Ein Erfolgsformat ist der Politik-Podcast „Lage der Nation“ längst – und überdies ein Gütesiegel für Qualitätsjournalismus, die Stärke von Philip Banse (PB) und Ulf Buermeyer (UB). Nun übertreffen sich die beiden selbst in ihrem Buch „Baustellen der Nation“. Unabhängig, kritisch und konstruktiv beleuchten sie Problembereiche mit akutem Handlungsbedarf und unterbreiten Lösungsvorschläge – damit es endlich wieder vorangeht!
Welche Reaktionen oder Feedbacks von Podcast-HörerInnen freuen Sie besonders?
PB, UB: Häufig schreiben uns Menschen und berichten, sie seien wegen der „Lage“ in die Politik gegangen, hätten sich ins Kommunalparlament wählen lassen oder nach Jahren des Desinteresses wieder für politische Fragen begeistert. Das sind ohne Zweifel die schönsten Rückmeldungen – vor allem, wenn sie von jungen Leuten kommen.

Wie kam es vom Podcast zum Buch? Welcher Wunsch oder Anspruch stand im Raum?
PB, UB: Nach sieben Jahren Politik-Podcast hatten sich einige Themen aufgedrängt, die wir mal ausführlicher behandeln wollten, als das selbst in einem langen Podcast möglich ist. Durch die Zusammenstellung der einzelnen Baustellen in einem Buch werden auch größere Trends und Probleme sichtbar: ein oft veraltetes Verständnis von dem, was Aufgabe eines Staates ist, eine übertriebene Haushaltsdisziplin, die bei der Infrastruktur Milliardenschulden aufhäuft, generell ein Land, das es sich zu bequem gemacht und wesentliche Zukunftsaufgaben einfach verschlafen hat.

Wie profitiert das Buch von Ihrem beliebten Podcast?
PB, UB: Für den Podcast haben wir in den vergangenen Jahren hunderte von Themen recherchiert. Auf diese Weise hatten wir ein recht gutes Grundverständnis von den Baustellen im Buch und konnten recht schnell die wesentlichen Aspekte einer jeden Baustelle identifizieren. Darüber hinaus konnten wir auch jene Baustellen herausdestillieren, die in unseren Augen stellvertretend sind für fundamentale Probleme, die uns auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ausbremsen.

Ihnen geht es nicht um Politiker-Bashing. Wie würden Sie Ihren konstruktiven Ansatz auf den Punkt bringen?
PB, UB: Wir gehen davon aus, dass die allermeisten Menschen in der Politik das Wohl des Landes im Sinn haben. Natürlich definiert das jede und jeder anders, aber für all jene, die das Gemeinwohl ähnlich beschreiben wie wir, wollen wir Lösungen aufzeigen – Lösungen, die WählerInnen auch als konkrete Forderungen an PolitikerInnen herantragen können. Daran werden die politisch Verantwortlichen sich in Zukunft messen lassen müssen.

„Wir lesen, sammeln Fakten, füllen Lücken …“

Was haben Sie bei der Arbeit am Buch (im Vergleich zum Podcast) als Gewinn erlebt?
PB, UB: Die Art und Weise unserer Zusammenarbeit war ähnlich wie beim Podcast – nur pro Thema noch intensiver. Wie beim Podcast auch reden wir erstmal darüber, was das Thema für uns interessant macht, was jedem dazu einfällt, welche Fragen offen sind. Dann lesen wir, sammeln Fakten, füllen Lücken und reden immer wieder lange, um uns einen Reim darauf zu machen. Dabei gibt es die größten Lerneffekte. So waren wir beide eigentlich gegen die Schuldenbremse, fanden aber auch Schattenhaushalte problematisch. Wie beides besser zu vereinbaren ist, haben wir erst durch die Arbeit am Buch verstanden.

Welche Kriterien waren bei der Auswahl der Baustellen entscheidend?
PB, UB: Wir wollten Baustellen beschreiben, die uns interessieren, die viele Menschen betreffen, die stellvertretend stehen für tieferliegende politische Probleme und die wir deshalb für besonders relevant halten. Außerdem haben wir Baustellen ausgewählt, wo wir schon Vorwissen hatten, aber noch viele offene Fragen, die wir immer schon mal klären wollten.

Welche Baustellen erscheinen Ihnen am wichtigsten?
PB: Natürlich steht die Transformation unserer Gesellschaft zur Klimaneutralität sehr weit oben, ohne den massiven Ausbau erneuerbarer Energien ist das nicht zu schaffen. Dafür muss die Verwaltung digitalisiert werden – was auch die Identifikation der Menschen mit dem Gemeinwesen stärken dürfte.
UB: Ich halte die wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland für eines der größten Probleme unserer Zeit – auch weil die Schulen es nicht schaffen, die ungleichen Startchancen der Kinder wettzumachen. Die Ungleichheit ist mittlerweile so groß, dass sie unsere Demokratie gefährdet und Rechtsextremismus fördert. Dabei gibt es sehr konkrete Vorschläge, wie wir unseren Wohlstand fairer verteilen können.

Eine Ihrer acht Baustellen ist der Ausbau der Windkraft, den Sie als „alternativlos“ bezeichnen. Wie lautet Ihr Plädoyer oder Ihre Hauptargumentation?
PB, UB: Wer die Erderhitzung bremsen will, darf keine fossilen Energieträger mehr verbrennen. Damit wird Strom die alles treibende Kraft – für Autos, Heizungen, Industrie. Dieser Strom muss vor allem aus Wind und Sonne gewonnen werden. Dafür brauchen wir massiv viel mehr Windräder. Ohne den Ausbau kann Deutschland nicht klimaneutral werden.

„Der Bund muss die Zügel in die Hand nehmen.“

Im Windkraft-Kapitel gewinnt man den umfassendsten Überblick über Problemfelder. Was wollen Sie?
PB, UB: Der Bund muss die Zügel in die Hand nehmen: Länder verpflichten, Flächen auszuweisen, Genehmigungen vereinheitlichen und Prioritäten setzen, damit Windräder bei Abwägungen nicht gegen einen brütenden Rotmilan verlieren. Die Länder müssen vor allem ihre Verwaltungen ausbauen, damit Windräder nach ein paar Monaten genehmigt sind und nicht erst nach sieben Jahren.

Dass wir alle irgendwie beteiligt sind, deuten Sie mit dem Phänomen „NIMBY“ an. Wofür steht dieses Kürzel und was sagt es uns?
PB, UB: „Not in my backyard“ ‒ nicht in meinem Hinterhof. Heißt: Ich bin ja für Windkraft – aber nur so lange, wie die Dinger woanders stehen. NIMBY verweist damit auf eines der zentralen Probleme bei Gesellschaften im Wandel: Abstrakt sind alle vernünftigen Menschen für den Klimaschutz, aber wenn es konkret wird, wenn es die Menschen unmittelbar betrifft, wird es auf einmal schwierig. Das macht die politische Steuerung von massivem Wandel so komplex.

Wo haben Sie selbst schon mal Zugeständnisse gemacht und über Ihre persönlichen Belange das Gemeinwohl gestellt?
PB, UB: Wir verzichten z.B. auf sehr viel Geld, weil wir in unserem Podcast keine Werbung für fossile Techniken und Produkte akzeptieren, etwa Autos mit Verbrenner oder Flugreisen.

Ein im ersten Moment abenteuerlich klingender Fachbegriff ist „Genehmigungsfiktion“. Was hat es damit auf?
PB, UB: Es gibt das Problem, dass Behörden über Jahre eine Windanlage nicht genehmigen – weil sie überlastet sind oder die Anlage schlicht verhindern wollen. Manche scheuen aber auch Entscheidungen generell, weil sie den Protest fürchten. Gäbe es eine „Genehmigungsfiktion“, müssten Behörden innerhalb einer bestimmten Zeit entscheiden – tun sie es nicht, gilt das als Genehmigung. Das würde die Verfahren extrem beschleunigen und Behörden entlasten.

„Alles Digitale wurde in Deutschland lange zu skeptisch betrachtet.“

Papierkriege, Bürokratie und auf nahezu kafkaeske Weise sich dahinschleppende Verfahren – ein großes Thema in Ihrem Buch. Was liegt da generell im Argen?
PB, UB: Alles Digitale wurde in Deutschland lange zu skeptisch betrachtet. So fehlte es an Willen, Mut und Wissen, um die Verwaltung zu digitalisieren. Über die Jahre wurde der Druck jedoch immer größer, weil sich die Probleme der analogen Verwaltung immer deutlicher gezeigt haben: Die Wirtschaft wird gebremst, Bürger sind frustriert, Behörden vom Papierkram überlastet. So fing jedes Land, jede Kommune an, ihre eigene Software-Architektur zu bauen. Weil der Bund nie energisch genug die Richtung vorgegeben hat, haben wir heute einen irren Wildwuchs, der oft mehr bremst als beschleunigt: Es fehlen einfach Standards, damit Daten ausgetauscht werden können. Hätten wir die, wäre nicht mehr so wichtig, von welchem Hersteller eine Software stammt, und Behörden könnten digital zusammenarbeiten.

Keineswegs Schnee von gestern ist der PISA-Schock von 2000, wie Sie auf der Baustelle Bildung zeigen. Was alarmiert Sie?
PB, UB: Dass wir die Probleme des Bildungswesens seit über 20 Jahren kennen, sie aber nicht annährend in den Griff bekommen: Was Kinder später mal verdienen und als was sie arbeiten, hängt in kaum einem Land so sehr davon ab, was ihre Eltern verdienen, wie in Deutschland. Die Schulen schaffen es einfach nicht, die schlechteren Startchancen von Kindern aus ärmeren Familien auszugleichen. Seit über 20 Jahren nicht. Trotz Pisa-Schock, trotz vieler Milliarden und ungezählter Initiativen und Pläne.

Was macht das Thema Rente zur Großbaustelle?
PB, UB: Die Generation der „Boomer“ hat über ihre Verhältnisse gelebt: Zu wenig Kinder, zu wenig Rentenbeiträge eingezahlt, zu hohe Rentenansprüche, zu wenig vorgesorgt. Jetzt gehen sie millionenfach in Rente, und immer weniger junge Menschen sollen das bezahlen. Das ist ungerecht und kostet viele Milliarden, die wir etwa für den Umbau der Gesellschaft zur Klimaneutralität brauchen.

Was war eigentlich für Sie selbst das größte Aha-Erlebnis bei der Arbeit am Buch?
PB: Die Schuldenbremse ist nicht per se von Übel, wir brauchen nur bessere Einrichtungen, um Schulden transparent, stetig und zweckgebunden für Investitionen aufnehmen zu können.
UB: Ich habe verstanden, warum der Bund, obwohl er alleiniger Eigentümer der Bahn ist, nicht wirklich bestimmen kann, was die Bahn machen soll.

„Es ist alles zu schaffen, wenn wir nur wollen.“

Was überwiegt bei Ihnen nach so viel Beschäftigung mit Problemen und Handlungsbedarf? Frustration oder Zuversicht?
PB, UB: Zuversicht – weil unsere Demokratie schon viele Herausforderungen gemeistert hat. Aber wir sehen auch die Fragezeichen: Werden wir es als Gemeinwesen schaffen, uns darauf zu verständigen, dass der Staat viel mehr Geld in die Hand nimmt, um den gigantischen Investitionsstau auf allen Ebenen zu beheben? Wir müssen in den nächsten fünf bis zehn Jahren rund einen kompletten Bundeshaushalt zusätzlich ausgeben – nämlich 500 Milliarden Euro. Mit ideologischer Fixierung auf Sparen allein ist das nicht zu machen: Wenn es reinregnet, dann muss das Dach repariert werden. Dazu werden wir gerade sehr reiche Menschen heranziehen müssen, einen fairen Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten. Und es wird auch eine ganze Reihe von neuen Sondervermögen und Investitionsgesellschaften geben müssen, um das alles zu finanzieren.

Zweiter Punkt: Der Bundesrat hat sich zu einer zentralen Innovationsbremse in unserem Land entwickelt. Auch diese Bremse muss gelöst werden, indem die Hürden für ein Veto der Länder angehoben werden – ideologische Blockaden darf es nicht mehr geben. Wir machen im Kapitel zum Föderalismus dazu konkrete Vorschläge.

Insgesamt ist unsere Demokratie aber durchaus flexibel und leistungsfähig. Es ist viel zu tun, doch wie die konstruktiven Teile aller Kapitel zeigen: Es ist alles zu schaffen, wenn wir nur wollen.