert hat.

„Religion schützt uns nicht vor den Dämonen in uns.“

Die tatsächlichen Ereignisse um die Rohingya entzaubern den Sehnsuchtsort Burma. Wie geht es Ihnen dabei?
Ich finde diese Verbrechen ganz schrecklich. Die Berichte darüber haben mich sehr berührt und ich habe in kleinen Dingen versucht zu helfen. Mein Verhältnis zu Burma und seinen Menschen hat es nicht verändert. Militär und Milizen begehen dort seit Jahrzehnten furchtbare Verbrechen an Zivilisten, darüber habe ich ja in „Herzenstimmen“ auch geschrieben. Ich gehörte nie zu jenen, die glauben, dass Buddhisten per se bessere Menschen sind. Auch sie können schreckliche Verbrechen begehen, so wie es leider auch Christen, Hindus oder Moslems getan haben und tun. Offenbar schützt uns Religion nicht zwangsläufig vor den Dämonen in uns.

Setzten Sie persönlich aktuell noch große Erwartungen in die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die als Regierungschefin agiert und von außen betrachtet doch so zurückhaltend auf die Frage der Unterdrückung von Minderheiten in ihrem Land reagiert?
Nein. Ich glaube allerdings, dass der Westen viel zu hohe Erwartungen an sie hatte, die konnte sie nicht erfüllen. Trotzdem bin ich von ihrem Verhalten in der Rohingya-Krise, aber auch bei anderen Fragen, tief enttäuscht. Sie erscheint mir mehr und mehr als Teil des Problems und nicht mehr Teil der Lösung.