Zum Start in ein erfülltes Leben kann nicht nur eine Bruchlandung beim Kite-Surfen werden wie bei Lukas Klaschinski, sondern vor allem die Lektüre seines aktuellen Buches. Darin bietet der erfahrene Psychologe und begnadete Geschichtenerzähler alle Stärken auf, für die er bekannt wurde, ob live auf der Bühne oder in digitalen Erfolgsformaten wie seinen Podcasts „Beste Freundinnen“ und „180 Grad“ oder Projekten mit Stefanie Stahl. Jede Menge Entdeckungen, wie viel wir gewinnen, wenn wir gefühlsbereit leben!

Was macht für Sie ein erfülltes Leben aus?
Diese Frage stelle ich mir natürlich als Psychologe, und sie ist auch zentraler Ausgangspunkt meines Buchs. Ich habe dazu viele Studien gelesen und eine, die für mich die schlüssigste Antwort gibt, ist die Harvard Grant Study. Das ist die größte Langzeitstudie zum Thema Glück und Langlebigkeit, bei der die Forschenden 75 Jahre lang Menschen bis zum letzten Wimpernschlag begleitet haben. Sie untersucht die Frage: Was macht lange physisch und psychisch gesund? Das Ergebnis: Es sind die Beziehungen, die wir führen, und es ist der Sinn, den wir im Leben finden. Es zählt nicht, wie viel Geld wir am Ende verdient oder in welchem Haus wir gewohnt haben. Vielmehr geht es darum, wie tief wir in Verbindung waren mit den Menschen, die wir auf unserem Lebensweg getroffen haben. Und wenn ich für mich sagen kann, ich war ein mitfühlender Mensch, der in Verbindung mit anderen stand; wenn ich mit meinen Sinnen – denn meistens haben wir mehr als einen Sinn – und mit meinen Gefühlen das Leben wahrnehme und lebe, dann kann ich sagen, dass ich ein erfülltes Leben geführt habe. Leider führen viele, und das habe auch ich lange getan, ihr Leben auf emotionalem Abstand.

„Fühle alles, was in dir auftaucht.“

Ihren Buchtitel „Fühl dich ganz“ kann man als Weckruf, aber auch als Versprechen verstehen. Wie meinen Sie es?
Einerseits ist es ein Appell, nicht mehr von diesen unangenehmen Gefühlen wegzulaufen, die wir alle haben. Wir alle begegnen in unserem Leben Angst, Trauer, Scham und Wut. Diese sperren wir gerne weg, weil sie sich so unheimlich unangenehm anfühlen können. Manchmal wird man von ihnen überschwemmt und fühlt sich, als müsste man in ihnen ertrinken. Wer es aber schafft, diese Emotionen an sich ran zu lassen und sie auszuhalten, merkt schnell, dass wir mit dem Fühlen einen ganzheitlicheren Eindruck vom Leben bekommen. Und das ist die andere Bedeutung: Wir fühlen uns kompletter. Das macht also die Zweideutigkeit von „Fühl dich ganz“ aus: Fühle alles, was in dir auftaucht. Und fühle dich damit komplett. Deshalb liebe ich diesen Titel. Er verweist auf den Prozess und auf das Ergebnis aus diesem Prozess.

Was macht es Ihnen so wichtig, den Fokus auf Gefühle zu lenken? Was fehlt vielen?
Unsere Gefühle helfen uns, durch das Leben zu navigieren und unsere Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie sind in dem Sinne wie kleine Nachrichten, die uns sagen, wenn uns etwas fehlt oder wir von einer guten Sache mehr brauchen. Die Traurigkeit zum Beispiel erzählt uns davon, dass wir die Verbindung zu einem Menschen verloren haben, der uns wichtig ist. Gefühle sind also so etwas wie unsere innere Sprache. Die Forschung zeigt: Alles in uns wird in Gefühle übersetzt. Was wir sehen, hören, schmecken, tasten und riechen erhält eine emotionale Farbe. Nun ist es von Natur aus so, dass wir alle keine Lust haben, unangenehme Gefühle zu spüren. Das Problem dabei ist nur, dass wir ihnen den Fahrersitz überlassen, wenn wir versuchen, sie zu ignorieren. Sie lenken uns dann häufig unbewusst auf eine Spur, auf die wir vielleicht – wenn wir kurz innehalten – gar nicht hinwollen. Vielleicht ist es eine Weltreise, die wir nicht antreten, ein Jobangebot, das wir nicht annehmen, ein interessanter Mensch, den wir vorbeigehen lassen, oder eine Partnerschaft, die längst ein Ende hätte finden sollen. Angst oder Scham können uns von ganz wertvollen Dingen abhalten. Wenn wir es aber schaffen, einen Umgang mit diesen Gefühlen zu finden, dann machen wir uns eigentlich frei. Weil zwischen uns und der Sache, die wir gerne möchten, häufig nur ein Gefühl steht.

„Das Lenkrad wieder in beide Hände nehmen.“

Gefühlsmenschen haben nicht unbedingt das beste Image. Was halten Sie von Bezeichnungen wie Drama-Queen, Angsthase, Hysteriker?
Am Ende ist das ein Buch für alle. Ich möchte ein neues Verständnis und einen neuen Umgang mit Gefühlen entwickeln und für Menschen mit Gefühlen bereitstellen – und das sind wir nun mal alle. Ich beziehe mich dabei stark auf eine vielfach erprobte Therapietechnik, die von Spitzensportler:innen genauso angewandt wird wie von Kliniken. In dem Moment, wo ich dieses psychologische Tool zugänglich mache – ich nenne es den Werkzeugkoffer des Lebens – kann die Drama-Queen besser mit ihren Gefühlen umgehen, genauso wie der Angsthase, der Hysteriker und der Choleriker. Denn es geht in diesem Buch nicht darum, dass wir uns auf einmal von allen Gefühlen davontragen lassen. Im Gegenteil kommt es darauf an, das Lenkrad wieder in beide Hände zu nehmen, indem wir unsere Gefühle spüren und uns gleichzeitig bewusst entscheiden, wie wir uns verhalten. Damit wir eben keinen Wutausbruch kriegen, eben nicht aus Angst etwas nicht tun, eben nicht aus allem ein Drama machen. Dieser Werkzeugkoffer des Lebens hilft dabei, die tollen Zeiten intensiv zu erleben, aber auch gestärkt durch die schwierigen zu kommen. Denn Tiefen werden wir alle begegnen.

Sie sind überzeugt, dass es gar keine schlechten Gefühle gibt. Welche Erfahrung steht dahinter?
Alle Gefühle sind entstanden, weil sie einen evolutionären Zweck erfüllen. Wir Menschen sind Fühlwesen. Das heißt aber nicht, dass wir jedes Gefühl für bare Münze nehmen sollten. Dieselbe Angst, die uns vor zehntausend Jahren vielleicht vor Fressfeinden gewarnt hat, die haben wir teilweise immer noch, wenn wir in einem Meeting eine wichtige Präsentation versemmeln könnten. Dabei ist das Allerschlimmste, was daraus folgen könnte, ein mieser Tag oder ein gescheitertes Projekt. Aber diese Angst teilt uns doch immer etwas mit und will uns warnen. Unsere Scham sagt uns: Pass auf, dass du dich so verhältst, dass du in Kontakt mit deiner Gruppe bleibst. Und die Wut markiert eine Überschreitung unserer eigenen Grenzen. Jedes Mal, wenn wir also die Botschaft von unangenehmen Gefühlen verpassen, entgeht uns eigentlich das Bedürfnis, das dahintersteht. Und wenn wir das Bedürfnis verpassen, wie sollten wir es dann überhaupt erfüllen können? Deswegen verzichte ich auf den Begriff der „schlechten Gefühle“. Wir brauchen sie alle.

„Gefühlsbereitschaft: Aufmerksamkeit und Akzeptanz.“

Große Bedeutung messen Sie der Gefühlsbereitschaft bei. Aus welchen Gründen?
In dem Moment, da ich meine Gefühle nicht wahrnehme, bin ich immer gesteuert von ihnen. Wenn ich eine Emotion nicht aushalte, muss ich die Sachen andauernd vermeiden, die dieses Gefühl auslösen, und auf der anderen Seite Dinge unternehmen, die schnell ein angenehmes Gefühl erzeugen. Ich muss mich zum Beispiel bis aufs Blut streiten, weil ich mit dem Gefühl nicht sein kann, das in diesem Augenblick in mir aufkommt. Wenn ich es aber schaffe, einerseits meine Gefühle wahrzunehmen und zweitens diese zu akzeptieren, kann ich mich frei entscheiden. Genau das sind die zwei Komponenten der Gefühlsbereitschaft: Aufmerksamkeit und Akzeptanz. Sie erlauben mir, Stellung zu beziehen zu meinem Gefühl und zu fragen: Wie möchte ich mich denn verhalten? Der österreichische Neurologe Viktor Frankl schreibt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegt unsere Freiheit.“ Und der Schlüssel zu diesem Raum ist unsere Gefühlsbereitschaft.

In der Einleitung verkünden Sie, dass es „an manchen Stellen für mich peinlich, persönlich und unangenehm wird.“ Warum haben Sie sich das angetan?
Ich glaube, wir alle geraten in Situationen in unserem Leben, die wir nicht für andere ausrollen wollen. Wir alle machen Fehltritte und haben dunkle Räume, die wir lieber keinem zeigen. Für mich ist diese Verletzlichkeit aber extrem wichtig. So krass persönlich zu werden, das ist vermutlich ungewöhnlich für einen Psychologen, selbst in der neuen Generation von Psycholog:innen. Ich denke aber: In dem Moment, in dem ich meiner Scham begegne, meiner Angst in ihrer wahrhaften Form, meiner Traurigkeit, und dabei sehr intime Momente teile, mache ich diese erfahrbar für die Leserinnen und Leser. Das Buch soll eine Brücke bauen zu den Empfindungen und Gefühlen in ihnen, die uns verbinden. Ich hoffe, ich habe ein Buch geschaffen, das man nicht nur verstehen kann, sondern vor allem auch fühlen. Und das ist es mir absolut wert, auch meine peinlichen Momente auszuplaudern, die ich eigentlich am liebsten für mich behalten würde.

„Das größte Abenteuer: Die Reise zu sich selbst.“

Ihr Buch verstehen Sie als Einladung zu einer Reise. Was erwartet uns?
Für mich war es wichtig, eine Reise zu unseren Gefühlen zu unternehmen, und dabei eben nicht nur bei den angenehmen Gefühlen wie Freude, Liebe, Glück und Heiterkeit Station zu machen. Wir haben immer Angst vor dem, was wir nicht kennen. In dem Moment, in dem wir das Facettenreichtum eines jeden Gefühls kennenlernen, verlieren wir unsere Scheu und das ist der erste Schritt hin zum Gefühl. Wir lernen einen Umgang mit unseren Gefühlen und holen dabei das nach, was uns in unserer Kindheit meistens nicht an die Hand gegeben wurde. Mir war es dabei wichtig, dass dieser Erkenntnisweg nicht nur bei einem theoretischen Konstrukt bleibt, das eine tolle Technik an die Hand gibt. Genauso von Bedeutung war für mich, dass es während des Lesens unterhält und dass die Tools erfahrbar werden im Prozess. Ich glaube, wer sich auf die Reise in „Fühl dich ganz“ begibt, wird nicht nur meine emotionale Inneneinrichtung, sondern vor allem neue Räume in sich selbst entdecken. Was ist schließlich das größte Abenteuer dieser Welt? Ich finde, das ist die Reise zu sich selbst.

Beim Schreiben schlüpfen Sie in zwei Rollen: als Psychologe und als Mensch wie du und ich mitten im Leben. Was ist das Ideale an der Verbindung dieser Perspektiven?
Einerseits zeigt diese Perspektive, dass alle Psychologinnen und Psychologen – und ich kenne berufsbedingt natürlich viele – auch nur Menschen sind und genau wie alle anderen ihre eigenen Themen haben. Wir alle erleben Krisen, strugglen in unserem Leben, erleben auch die angenehmen Gefühle – warum sollte das bei einem Psychologen anders sein? Vor allem möchte ich in meiner Arbeit den Menschen immer auf Augenhöhe begegnen und nicht von oben herab schreiben als der Psychologe, der alles weiß. Ich bin jemand, der die Dinge immer zuerst selbst ausprobiert und selbst erlebt, bevor er sagt: Ja, das funktioniert. Und darum spreche ich immer aus der Perspektive eines Psychologen und aus der eines Menschen. Wir können nur anderen Menschen eine Laterne halten, wenn wir selbst Licht in unsere dunkelsten Räume gebracht haben.

„Eine gute Geschichte hat immer Dynamik.“

Sie setzen auf eine Stärke, für die Sie schon als Podcaster bekannt wurden: Geschichten erzählen. Was macht eine gute Geschichte aus?
Eine gute Geschichte hat immer eine Dynamik, in die man sich völlig reinbegeben kann. Eine gute Geschichte erzeugt auch eine Art Spiegel. Warum lesen wir eigentlich Bücher, warum gucken wir Filme, warum sind wir interessiert an Medien? Erzählungen erlauben uns, eine Person dabei zu beobachten, wie sie eine Erfahrung macht. Und daraus können wir Schlüsse für uns ziehen. Wenn eine Geschichte es schafft, eine Emotion zu erzeugen und an einer Erfahrung teilhaben zu lassen, die in irgendeiner Weise einen Wert für das Leben der Zuhörenden oder Lesenden hat, dann ist das für mich eine starke Geschichte.

Ihr Buch beginnt mit Ihrem Aufbruch in einem Dunkel-Retreat. Warum haben Sie sich dieser Erfahrung ausgesetzt?
Für mich war die Reise ins Dunkle eine riesige Herausforderung. Ich konnte schon erahnen, dass da einige Gefühle auf mich warten würden, die ich lange im Alltag verdrängt hatte. Da war die Angst, da war die Verletzlichkeit, da war die Traurigkeit. Die sind allesamt hochgekommen und im ersten Moment wusste ich tatsächlich nicht, was los war. Das war wie Ertrinken, als hätte man Wasser in einen Raum gelassen, das nach und nach anstieg. Irgendwann habe ich den Boden unter den Füßen verloren und hab nur noch an der Decke geatmet. Irgendwann habe ich dann entdeckt, dass das meine Emotionen sind, die dort hochkommen und die mir gerade solche Angst machen. Und in dieser intensiven Dunkelerfahrung wollte ich diesen Dingen endlich begegnen. Dafür war diese Dunkelheit wichtig und gut. Nicht jeder braucht so ein extremes Experiment, um zu sich zu kommen. Aber für mich war das eine der wertvollsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe.

„Ich konnte für einen Moment innehalten.“

 

Auch eine Geburtstagsparty kann unangenehme Gefühle auslösen. Was hat Ihnen auf dem Event erst zu schaffen gemacht und dann zu einer wertvollen Erfahrung verholfen?
Die Geburtstagsparty war relativ groß. Ich kam allein an und kannte wirklich niemanden, stand zuerst alleine am Rand, mit der Schulter an der Wand angelehnt. In diesem Augenblick kam ein riesiges Gefühl der Scham in mir auf. Oh Gott, dachte ich, was ist, wenn mich jetzt andere Leute sehen, wie ich hier alleine stehe. Normalerweise wäre ich dieser Scham ausgewichen und hätte sie wahrscheinlich nicht mal richtig bemerkt. Ein Griff zum Handy, in das ich irgendwas getippt und so getan hätte, als ob ich beschäftigt wäre. Dieses Mal war es aber anders, denn ich hatte mich zu dem Zeitpunkt schon intensiv mit der Idee der Gefühlsbereitschaft beschäftigt. Ich konnte für einen Moment innehalten, die Scham aufkommen lassen, und hab plötzlich dahinter meinen eigentlichen Wunsch wahrgenommen: mit Leuten in Kontakt zu sein. Auch wenn es da eine Angst gab, war das der tiefere Wunsch. Und nur weil ich den gehört habe, konnte ich dann sagen: Hey, ich habe jetzt zwar Angst, diese unbekannten Leute anzusprechen, aber ich kann das tun, trotz und mit meiner Angst. Und so bin ich an diesem Abend tatsächlich noch in Kontakt gekommen und dabei haben sich wahnsinnig nette Gespräche entwickelt.

Wie ihr Freund Nate mit seiner Traurigkeit und Trauer umgeht, hat Sie tief berührt. Wodurch und was können wir von ihm über den Umgang mit Gefühlen lernen?
Als Nate seinen Vater verloren hat, fand er eine sehr achtsame Weise, seinen Vater weiterhin in seinen Tag zu integrieren. Er hat nicht gesagt: Hey, ich sperre meinen Vater und alle Erinnerungen an ihn aus meinem Leben aus, weil ich dieses tiefe Gefühl der Traurigkeit um seinen Verlust nicht aushalte. Sondern Nate hat für sich entschieden: Ich nehme Kontakt mit meinen Gefühlen auf und damit auch mit meinem Vater. Jeden Tag stellt er sich einen Wecker und wenn der klingelt, dann geht Nate kurz in einen inneren Dialog mit seinem Vater, wie in einem Tagebuch. Er erzählt ihm, was passiert ist, was ihn gerade so beschäftigt. Manche mögen das vielleicht für albern oder sinnlos halten, weil Nate mit einem Toten spricht. Aber für Nate ist das ein Weg, mit seinem Vater über den Tod hinaus in Verbindung zu stehen. Damit hat er für sich einen konstruktiven Weg gefunden, den auch die Wissenschaft als positiven und wirksamen Umgang mit einem so einschneidenden Verlust bewertet.

„Therapeutisches Schreiben ist in seiner Wirksamkeit bewiesen.“

Welche Lebenslektionen stecken für Sie in Ihrer Geschichte über den Sozialpsychologen James Pennebaker und seine Gefühlskrise?
In dem Moment, in dem wir anfangen, ehrlich zu sein mit dem, was in uns ist, und ein Ventil finden – und das hat Pennebaker nach der Scheidung von seiner Frau gefunden – wird uns unsere Innenwelt viel bewusster. Sie bekommt einen Platz. Für Pennebaker war es das Schreiben: Das aufschreiben, was in einem vorgeht. In diesem Prozess der Bewusstwerdung eröffnen sich mir ganz neue Handlungsräume und ich kann reflektieren: Was ist es gerade, was in mir vorgeht? Was fehlt mir? Was möchte ich machen, wo brauche ich meinen eigenen Beistand? Dabei hilft dieses therapeutische Schreiben, das James Pennebaker über Jahrzehnte erforscht und in seiner Wirksamkeit bewiesen hat.

Wie ist es Ihnen selbst beim Schreiben ergangen? Was wurde zur Herausforderung und was hat Sie weitergebracht?
Manche Menschen stellen sich einen Schreibprozess relativ romantisch vor. Das mag es sicherlich auch geben: Man sitzt am Schreibtisch, die Fenster sind geöffnet und vor einem tut sich das Meer auf. Eine leichte Brise weht durch die Fenster. Ab und zu taucht man seine Feder ins Glas und schreibt ein paar Wörter runter. Tatsächlich, so ist es zumindest für mich, braucht das Schreiben sehr, sehr viel Struktur. Außerdem braucht es den Glauben, dass das, was man dort zusammenträgt an eigenen Gedanken und Erkenntnissen aus der psychologischen Forschung, wertvoll genug ist. Stark genug, nicht nur um zu unterhalten, sondern auch ein wertvolles Geschenk zu machen für die Lebensführung der Lesenden. Und das war die Herausforderung, vor der ich fast täglich stand. Manchmal hat es mich den Schlaf gekostet und es gab Augenblicke, in denen ich daran verzweifelt bin. Trotz alldem war es ein sehr wichtiger Prozess für mich. Zudem wollte ich ja ganz offen und ehrlich sein in diesem Buch. Ich musste also wohl oder übel die Momente in meinem Leben durcharbeiten, die sehr schmerzhaft waren, manchmal traurig, in denen ich mich nicht so verhalten hatte, wie ich mich gerne verhalten hätte. Diese im Detail zu durchleben, zu reflektieren, nochmal in den Knochen zu fühlen – das hat mich unheimlich viel Kraft gekostet. Es war ein bisschen so, als ob ich bei mir selbst in Therapie gegangen wäre.

ACT – unglaublich effektiv und vielseitig.“

Am hilfreichsten empfinden Sie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie, kurz: ACT. Was zeichnet sie aus?
Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie stammt aus der dritten Strömung der Verhaltenstherapie und ist ein relativ neues, modernes Therapietool, das gerade in Amerika sehr beliebt ist und dort zur breiten Anwendung kommt. Ihre Wirksamkeit wurde mittlerweile in über dreitausend Studien belegt. Für mich ist sie so wertvoll, weil sie das Beste aus jahrtausendealten Traditionen der fernöstlichen Welt mit modernen Therapietechniken vereint. Weil sie unglaublich effektiv und vielseitig ist, eignet sie sich besonders gut dafür, schwierigen Situationen zu begegnen und langfristig ein erfüllteres Leben zu führen. Es hat einen Grund, warum die ACT bei Angst- und Depressionspatient:innen angewandt wird, aber auch bei der Feuerwehr, in Krankenhäusern und bei Spitzensportler:innen.

Was sind die wichtigsten Schritte bei der ACT?
Die ACT stellt uns sechs Werkzeuge bereit. Die müssen nicht immer in einer Reihenfolge verwendet werden. Man kann sich vielmehr ein Tool rausnehmen, das sich für die spezifische Situation gut eignet. Diesen Werkzeugkoffer für das eigene Leben packe ich zusammen mit den Leserinnen und Lesern anhand von Beispielen. Eine Methode ist zum Beispiel das Gedankenkino, wie ich sie nenne, die „Defusio“ in der therapeutischen Sprache heißt. Wir haben jeden Tag eine große Menge an Gedanken und manchmal spuken auch negative Gedanken in uns rum, die uns wenig weiterhelfen und im Gegenteil eher im Weg stehen. Um aus diesen Gedankenspiralen zu kommen, kann es helfen, Abstand zu nehmen. Ich nenne es den Kinosessel. Es gibt nämlich in uns nicht nur den Gedanken, der unseren gesamten Bewusstseinsraum einnimmt, sondern auch die Möglichkeit, einen Gedanken als solchen zu identifizieren. Wenn wir das tun, vergrößert sich der Abstand und wir beobachten unsere Gedanken, als würden sie auf der Leinwand passieren. Wir können uns also beim Denken zusehen.
Beispielsweise denke ich: „Wenn es hart auf hart kommt, bin ich allein.“ Dieser Gedanke gibt mir ein wahnsinnig großes Gefühl der Einsamkeit. Jetzt kann ich mir aber auch denken: „Ich habe den Gedanken, dass, wenn es hart auf hart kommt ich alleine bin.“ Wer das mal für sich ausprobiert, merkt, wie wir mit diesem einfachen Tool schon ein Stück auf Distanz zu den negativen Gedanken kommen. Sie verlieren dann ihre starke Wirkung, die uns davon abhalten kann, für uns wertvolle Dinge zu tun.

„Worauf kommt es mir in meinem Leben an?“

Was geben Sie uns in Ihrer „Toolbox des Lebens“ in die Hand? Was verspricht erste Erlebnisse von Klarheit und Selbstwirksamkeit?
Das Allerwichtigste ist, zu erkennen: Worauf kommt es mir in meinem Leben an? Viele haben die Vorstellung, dass das Leben unendlich ist, selbst wenn wir mit unserem Verstand vom Gegenteil überzeugt sind. Wie ich auch im Buch beschreibe, hat mich Anfang letzten Jahres ein Nahtoderlebnis beim Kitesurfing hart auf den Boden der Tatsachen gebracht. Nach dieser Grenzerfahrung hatte ich das erste Mal nicht nur mit dem Kopf verstanden, sondern am ganzen Körper gespürt, dass das Leben endlich ist. Dieses Gefühl hat eine neue Dringlichkeit erzeugt. Darum möchte ich mit diesem Buch Menschen die Chance geben herauszufinden, was für sie essenziell wichtig ist. Und damit meine ich nicht, wie man höher, schneller, weiterkommt! Sondern: Wenn alles zu Ende ist, was war denn wirklich die Essenz meines Lebens? Wenn man das für sich klar hat und sein Leben Schritt für Schritt danach ausrichtet, kommt man auch durch die stürmischen Phasen viel besser durch. Weil man ein Warum hat.

Was sind die größten Veränderungen, die Sie verspüren, seit Sie gefühlsbereit leben?
Es sind so viele kleine Veränderungen, die zusammen eine riesige Veränderung machen. Ich bin in einem besseren Austausch und im engeren Kontakt mit meiner Mutter und meinem Vater. Ich streite mich viel weniger mit meiner Ex-Freundin, mit der ich unser Kind aufziehe, und wir haben uns angenähert. Ich führe innigere Beziehungen mit meinen besten Freundinnen und Freunden. Und ich erlebe auch viel öfter schöne Interaktionen mit Fremden auf der Straße. Das heißt, vor allem meine Beziehungen haben sich verbessert – zu mir selbst und zu anderen Menschen. Und: Ich würde auch sagen, dass ich ein zufriedenerer Mensch geworden bin, erfüllter. Das spüre ich jeden Tag.

Offenbar ist es Ihnen nicht nur wichtig, Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen weiterzugeben, sondern auch von und mit anderen zu lernen. Was macht Ihnen da Ihre Gemeinschaftsprojekte mit Stefanie Stahl wichtig und wie ergänzen Sie beide einander?
Menschen bringen immer unterschiedliche Qualitäten mit und wenn man es schafft, diese Qualitäten zusammenzuführen, dann profitieren alle davon. Zum einen lernt man gegenseitig voneinander und andererseits eröffnen sich für die Menschen, die uns zuhören, zwei Perspektiven. Das macht, glaube ich, auch unseren Podcast „So bin ich eben!“ für viele so spannend, aber auch unsere gemeinsamen Roadshows. Steffi ist für mich eine fantastische Therapeutin und Psychologin, und auch als Autorin leistet sie großartige Arbeit.

„So viele Menschen sind zwischenzeitlich bereit, sich selbst besser kennenzulernen.“

Welchen Stellenwert hat für Sie der Austausch mit Ihrer Instagram-Community und wie fließt das Feedback Ihrer Follower:innen in Ihre Projekte ein?
Über die sozialen Medien bekomme ich relativ viel Feedback von der Community. Das eröffnet mir das Privileg, dass ich mitbekomme und herausfiltern kann, was die Menschen so beschäftigt. Es ist teilweise sehr persönlich, was mir dort mitgeteilt wird. Dadurch, dass ich mich selten mit meinen persönlichen Meinungen zurückhalte, öffnen sich viele sehr schnell und erzählen sehr persönlich. Das nehme ich sehr dankbar als Geschenk von der Community an, denn dadurch lerne ich ganz viel. Wie sieht’s denn bei jemand anderem aus? Womit struggled der gerade im Leben? Was macht dieser Person Freude? Das ist ein super Austausch, der manchmal intensiv ist, aber auch als Inspiration in unsere verschiedenen Projekte mit einfließt. Was mich immer wieder vom Sessel haut ist, dass so viele Menschen mittlerweile bereit sind, ihre eigenen Prägungen und Erfahrungen anzuschauen, und die Psychologie als wertvolles Tool begreifen, um sich selbst besser kennenzulernen. Ich hoffe, dass Gefühlsbereitschaft uns ein Stück weiter auf diesem wichtigen Weg bringt.