Auch als eBook auf hugendubel.de erhältlich.
Auch als Hörbuch:
Sprecher: Christian Baumann
6 CDs,
Spieldauer: 477 Min.
Argon, 19,95 €
RACHEL JOYCE singt nur, wenn sie ganz sicher ist, dass niemand zuhört. Auch an ihrer literarischen Stimme zweifelte die englische Autorin lange – trotz Auszeichnungen für ihre BBC-Hörspiele. Erst, als sie von der unheilbaren Krankheit ihres Vaters erfuhr, wagte sie sich an ihren Debütroman – für ihn: „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ wurde ihr erster Welterfolg. Der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, ist seither ein großes Thema in ihren feinfühligen Romanen – auch im neuen: eine Liebeserklärung an Musik, kleine Plattenläden und Vinylscheiben, die Leidenschaft ihres Helden.
Am Anfang Ihrer Romane stehen meist persönliche Erfahrungen. Wie war das bei „Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie“ ?
Vor ein paar Jahren litt mein Mann an Schlafstörungen. Wir versuchten das Übliche: homöopathische Mittel, Kamillentee … Nichts half. Eines Tages besuchten wir einen kleinen Plattenladen in einer Seitenstraße und mein Mann erwähnte sein Problem. Der Ladeninhaber suchte ihm eine CD als Schlafhilfe heraus: „Beata Viscera“, Barockmusik von Pérotin. Es ist wie Fliegen.
Hatte es die erhoffte Wirkung?
Es funktionierte. Wirklich! Dieser Mann hatte das Talent, die Musik für Menschen auszuwählen, die ihnen guttut. Ein paar Jahre später kehrten wir in der Hoffnung auf ein Wiedersehen zurück. Aber leider gab es das Geschäft nicht mehr – ein Verlust. An diesem Tag beschloss ich, den Roman zu schreiben.
Welche Songs oder Musikstücke haben in Ihrem Leben eine ganz besondere Bedeutung bekommen?
„Satin Doll“ von Duke Ellington. Früher haben wir Silvesterpartys veranstaltet, bei denen jeder Gast ein Musikstück mitbrachte, das er mit uns anderen teilen wollte. Mein Vater war damals sehr krank, aber er wollte an diesem Abend dabei sein und seine Musik teilen. Er wählte „Satin Doll“. Als junger Mann war er Jazz-Schlagzeuger und spielte in Bands. Bei uns zuhause trommelte er ständig Rhythmen auf unserem Küchentisch. „Satin Doll“ liebte er, weil es die beste Einstimmung für Bands ist: Jeder bekommt sein Solo, dann müssen alle als Team zusammenspielen und einander gegenseitig unterstützen. Sie geben einander Raum, scheuen sich aber auch nicht, Raum für sich zu beanspruchen.
Was löst „Satin Doll“ bei Ihnen aus?
Wenn ich das Stück jetzt höre, sehe ich Duke Ellington vor mir, wie er jedem Musiker in der Band nacheinander das Zeichen zum Aufhören gibt. Das ist die schönste Verabschiedung aller Zeiten. Aber hier kommt noch etwas Größeres zum Tragen. Es zeigt uns, dass wir als Einzelne nicht wirklich viel erreichen können. Aber wenn wir aufeinander achten und einander helfen, haben wir das Potenzial. wirklich etwas zu schaffen. Wir haben diesen Song auf der Beerdigung meines Vaters gespielt. Jedes Mal, wenn ich ihn nun höre, fühle ich mich unsagbar glücklich und zugleich unsagbar allein. Ich weiß weiß, dass es in Ordnung ist, beides zu spüren. In der Musik gibt es ausreichend Raum, um viele Dinge zu fühlen.
Der Neurologe Oliver Sacks schildert in seinem Buch „Der einarmige Pianist“ auch Wirkungen von Musik, die ihm wie Wunder vorkommen. Was ist für Sie das schönste Wunder, das Sie durch Musik erlebt haben?
Kurz nachdem ich meinen Mann kennengelernt hatte, musste wir eine lange Zeit getrennt voneinander überstehen. Damals gab es noch keine Handys. So konnten wir nicht einfach skypen oder SMS senden. Ich bat ihn um einen Song, den ich dann die ganze Zeit hörte, als er fort war: „I don’t want control of you“ von Teenage Fanclub. Unser Song fühlte sich an, als wäre ein Stück von ihm bei mir. So, als wäre ich bei ihm, obwohl ich es nicht war.
„Musik als Lebenselixier“
Offenbar kommen Sie an keinem Plattenladen vorbei, oder? Was haben Sie für sich entdeckt?
Mit meinen Büchern war ich in den letzten Jahren viel auf Reisen. Überall suchte ich mir ein Musikstück als Andenken aus. Vor allem in kleinen, alternativen Plattenläden habe ich viele Stunden verbracht. Mich einfach nur umgesehen. Die Atmosphäre eingeatmet. Im Idealfall sind die Ladenbetreiber wie Kuratoren des Ungewöhnlichen und des Notwendigen. Nur weil es heute einfach ist, etwas herunterzuladen, bedeutet das nicht, dass du das gefunden hast, was du brauchst. So feiere ich in meinem Roman die kleinen Läden mit besonderen Entdeckungen, Stimmungen und Begegnungen.
Welche Begegnungen hatten Sie bei Ihren Touren durch Plattenläden?
Ich habe viele Ladenbesitzer kennengelernt, und natürlich Verkäufer und Kunden. Ich habe auch mit vielen meiner Freunde gesprochen, die in den 80er-Jahren in Plattenläden gearbeitet haben. Sie teilten mit mir Ihre Erinnerungen an Läden, die wohl ein bisschen chaotisch geführte kleine Gemeinschaften waren – und immer auch eine Art Zuhause bedeuteten.
Ihr Roman führt in Franks Plattenladen, der in einer kleinen Seitenstraße liegt. Wie würden Sie die Atmosphäre in der Unity Street beschreiben?
Die Gegend hat ihre besten Zeiten hinter sich. Aber dafür trägt die Unity Street ihren Namen zu Recht: Die Bewohner und Ladenbesitzer in dieser multikulturellen Nachbarschaft sind zu einer besonderen Gemeinschaft geworden. So wurde die Straße zum Zuhause für Menschen, die wissen, was Einsamkeit ist.
Wie Frank?
Ja, Frank hält sich tief in seinem Inneren nicht für wert, geliebt zu werden – und das fühlt sich sehr, sehr schlimm für ihn an. Die Unity Street aber verwurzelt ihn.
Was für ein Typ ist Frank Ihrer Vorstellung nach?
Ich würde ihn gern kennenlernen. Er ist ein Bär von einem Mann. Aber er ist auch sehr schüchtern. Ich stelle mir vor, dass er sich trotz seiner Größe im Schatten bewegt – und dass man ihn vielleicht gar nicht wahrnimmt.
Frank hat weder Psychologie noch Musikwissenschaft studiert. Er kann kein Instrument spielen und keine Noten lesen. Aber es gelingt ihm mit absoluter Treffsicherheit, jeder Kundin und jedem Kunden genau die Musik zu empfehlen, die diesem Menschen gerade jetzt gut tut. Wie gelingt ihm das?
Er ist ein intuitiver Mensch. Er hat eine Gabe. Er hört Menschen zu und er nimmt eine Art von Musik in ihnen wahr, so dass er weiß, welche Musik er ihnen verschreiben kann. Es ist Heilung. Empathie. Frank ist so in seiner Musik verankert, dass dies seine Art ist, Verbindung mit anderen Menschen aufzunehmen.
Hildegard von Bingens geistliche Gesänge kann man sich als Einschlafhilfe für Babys durchaus vorstellen. Aber „Wild Thing“ von den Troggs? Kennen Sie ein Kind, bei dem das so funktioniert hat wie in Ihrem Roman beim Baby des Bankfilialleiters?
Der entscheidende Punkt bei Babys und Wiegenliedern oder Musik im Allgemeinen ist, dass mitunter die Musik, die uns guttut, nicht die Musik ist, die wir möchten… Bei dem schreienden Baby erkennt Frank, dass es einen Song braucht, der das Tier in ihm wahrnimmt und für dieses einen sicheren Ort schafft. Nur dann kann das Baby schlafen. Aber jeder von uns ist anders. Was bei einem Menschen funktioniert, hat für den anderen keine Bedeutung. Frank weiß das.
Frank geht es gar nicht in erster Linie ums Plattenverkaufen, oder? Was liegt ihm wirklich am Herzen?
Anderen Menschen zu helfen. Zu heilen. Solange Frank andere Menschen heilt und ihnen hilft, muss er sich nicht mit der tiefen Wunde befassen, die er in sich trägt.
Hatten Sie erst die Lebenssituationen der einzelnen Leute im Kopf, die in Franks Laden kommen? Oder erst Musikstücke, die Sie unbedingt im Roman unterbringen wollten?
Für mich muss die Haupthandlung im Vordergrund stehen. Und das ist eine Liebesgeschichte, die zwei gebrochene Menschen völlig verwandelt. Im Kopf hatte ich viele Figuren, deren Geschichte ich erzählen wollte, und viele Musikstücke, die ich in die Handlung einbinden wollte. Aber wenn solche Ideen nicht in die Dynamik der Geschichte passen, muss man sich schlussendlich von ihnen verabschieden. Ich arbeite so lange an der Erzählstruktur und Plausibilität, bis alles stimmt.
Wer es bei Frank als gute Fee versucht, hat es verflixt schwer, wie Ilse Brauchmann feststellen muss. Warum verweigert er sich so hartnäckig allem, was mit Gefühlen und Veränderungen zu tun hat?
Ilse erkennt, dass man Gift mit Gift kurieren muss. Franks alte Wunde kann nur geheilt werden, indem er sich mit ihr auseinandersetzt. Aber genau das versucht er mit aller Kraft zu vermeiden. Es ist auch alles andere als leicht, sich zu ändern. Wir setzen alte Verhaltensmuster fort, einfach, weil wir es so gewohnt sind – und obwohl es uns Leid bringt. Dieser altbekannte Schmerz erscheint erträglicher als das Risiko einer Veränderung.
In der Unity Street ist Frank scheinbar nicht der einzige Gestrandete. Wie haben Sie die Ladenbetreiber wie Pater Anthony oder die Williams-Brüder vom Bestattungsinstitut und die Anwohner zusammengewürfelt?
Diese Art von Menschen zieht mich an. Diejenigen, die eher im Hintergrund stehen und sich vielleicht abmühen. Ich nehme das, was gebrochen ist – um es zu heilen.
Sie erzählen nicht nur die Geschichte des erwachsenen Frank, sondern auch von der Verzauberung durch Musik, die er durch seine Mutter erlebt. Was ist Ihnen dabei am wichtigsten?
Die Geister, die wir mit uns tragen.
Eine seiner schönsten Kindheitserinnerungen dürfte das gemeinsame Musikhören mit seiner Mutter sein – Beethoven-Sinfonien, auf dem Boden liegend. Wo hören Sie selbst am liebsten Musik?
Tatsächlich wie Frank und seine Mutter – auf dem Boden liegend, mit Kopfhörer. Das habe ich durch die Arbeit an meinem Roman für mich entdeckt. Sie sollten es unbedingt ausprobieren! Wir sollten das viel öfter tun. Wir versuchen, gleichzeitig andere Dinge zu erledigen, aber das ist nicht echtes Zuhören.
Welches Musik entspricht zur Zeit am meisten Ihrer Stimmung oder Ihrem Lebensgefühl?
Ich neige dazu, in bestimmten Phasen ein- und dieselben Songs oder Platten zu zu hören – und zwar ständig. Momentan sind das Nick Mulvey, die Partiten von Bach, James Brown und M83. Eine bunte Mischung.
Nicht zuletzt wirkt Ihr Roman wie eine Liebeserklärung an eine Zeit, in der man die Leute in der Nachbarschaft noch kannte. Was ist Ihnen in dem Zusammenhang wichtig?
Gemeinschaft und der Wert des Miteinanders in einer Zeit, in der es viel Spaltung gibt. Ich habe ja auch während der Brexit-Phase an dem Roman gearbeitet. Toleranz, Verständnis, Vergebung, Anteilnahme – das scheint mir gerade jetzt wichtig.