Marcel Reich-Ranicki brachte in seinem „Literarischen Quartett“ die einhellige Begeisterung perfekt auf den Punkt, die Judith Hermann 1998 mit ihrem Debüt auslöste: „Eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.“ Damals wurde sie über Nacht berühmt mit „Sommerhaus, später“ – nicht nur der Sound einer Generation, sondern eine neue Art des Erzählens. Seither bestätigt die 1970 geborene Berliner Autorin mit jedem Buch ihr Ausnahmetalent. Nun brilliert und betört sie mit „Wir hätten uns alles gesagt“.

2023 ist das 25-jährige Jubiläum Ihres Debüts „Sommerhaus, später“. Wie haben Sie die werdende Schriftstellerin Judith Hermann von einst in Erinnerung?
Ich fürchte, ich kann mich – wenn überhaupt – nur an mich erinnern. An Judith, ich kann mich gar nicht an eine „werdende Schriftstellerin“ erinnern. Wenn ich mich richtig erinnere, war ich ziemlich selbstsicher auf der einen und ausgesprochen ängstlich und nervös auf der anderen Seite. Ich hatte jede Menge Überzeugungen und von den wenigsten Dingen eine Ahnung. „Sommerhaus, später“ habe ich als Judith, nicht als Schriftstellerin geschrieben. Vermutlich gilt das für jedes erste Buch.

Wenn Sie die Autorin von damals mit der Schriftstellerin Judith Hermann von heute vergleichen: Worin sehen Sie die größten Veränderungen?
Es kann sein, dass ich Schreiben damals mit einer Art von Selbstvergessenheit verbunden habe. Es ist aber das Gegenteil von Selbstvergessen und zudem ist es tatsächlich eine sogenannte harte Arbeit, möglicherweise ist das die größte Veränderung.

„Gelassenheit rückt von Jahr zu Jahr in eine weitere Ferne.“

Hat der Erfolg Sie seit Ihrem Debüt gelassener und das Schreiben leichter gemacht?
Oh – bedauerlicherweise weder-noch. Je älter ich werde, desto schwieriger wird das Schreiben und sowas wie Gelassenheit rückt von Jahr zu Jahr in eine weitere Ferne.

Ihr neues Buch hat den unverkennbaren Judith-Hermann-Sound und den typischen Sog, aber dennoch hat es einen Sonderstatus, weil es auf die legendäre Frankfurter Poetikvorlesung zurückgeht. Welche Wirkung hatte die Ernennung zur Poetikdozentin im Sommersemester 2022 auf Sie?
Furcht? Ja – Furcht. Oder Angst. Ich hätte lieber ein anderes Wort, aber es ist das erste, das mir einfällt.

Seit der ersten Frankfurter Poetikdozentin Ingeborg Bachmann 1959 haben die unterschiedlichsten Persönlichkeiten von Autorinnen und Autoren ihre persönlichen Konzepte vorgestellt. Wen unter Ihren Vorgängerinnen und Vorgängern empfinden Sie als Ihre Wahlverwandten? Wer imponiert Ihnen am meisten?
Ich könnte sagen „Sie imponieren mir alle“, aber wichtiger sind die Umsetzungen der sogenannten Konzepte – die Bücher. Hier gibt es das Bild vom Imponieren gar nicht, es geht vielmehr um die Liebe zu manchen Autoren, um Begeisterung und Verehrung. Sarah Kirsch. Peter Bichsel. Hans Ulrich Treichel. Ich glaube, am wichtigsten war Katja Lange-Müller, auch weil sie mich beim Schreiben des ersten Buches und von da an beim Nachdenken über das Schreiben immer begleitet hat. Weil sie eine lebende, beglückend lebendige Schriftstellerin ist.

Im Raum schwebt bei wohl jeder Poetikvorlesung die Erwartung des Publikums und der Leserschaft, eingeweiht zu werden. Wie erging es Ihnen damit? Und wie lässt sich das mit Ihrer Philosophie vom Schweigen und Verschweigen in Einklang bringen?
Sich auf die Vorlesung einzulassen, hieß, sich auf genau diese Erwartung einzulassen. Ich muss sie nicht erfüllen, aber ich darf sie nicht enttäuschen – als ich Zugang zum eigenen Text gefunden hatte, empfand ich die Aufgabe eigentlich als sehr schön, als rätselhaft und poetisch. Ich bin in den Geschichten, die ich in der Vorlesung erzähle, viel persönlicher geworden als in allen Büchern zuvor. Zugleich gab es aber die Struktur des Vorlesens – der Text gehörte ja mir und niemandem sonst. Ich habe ihn vorgelesen und wieder mit nach Hause genommen, dem Publikum gezeigt und wieder verschwinden lassen – ganz ähnlich wie ein Zaubertrick. Hätte ich darüber nachgedacht, dass aus der Vorlesung auch ein Buch werden wird, hätte ich vermutlich anders geschrieben.

„Die Tradition ist eine Herausforderung gewesen.“

Gleich im ersten Satz Ihres Buches „Wir hätten uns alles gesagt“ lassen Sie uns wissen, dass dieses Projekt alles andere als ein Kinderspiel war. Was waren die größten Herausforderungen?
Die Tradition ist eine Herausforderung gewesen. Der Vergleich, die Frage danach, wie die anderen das gemacht haben. „Du kannst machen, was du willst“ – Oliver Vogel, der mich zu den Vorlesungen überredet hat, oder besser, der mich davon überzeugt hat, dass ich sie wagen kann, hat mir das eindringlich und immer wieder gesagt. Aber die Idee von der absoluten Freiheit hat die Sache nicht einfacher gemacht.

Das Schreiben über das Schreiben war für Sie offenbar keine Option. Was sprach dagegen?
Gar nichts? Für meine Begriffe habe ich über das Schreiben geschrieben, ich habe über mein Schreiben geschrieben. Ich glaube nicht, dass es für „Schreiben über Schreiben“ eine Vorlage gibt.

Im Vorwort gestehen Sie: Es „ist unerwartet Privates aufgetaucht“. Warum drängt sich das Private bei diesem Projekt förmlich auf? Was macht es Ihnen sogar wichtig und beflügelnd, ihm viel Spielraum zu gewähren?
Ich möchte noch einmal den kleinen Vergleich vom Zaubern versuchen, ich bin leider ziemlich stark im magischen Denken verhaftet. Vom Schreiben zu erzählen und das Eigentliche zugleich für mich zu behalten, ist eine verzwickte Angelegenheit. Das Private lenkt den Zuhörer, den Leser, ab. Es lenkt ihn paradoxerweise vom Eigentlichen ab – ein Hinweis, der schon fast zu viel sein kann.

„Den aufgetauchten Gedanken habe ich mich anvertraut.“

Sie verraten: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang.“ Klar, dass keine klassische Autobiografie gemeint ist. Aber was dann? Was war Ihr Plan und welcher Leitlinie sind Sie gefolgt?
Es gab keinen Plan, keine Leitlinie. Ich habe mich, wie bei den anderen Büchern auch, auf meine Intuition verlassen. Auf mein Gefühl – vor allem jedenfalls auf mein Gefühl. Es ist wie in der Traumdeutung der klassischen Analyse: Ich habe mir die Frage gestellt, was mir zu meinem Schreiben einfällt, sachlich, eher kühl. Assoziativ. Und den Personen, Bildern und Gegenständen, die dann aufgetaucht sind, habe ich mich anvertraut. Ich habe mich auf sie verlassen.

Welche Themen und Fragen beschäftigen Sie beim Schreiben am meisten?
Raymond Carver hatte sich eine Zeitlang einen Zettel über seinen Schreibtisch gehängt, auf dem der Satz stand „Don´t write tricky“. Das ist ein wenig abgegriffen, sehr amerikanisch, aber es trifft – carvergemäß – doch einen empfindlichen Punkt. Es gibt im Schreiben erstaunlicherweise eine Moral, etwas Helles, Heiles. Schreiben kann amoralisch sein, der Schreibende ist immer ein Verräter. Und trotzdem geht es am Ende um Aufrichtigkeit, um die Verteidigung einer Wahrheit. Das klingt so anmaßend. Aber es ist das, was mich beschäftigt, ja.

Sie sprechen von einem „Selbstverhör“. Wie meinen Sie das und ist es der Grund, zehn Jahre Psychoanalyse ins Spiel zu bringen?
Die Psychoanalyse – mal ausgehend davon, dass ich sie wirklich gemacht habe – hat mein Leben verändert, und sie hat mein Schreiben begleitet, ich habe während der Analyse drei Bücher geschrieben. Es wäre unsinnig gewesen, sie aus dem Text herauszuhalten, außerdem hatte es etwas amüsant Anachronistisches, darüber zu sprechen, ein Analysand zu sein.

Eine Schlüsselrolle scheint von Anfang an dem Psychoanalytiker Dr. Dreehüs zuzukommen. Was genau macht seine Bedeutung aus?
Er ist ein Zuhörer und ist er im übertragenen Sinn auch ein Leser – der Verwandte eines Lesenden, eines Lesenden an und für sich, aber meinethalben auch eines Lesers meiner Bücher. Diese Frage „Verstehst du, was ich meine“, um die es in der Vorlesung ab und an geht, ist eine Frage, die ich durchaus auch einem Leser stellen könnte. Versteht der Leser, was ich schreiben wollte? Versteht er es wirklich, was auch immer das heißen soll. Hat Dr. Dreehüs verstanden, was ich versucht habe, ihm zu erzählen. Und spielt es eine Rolle, ob er verstanden oder ob er gar nichts verstanden hat. Am Ende ist das dasselbe – Leben können ohne Analytiker, Schreiben, ohne an den Leser zu denken. Und ein Vertrauen auf das Verständnis beider und auf die eigene Geschichte haben.

Dr. Dreehüs wirkt nicht gerade mitteilsam geschweige denn redselig, aber seine seltenen Äußerungen sind spannende Diagnosen. Welche seiner Erkenntnisse sprechen Ihnen am meisten aus dem Herzen?
Die Charakterisierung meiner Person mit diesem einen schönen Wort: wehleidig.

„Das Suchende? Den Verzicht auf eine finale Erkenntnis.“

Sie stellen fest: „Ich bin mit dem Sprechen in der Analyse so verfahren wie mit dem Schreiben einer Geschichte.“ Was haben die Psychoanalyse und das Schreiben gemeinsam?
Das Suchende? Den Verzicht auf eine finale Erkenntnis. Die Bereitschaft, sich auf das Scheitern einzulassen, die Versessenheit darauf, trotzdem weiterzumachen, nicht aufzugeben. Es gibt keine Ankunft, das gilt wohl fürs Sprechen in der Analyse, wie fürs Schreiben. Aber es gibt eine Verschiebung der Horizonte. Veränderungen, Erkenntnisse, die wieder verworfen werden, es gibt das Erstaunen und manchmal ein etwas eigenes, eben wehleidiges Glücklichsein.

Als Dr. Dreehüs in einer Kneipe namens „Trommel“ verschwindet, fühlen Sie sich an Alice im Wunderland erinnert. Das erste, aber keineswegs letzte Mal, dass Ihnen in Ihrem Buch etwas surreal vorkommt … oder Sie sich fragen, ob Sie geträumt haben. Was ist das Spannende und Faszinierende für Sie an diesem Schwebezustand? Welchen Phänomenen spüren Sie dabei nach?
Es kann entlastend sein, sich diesen Schwebezustand vorzustellen, befreiend oder erleichternd. Der Gedanke, ich würde das Leben träumen, hält mir das Leben vom Leib, er schafft einen kleinen, imaginären Abstand, er nimmt mich aus der Zeit. Auf dieser Welt ist offenbar alles möglich, etwas daran ist schwer auszuhalten. Das Surreale kann tröstlich sein.

Den ersten Ideenfunken zu einer Geschichte bezeichnen Sie als „Initiationsmoment“. Was genau hat es damit auf sich? Was verstehen Sie darunter?
Schreiben ist mühselig, ein diszipliniertes und sprödes Verfahren, ein eher trostloser Vorgang. Ein großer Teil des Schreibens ist mühselig, aber dann gibt es Augenblicke, in denen etwas außerhalb meiner Bemühungen passiert, in denen das Schreiben sich verselbstständigt. Das geschieht im Lauf eines Textes immer wieder, es geschieht auf jeden Fall am Schluß – der Text entlässt den Autor, er hat sein Ende gefunden – und eben auch am Anfang. Die Initiation ist die Einführung, die Aufnahme in den exquisiten Geheimbund einer Geschichte. Sie hat etwas Unwiderstehliches.

„Für mich leben Geschichten von Leerstellen.“

Was macht Ihnen das Verschweigen als Erzählprinzip generell wichtig?
Für mich leben Geschichten von Leerstellen, nicht von Behauptungen. Die Leerstelle ist die Verbindung, die der Text mit dem Leser eingeht, die den Text dem Lesenden überhaupt zugänglich macht, jedenfalls stelle ich mir das so vor. Verschweigen ist ein wichtiges Erzählprinzip, das Erzählen muss geheimnisvoll sein, es muss ein Geheimnis bewahren können. Ich habe es als Lesende nicht so mit Büchern, die mir die Welt erklären und das gilt wohl auch für mein Schreiben.

Im 1. Kapitel lassen Sie Höhen und Tiefen mit Ada und Marco lebendig werden. Was macht Ihnen diese beiden so unterschiedlichen Menschen und Freundschaften literarisch wichtig? Und aussagekräftig?
Ich weiß gar nicht, ob mir diese beiden Menschen literarisch wichtig sind. Sie sind wichtig für mein Leben, vielleicht wichtiger für mein Leben als für mein Schreiben. Und weil die Vorlesung eine Balance sucht zwischen dem Leben und dem Schreiben, sind beide präsent. Sie sind das, was Leben und Schreiben zusammenbringt.

Was hat Sie bewogen, Ihren Lebensweg von der Kindheit an zu beleuchten?
Dieser Satz von Guntram Vesper, das Bild der Chiffren, die sich enträtseln – oder eben nicht enträtseln. Die Kindheit ist für uns alle prägend, und natürlich ist meine Kindheit prägend für mein Schreiben gewesen. Ich kam schlicht nicht drum herum.

Sie lassen ein Großaufgebot an Familie und Wahl-Familie lebendig werden. Was möchten Sie ausloten?
Die Frage nach der Zugehörigkeit? Nach dem Zuhause, nach den Gefühlen, die dich an Orte bringen und von Orten wieder weg. Die Frage nach der Beständigkeit. Nach der Möglichkeit der Zweisamkeit, ich bin an und für sich nicht zweisam. Es ist schön, dass Sie hier den Begriff des Auslotens wählen, das Ausloten hat so etwas Ungefähres. Es erhellt einen Ausschnitt, einen kleinen Lichtkreis. Aber außerhalb des Lichtkreises bleiben die Dinge für sich. Ich habe grundsätzlich viel mehr Fragen als Antworten.

Sie beleuchten und betrachten auch fotografische Familienporträts, ein ganz altes und ein neues. Was macht für Sie diese Gegenüberstellung reizvoll spannend und Fotografie so faszinierend?
Es ist etwas Unbegreifliches an einer Schwarzweißfotografie aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Diese Tatsache, dass alle diese Leute – meine Familie – mit ihren familiären Zuneigungen und Schwierigkeiten, am Leben gewesen und jetzt nicht mehr am Leben sind, und dass meine Familie und ich, so lebendig an diesem einen Julitag im 21ten Jahrhundert, vielleicht irgendwann auch von einem Menschen, der noch gar nicht geboren ist, so angesehen werden wird, wie ich die Portraitierten aus dem Jahr 1929 angesehen habe. Mit der Lupe. Immer wieder. Und was hat mir das gesagt? Die Leerstelle zwischen der Fotografie damals und der Fotografie heute und die Leerstelle zwischen meiner Familie und einem Betrachter im Jahr 2050 – wenn man sich 2050 überhaupt noch Fotografien ansehen wird – hat etwas Bestürzendes für mich.

Wie haben Sie die Erinnerungsstücke für die Poetikvorlesung und Ihr Buch ausgewählt?
So, wie ich die Menschen, die Figuren ausgesucht habe – sie sind autonom mit in den Text hineingekommen, sie haben sich, im Wortsinn, ergeben.

„Ein Raum für den Raum für den Raum, letztlich ein Schutzraum.“

Von der Titelgeschichte in Ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ bis zu Ihrem Elternhaus im aktuellen Buch umkreisen Sie die unterschiedlichsten Häuser – inklusive dem von Ihrem Vater einst für Sie gebauten Puppenhaus und dem Kinderbuch „Das gelbe Haus“. Was verbinden Sie damit?
Ja, diese Sache mit den Häusern ist erstaunlich für mich. Mir wird ihr Auftauchen in all meinen Texten immer erst im Nachhinein deutlich, der Begriff des Hauses scheint etwas Traumatisches für mich zu haben, das Wort „Daheim“ wie ein fernes Echo für das Bild vom „Sommerhaus, später“. Ein Haus als eine Metapher für was? Ein Raum für den Raum für den Raum, letztlich ein Schutzraum. In meiner Familie gab es nie Häuser, es gab keinen Besitz. Daß wir durch etliche Zufälle dann doch dieses Familienhaus am Meer besitzen, in dem wir alle Dinge aufheben, von denen wir uns nicht trennen können, mit denen wir aber nicht leben wollen – das ist vermutlich eine Geschichte für sich.

Was zieht Sie immer und immer wieder ins „Haus am Meer“? Was macht die Magie dieses alten Bauwerks und der Landschaft aus?
Ich fühle mich im Haus am Meer geborgen – die Struktur der Familie, der Zugehörigkeit zu einem Stamm, hat etwas Beschützendes für mich. Ich habe meine Urgroßmutter nicht gekannt, ich schlafe im Haus am Meer in ihrem Bett und sehe mich in dem Spiegel an, in dem auch sie sich angesehen hat. Ich empfinde sie als anwesend, sie ist da. Als mein Kind klein war, war es ungemein beruhigend für mich, mit ihm an dem Tisch sitzen zu können, an dem auch alle anderen schon gesessen haben, ich hatte nie das Bedürfnis, mich davon zu befreien. Aber würde ich im Haus am Meer wirklich leben, dann wäre das anders. Ich bräuchte leere Räume, einen Neuanfang. Die Leere ist in der Landschaft. Wattenmeer, Deichwiesen, Schlick. Himmel darüber. Viel Licht.

Ganz am Anfang Ihrer Laufbahn verschlug es Sie als Stipendiatin nach Wewelsfleth: ein kleines schleswig-holsteinisches Dorf. Was war für Sie als Autorin aus Berlin das Beflügelnde an diesem entlegenen Ort und was wurde zur literarischen Keimzelle?
Beflügelnd war auf jeden Fall das Alleinsein. Fern von Berlin sein. In der Provinz sein, fremd sein, weit weg von allem, was ich kannte. Die literarische Keimzelle war ein Brockhaus-Lexikon und ein Fotoband über das Petersburg des untergegangenen Jahrhunderts.

„Ich muss zum Schreiben alleine sein.“

Welche Umgebung bevorzugen Sie zum Schreiben? Welche Atmosphäre finden Sie am idealsten?
Ich muss zum Schreiben alleine sein. Ich brauche einen Tisch an einem Fenster, ich brauche eine gewisse Aussicht, nicht zwangsweise etwas Schönes, aber eben eine Aussicht. Schlaf. Gute Nerven. Zuversicht, Zufriedenheit und schlechtes Wetter.

Welche Sehnsuchtsorte beflügeln Sie persönlich und literarisch und wodurch?
Mir kommt es so vor, als hätte jeder Mensch einen Kompass, eine Richtung, in die es ihn zieht. Meine Kompassnadel zeigt nach Norden und nach Osten. Sehnsucht ist an Klang gebunden – Odessa, die Kaschubei, Swanetien, Ossetien. Die Mongolei. Die Lofoten, die Färöer, die Äußeren Hebriden. Das gilt für das Reisen und für das Lesen auch.

„Erinnerung ist nicht verlässlich, sie ist fluid, sie macht, was sie will.“

Wer sich erinnert oder zu erinnern versucht, gerät auf ein Spannungsfeld, etwa zwischen Festhalten und Flüchtigkeit. Wie würden Sie es beschreiben und was ist für Sie das Faszinierende daran?
Erinnerung ist nicht verlässlich, sie ist fluid, sie macht, was sie will. Ich erinnere mich heute an Situationen völlig anders als noch vor zehn Jahren, vielleicht ist nicht die Situation anders, aber meine Haltung ist anders, und das formt die Erinnerung um. Ich kann meiner Erinnerung nicht vertrauen. Aber ich kann lernen, ihre Wandelbarkeit als richtig und gut zu empfinden. Sie ist ein Vexierbild. Eine Zeichnung mit einer darin verborgenen, wankelmütigen Wahrheit. Ich muss sorgfältig mit ihr sein.

Dem Eingeständnis des Privaten schicken Sie in Ihrem Buch sofort die Frage nach, „ob es zu bereuen ist“. Wie lautet Ihre Antwort und was bestärkt Sie darin?
Ich fürchte, ich habe noch keine Antwort – die Reue steht noch dahin. Aber sie gehört wohl letztlich immer dazu, oder?