Dr. Annie Zimmerman kennt sich aus mit Schwierigkeiten und Wiederholungsschleifen, die vielen Menschen zu schaffen machen – nicht nur als gefragte Psychotherapeutin mit eigener Praxis in London, sondern auch als Betroffene. Und durch ihre engagierte Community. Gut 500.000 Follower erreicht sie unter @your_pocket_therapist. Jetzt gibt es die Social-Media-Sensation endlich als Buch. Der perfekte 5-Punkte-Plan für ein unbeschwerteres Leben.​

Wer oder was hat Sie auf Ihrem persönlichen Weg zu einem erfüllten Leben am meisten weitergebracht?
Nichts hat mir mehr geholfen als eine Therapie. Sie ist der beste und einzige Weg, den ich gefunden habe, um die inneren Blockaden, die ich mir selbst auferlegt habe und die mir nicht einmal bewusst waren, wirklich zu beseitigen. Es ist ein wahres Privileg, jemanden zu haben, der einen herausfordert, der einen unterstützt und der einen auf Dinge hinweist, die man selbst nicht sehen kann. Ich habe mich in vielerlei Hinsicht zurückgehalten, hatte Angst, anderen gegenüber mein wahres Ich zu zeigen, und habe die Dinge, die ich wollte, selbst sabotiert. Erst seit der Therapie bin ich in der Lage, die ängstlichen oder wütenden Anteile in mir zu verstehen, und indem ich sie zum Ausdruck bringe und verarbeite, kann ich mich von ihnen befreien.

„In der Psychoanalyse geht es darum, das Unbewusste bewusst zu machen.“

Worin sehen Sie Ihre Mission oder Hauptaufgabe als Psychotherapeutin? Was ist für Sie selbst das Erfüllende dabei?
In der Psychoanalyse geht es darum, das Unbewusste bewusst zu machen, den Menschen zu helfen, sich der Teile ihrer selbst bewusst zu werden, die sie verdrängt oder weggeschoben haben, weil es zu schmerzhaft war, sich damit auseinanderzusetzen. Ein:e Therapeut:in ist dazu da, Fragen zu stellen, neugierig zu bleiben und gemeinsam Dinge aus dem Schatten ans Licht zu bringen. Aber ich denke, Therapie ist mehr als das, für mich geht es um Beziehungen (was auch der erfüllendste Teil ist). Durch Beziehungen heilen wir, erfahren wir uns als jemand, um den man sich kümmern kann. Wenn man anfängt, sich der Teile seiner selbst bewusst zu werden, für die man sich schämt oder die man verleugnet, ist es die Konfrontation mit diesen Teilen in der Gegenwart, die sie erträglich macht. Ein:e Therapeut:in teilt im Wesentlichen mit: Ich akzeptiere dich auch in deinen unordentlichen, dunklen, chaotischen Anteilen, du kannst diese dunklen Gedanken, diese aggressiven Gefühle, diesen Kummer haben, und ich bin trotzdem da. Das für einen anderen Menschen tun zu können, ihm zu helfen, sich selbst zu akzeptieren (was hoffentlich zu einer Veränderung in seinem Leben führt), ist der Grund, warum ich diesen Job mache.

Sie therapieren in Ihrer Praxis im Londoner Stadtteil Hackney und auch online. Welchen Stellenwert hat nun Social Media für Sie als Psychotherapeutin gewonnen?
Ich denke, dass ein Verständnis der Welt, sowohl online als auch offline, wichtig ist, um meine Klient:innen und die Art der Probleme, mit denen sie in den sozialen Medien konfrontiert sind, zu verstehen. Ich betrachte meine Online-Arbeit jedoch getrennt von meiner therapeutischen Praxis. Online vermittle ich Bildung und Informationen, um den Menschen zu helfen, etwas über sich selbst zu lernen und sich ihrer selbst bewusst zu werden. Ich bin der Meinung, dass therapeutische Konzepte Menschen zugänglicher gemacht werden sollten, die vielleicht keinen Zugang zu einer Therapie haben, ABER soziale Medien sind nicht dasselbe wie eine Therapie.

„In einem 30-Sekunden-Video kann man nicht sehr viel sagen.“

nenWas hat Sie trotz riesiger Reichweite in sozialen Medien wie TikTok und Instagram bewogen, Ihr neues Buch zu schreiben?
Die Mission meines Accounts und meines Buches steckt schon im Namen – Your Pocket Therapist. Ich wollte schon immer tiefgreifende und lebensverändernde psychologische Ideen teilen, aber in einer mundgerechten und leicht verständlichen Form. Und der Appetit darauf war riesig. Mein Account wuchs in nur einem Jahr so schnell an, und ich erkannte, dass ich eine Nische im Internet füllte – die Menschen wollten Tiefe, um sich selbst und ihre Beziehungsmuster wirklich auf einer tiefen Ebene zu verstehen. Im Internet geht es sehr oft um positives Denken und motivierende Zitate, und ich glaube, dass mein Account etwas ganz anderes bot, eine neue Perspektive, die Einblicke in die Beziehungen und die psychische Gesundheit der Menschen ermöglichte. Allerdings kann man in einem 30-Sekunden-Video nicht sehr viel sagen. Mit dem Buch kann ich die Theorien, die ich gelernt habe und die mir so sehr geholfen haben, mich selbst und die Menschen um mich herum zu verstehen, auf eine andere Art und Weise weitergeben, die die Dinge zwar immer noch in einem mundgerechten Format präsentiert, aber Raum für viel mehr Tiefe und Erweiterung bietet. Ich wollte auch Geschichten aus dem Therapieraum weitergeben, um zu zeigen, wie der Prozess funktionieren kann und wie die Therapie den Menschen helfen kann, sich zu verändern, denn ich denke, dass man am besten durch Geschichten lernt, die einen berühren.

Wie würden Sie Ihren psychodynamischen Ansatz beschreiben?
Es ist schwer zu beschreiben, weil es so erfahrungsabhängig ist und sich bei jeder Person, die ich treffe, unterscheidet, aber ich würde sagen, es geht darum, auf die eigene Vergangenheit zurückzublicken, um zu verstehen, warum man so ist, wie man heute ist. Es geht darum, sich der Dinge bewusst zu werden (Gedanken, Gefühle, Erinnerungen), die uns vielleicht nicht bewusst sind, die uns aber wahrscheinlich immer noch beherrschen. Wenn wir über die Vergangenheit sprechen und schwierige Ereignisse verarbeiten, können wir unsere Perspektive auf uns selbst verändern und eine neue Geschichte schreiben. Ich verfolge einen eher beziehungsorientierten Ansatz, d. h. ich konzentriere mich auf die therapeutische Beziehung zwischen mir und meinen Patient:innen, auf das, was zwischen uns zur Sprache kommt und darauf, wie meine Erfahrungen mit den Patient:innen mir helfen können, sein/ihr Leiden zu verstehen.

„ … anregen, über sich selbst zu reflektieren.“

Was signalisiert für Sie Ihr Buchtitel „Your Pocket Therapist“? Welcher Leitgedanke kommt darin für Sie zum Ausdruck?
In erster Linie möchte ich Menschen, die leiden, helfen, weniger zu leiden. Der einzige Weg, den ich kenne, um dies zu erreichen, ist den Menschen zu helfen, sich selbst und die Dinge, die sie zurückhalten, zu verstehen. Ich glaube, dass die Therapie bisher hinter akademischen und intellektuellen Institutionen verschlossen war. Aber wir erleben eine Online-Revolution, bei der die Menschen sich wirklich selbst verstehen wollen und sich durch Bildung mobilisieren. Therapie muss nicht akademisch und spießig sein, und meine Mission mit „Your Pocket Therapist“ ist es, Dinge, die man in der Therapie oder in Therapiebüchern lernt, mit den Menschen auf eine einfache und leicht zu erlernende Weise zu teilen. Die Ideen, die ich vermittle, stammen aus komplexen und nuancierten psychoanalytischen Theorien, und ich denke, es ist wichtig, dass jeder Zugang zu diesen Ideen hat – nicht nur Leute, die komplizierte und schwer verständliche akademische Abhandlungen lesen können. Das Buch enthält Übungen und praktische Tipps, die die Menschen dazu anregen, über sich selbst zu reflektieren, so wie sie es in einer Therapie tun würden, mit dem Ziel, den Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihr Leben und ihre Beziehungen zu verändern.

Wer bei Ihnen persönlich eine Therapie in Ihrer Londoner Praxis macht, kommt in der Regel einmal wöchentlich am gleichen Tag zur selben Zeit zum Gespräch. Welche Vorgehensweisen würden Sie mit dem Buch vorschlagen?
Ich möchte die Menschen ermutigen, wie ich es auch in der Therapie tun würde, beim Lesen neugierig zu sein. Was kommt bei Ihnen hoch? Welche Erinnerungen löst es aus? Welche zufälligen Gedanken oder Gefühle bemerken Sie beim Lesen bestimmter Abschnitte? All dies sind Informationen, die Ihnen helfen werden, sich selbst besser zu verstehen. Das Buch enthält auch Übungen und Fragen, die Ihnen helfen sollen, über sich selbst und Ihre Beziehungsmuster nachzudenken und zu lernen. Das Buch ist kein Ersatz für eine Therapie, aber es gibt sicherlich Dinge, die man tun kann, um sich selbst weiterzuentwickeln – Tagebuchführung, Atemarbeit, Gespräche mit Freund:innen oder der Familie über sich selbst, somatische Übungen, die einen in Kontakt mit dem eigenen Körper bringen. Das sind alles Vorschläge, auf die ich in meinem Buch näher eingehe.

„Unterschätzen Sie nicht die Macht, mit jemandem zu reden.“

Wenn man sich nicht gut fühlt: Wann wäre Ihrer Empfehlung nach eine Therapie angesagt?
Ich denke, das hängt von der jeweiligen Person ab. Manche Menschen behalten ihr Leiden für sich, während andere es im Außen zeigen. Ich denke, jede:r muss für sich selbst entscheiden, ob eine Therapie etwas für ihn/sie ist. Wenn Sie darüber nachdenken, würde ich Sie ermutigen, es einfach auszuprobieren und zu sehen, was passiert. Unterschätzen Sie nicht die Macht, mit jemandem zu reden, die Last zu teilen, einen Raum zu haben, der nur für Sie da ist.

Was ist nach Ihrer Erfahrung der Schlüssel, um die tiefen Ursprünge psychischer Nöte aufzuspüren? Was steht am Anfang Ihrer Therapie?
Sich mit Neugierde nähern. Neugierde ist der erste Schritt in dem 5-Schritte-Prozess, den ich in meinem Buch vorstelle. Sie können sich selbst nicht verstehen und beginnen, Ihren Kummer zu verändern, wenn Sie nicht zuerst neugierig sind, warum er da ist. Bei der Neugier geht es auch darum, dass Sie Ihr Urteil zurückstellen, das Sie daran hindern kann, Ihre eher beschämenden oder schwierigen Gefühle und Gedanken zu akzeptieren. Wenn Sie über Ihren Kummer nachdenken, darüber, woher er in Ihrer Vergangenheit gekommen sein könnte und welche Funktion er haben könnte, ist es wichtig, dass Sie so offen wie möglich sind, sich selbst zu erforschen.

Sie schreiben nicht nur als Psychotherapeutin, sondern auch als Betroffene. Welche eigenen Erfahrungen fließen in Ihr Buch ein?
In diesem Buch spreche ich offener über meine eigene Therapie als jemals zuvor. Es war die Essstörung, die mich überhaupt erst in die Therapie brachte, aber ich blieb aus vielen weiteren Gründen. In der Therapie wurde mir klar, dass meine Esssucht in Wirklichkeit nichts mit Essen zu tun hatte, sondern mit der Vermeidung von Gefühlen, und diese Erkenntnis motivierte mich, das Gelernte online und in diesem Buch weiterzugeben. Die Menschen sind sich nicht bewusst, warum sie leiden, so wie ich es auch nicht war. Wir denken, das Problem sei das Symptom, mit dem wir zu kämpfen haben, aber in Wirklichkeit ist es nur der Wegweiser zu einem tieferen Problem. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, die Einsichten und Werkzeuge weiterzugeben, mit denen man unter die Oberfläche zu den wahren Wurzeln der Probleme vordringen kann, wenn ich diesen Prozess nicht selbst durchlaufen hätte.

„Verarbeitung braucht Zeit.“

Immer wieder räumen Sie ein, dass es keinen Zauberstab gibt, sondern dass es um einen Lösungsprozess geht. Was ist das Wichtigste bei Ihrem 5-Schritte-Plan?
Ehrlich gesagt, alles davon. Die fünf Schritte sind etwas, das wir alle durchlaufen müssen, um wirklich tiefgreifende Veränderungen zu erreichen. Man kann nicht einen Schritt tun und die anderen nicht. Wir alle wollen die Heilung beschleunigen, die Dinge mit einem Knopfdruck in Ordnung bringen, und warum sollten wir nicht wollen, dass es schnell und einfach geht? Aber unsere Bewältigungsmechanismen haben sich unser ganzes Leben lang bewährt, sie werden sich nicht kampflos aufgeben. Die Verarbeitung braucht Zeit, denn es gibt mehrere Schichten komplizierter Gedanken und Gefühle, selbst wenn es sich um dasselbe traumatische Ereignis oder dieselbe Beziehung handelt. Es ist sehr wichtig, geduldig zu sein und dem Prozess die Zeit zu lassen, die er braucht, ohne zu versuchen, ihn zu überstürzen.

Was sind die typischen Höhen und Tiefen während des Therapie- und Lösungsprozesses?
Das ist bei jedem anders, aber einer der schmerzhaftesten Teile der Therapie ist meiner Meinung nach, zu akzeptieren, dass die eigenen Eltern fehlerhaft waren. Es gibt das Wissen darum und dann gibt es das wirkliche Gefühl dafür. Es kann sehr schmerzhaft sein, sich mit der Trauer zu verbinden, dass wir unsere Eltern nicht ändern können, dass wir nicht zurückgehen und eine andere Kindheit haben können, und wirklich zu betrauern, was wir nicht bekommen haben, und sich wütend und enttäuscht zu fühlen usw. Das Hochgefühl kommt, wenn wir die Veränderungen wahrnehmen.

„Wenn wir leugnen, wie wir uns fühlen, verleugnen wir uns selbst.“

Stimmungsaufheller wie ein oder zwei Gläschen Wein oder Ablenkungen wie Computerspiele sind beliebt. Wann und warum ist es wichtig, (auch schmerzliche) Gefühle zuzulassen?
Weil wir ehrlich zu uns selbst sein müssen. Wenn wir leugnen, wie wir uns fühlen, verleugnen wir uns selbst. Ablenkung ist natürlich und manchmal sogar notwendig, aber wenn wir nicht zugeben, wie wir uns fühlen, verstecken wir uns vor uns selbst. Und wenn wir uns verstecken, leben wir nicht authentisch, und das ist der Grund für viele Probleme, sowohl in unseren Beziehungen zu anderen als auch zu uns selbst.

„Veränderung ist möglich!“

Was ist für Sie die Kernbotschaft Ihres Buches?
Diese Veränderung ist möglich. Unsere Vergangenheit formt uns und bestimmt, wer wir in der Gegenwart sind und wie wir uns in Beziehungen zeigen, aber das ist nicht festgelegt. Indem Sie sich selbst verstehen, können Sie Ihre Beziehungen zu anderen Menschen, Ihre Entscheidungen und Ihre Gefühle für sich selbst und die Welt ändern. Dieses Buch erklärt, warum wir leiden und wie wir die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, verstehen können, aber in erster Linie ist es ein Buch über Veränderung.