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DEN POLITISCHEN NERV unserer Zeit trifft kaum ein anderes Buch so sehr wie „Über Tyrannei“. In seiner Brandschrift leitet der renommierte US-Historiker Timothy Snyder aus der Analyse der Schreckensherrschaften des 20. Jahrhunderts konkrete Handlungsmaximen ab, um im Hier und Jetzt die Demokratie zu verteidigen. Nun hat sein Weltbestseller eine ganz neue Dimension gewonnen – von Nora Krug in ihre einzigartige Bildsprache übertragen. Bekannt wurde die vielfach ausgezeichnete deutsch-amerikanische IIlustratorin durch ihren internationalen Bucherfolg „Heimat“.
Mit Tyrannei waren Sie schon bei Ihrem mutigen Buchprojekt „Heimat“ intensiv konfrontiert. Was waren Ihre Beweggründe und was Ihre persönliche Mission?
In meiner Graphic Memoir „Heimat“ befasste ich mich mit der Frage, welche Entscheidungen meine Familie während der Zeit des Nationalsozialismus traf und wie sich diese Entscheidungen noch heute emotional auf uns als Familie auswirken. Erst nachdem ich viele Jahre im Ausland gelebt hatte, war mir aufgefallen, dass ich mich diesem Thema zuvor ausschließlich auf kollektiver, aber nie auf persönlicher Ebene gestellt hatte.
Schon von „Heimat“ her wirkten Sie prädestiniert, Timothy Snyders Buch „Über Tyrannei“ zu illustrieren. Wie ist es tatsächlich dazu gekommen?
Nachdem Timothy Snyder mein Buch „Heimat“ gelesen hatte, kontaktierte er mich mit der Frage, ob ich eine grafische Ausgabe des von ihm bereits 2017 – kurz nach der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten – erschienen Buchs illustrieren wolle. Seitdem sind wir in regelmäßigem Kontakt.
Was macht aus Ihrer persönlichen Sicht den Stellenwert von Timothy Snyders Buch „Über Tyrannei“ aus?
Das Einzigartige an diesem Buch ist die anschauliche Art und Weise, wie es schildert, was wir als Bürger tagtäglich tun können, um unsere Demokratie zu verteidigen. Demokratie darf man nicht als selbstverständlich betrachten. Sie ist ein Prozess, an dem wir alle teilnehmen müssen.
„Gefährliche Tendenzen früh erkennen.“
Welchen Bezug sehen Sie zwischen „Heimat“ und „Über Tyrannei“?
„Heimat“ beschäftigt sich mit der Frage, welche langanhaltenden Konsequenzen Krieg und politische Konflikte auf Menschen haben. So empfand ich die Arbeit an „Über Tyrannei“, in dem es darum geht, was wir tun können, um gefährliche Tendenzen früh zu erkennen und aus der Geschichte zu lernen, als eine Fortführung meiner vorherigen Arbeit.
Was steht für Sie am Anfang? Wie entwickeln Sie Ihr Gestaltungskonzept und Ihre Illustrationsideen?
Am Anfang steht für mich immer der Text. Als Illustratorin ist es mein Ziel, Text nicht eins zu eins in Bilder zu übersetzen, sondern ihm eine weitere, emotionale Ebene zu verleihen. Eine gute Illustration erklärt nicht, sondern regt uns dazu an, allgemeingültige Vorstellungen kritisch zu hinterfragen.
© mit freundlicher Genehmigung des C.H.Beck Verlags aus Timothy Snyder „Über Tyrannei“, Illustrationen Nora Krug
Sie haben eine absolut überraschende Collage an Ideen umgesetzt. Warum schien es Ihnen geboten, bei der Illustration von „Über Tyrannei“ Bebilderungskonventionen zu durchbrechen und sich künstlerische Freiheit zu nehmen?
Erstens, weil ich mich bei einer konventionelleren Herangehensweise selbst gelangweilt hätte, und zweitens, weil ich durch die collagenhafte Darstellung, die meine eigenen Illustrationen mit historischen Fotografien und anderen gefundenen grafischen Elementen verbindet, den fragmentarischen Charakter von Erinnerung sowie die Tatsache, dass Tyrannei zeitlos und universell ist, darstellen wollte.
Wie lang haben Sie an „Über Tyrannei“ gearbeitet und wie dürfen wir uns den Schaffensprozess vorstellen?
Meine Arbeit begann während des ersten Corona-Lockdowns – einer Zeit, die in den USA nicht nur aufgrund der gesundheitlichen, sondern auch der politischen Situation sehr angespannt war. Wir befanden uns im letzten Amtsjahr Donald Trumps. Während ich an meinem Zeichentisch in Brooklyn saß, schienen sich fast alle der gefährlichen Situationen, die Herr Snyder in seinem Buch vorhergesagt hatte, Schritt für Schritt zu bewahrheiten. Dieses Buch zu illustrieren, fühlte sich so an, als hätte ich ein visuelles Tagebuch geführt, das den Niedergang einer Zivilisation dokumentiert.
„Flohmärkte sind wie Gedenkstätten.“
Wie haben Sie Ihre Bilder ausgewählt und worauf kam es Ihnen bei der Kombination von eigenen Werken und Fundstücken an?
Bei vielen der gefundenen Bilder handelt es sich um Flohmarktfundstücke. Flohmärkte und Antiquitätenläden sind für mich wie Gedenkstätten: Sie zeigen uns, wer wir einmal waren. Gefundene Materialien aus diesen Quellen in meine Collagen zu integrieren bedeutet für mich, Tote wieder zum Leben zu erwecken, Augenmerk auf das zu lenken, was wir versuchen zu verdrängen und vergessen.
Ihre Illustrationen haben eine ganz eigene erzählerische Kraft und wecken Assoziationen. Beispielsweise erinnert schon das Inhaltsverzeichnis an ein Herbarium mit zarten Blüten in verschiedenen Stadien. Worauf kommt es Ihnen dabei an?
In seinem Buch beschreibt Herr Snyder die Fragilität demokratischer Systeme. Dies wollte ich durch den Zerfall einer einst lebendigen Pflanze darstellen – einer Hortensienblüte aus meinem Garten in Brooklyn.
Für Ihr Buch „Heimat“ haben Sie unter anderem auf Flohmärkten in ganz Deutschland gestöbert. Wo sind Sie dieses Mal fündig geworden?
Wenn ich in Berlin bin, besuche ich regelmäßig den Flohmarkt am Ostbahnhof, auf dem oftmals Objekte und Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden sind. Aber auch in Wohnungsauflösungsgeschäften bin ich schon oft fündig geworden.
Welche Bedeutung messen Sie Ironie und Satire bei?
Humor stellt normative Wertvorstellungen infrage, was mir bei diesem gesellschaftskritischen Buch als notwendig erschien.
Was ging Ihnen bei der Porzellanskulptur von Präsident Putin hoch zu Ross durch den Kopf?
Die Illustration von Vladimir Putin auf dem weißen Schimmel sollte seine selbstverherrlichende Haltung darstellen und dabei an sowjetische Propagandafiguren erinnern.
„Einen respektvollen und freundlichen Dialog suchen.“
Um ein gegenwärtig vieldiskutiertes Thema geht es in Lektion 9: „Sei freundlich zu unserer Sprache.“ Worauf achten Sie persönlich im Alltag und worauf als Mutter einer sechsjährigen Tochter?
Eine verachtende oder brutale Sprache signalisiert immer Gewaltbereitschaft. Auf seine Wortwahl zu achten, nicht unreflektiert das zu wiederholen, was andere sagen, einen respektvollen und freundlichen Dialog mit jemandem zu suchen, der anderer Meinung ist als man selbst – all dies gehört zu den Verhaltensregeln einer Zivilgesellschaft, die man auch Kindern schon früh beibringen muss.
Lektion 14 ist ganz am Puls unserer digitalen Zeit und empfiehlt: „Führe ein Privatleben.“ Wie legen Sie das für sich aus? Was haben Sie sich persönlich zur Regel gemacht?
Es ist wichtig, Grenzen zu setzen, denn das Internet endet nicht automatisch am privaten Arbeitstisch.
Sie sind nicht nur Schöpferin besonderer Bücher, sondern auch begeisterte Leserin und Buchhandlungsbesucherin. Was zieht Sie so magisch in Buchhandlungen?
Buchhandlungen und Antiquariate sind wie Schatzkammern. Sie hüten das, was Bücher so wertvoll macht: Bücher geben uns die Illusion von Beständigkeit, versichern uns, dass unsere Anstrengungen nicht vergebens sind. Gleichzeitig ermutigen sie uns, infrage zu stellen, was wir für selbstverständlich halten, unsere moralische Integrität zu prüfen und unsere Beziehung zur Welt neu zu definieren.
On Tyranny. Zwanzig Lektionen für den Widerstand von Nora Krug und Timothy Snyder
Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München
bis 30. Januar 2022