DIE ZEIT IST REIF: Zwar wurden viele Bücher über die deutsche Kanzlerin geschrieben, aber die hierzulande letzte ausführliche Biografie über Angela Merkel ist 2005 erschienen – und somit Aktuelles überfällig. Es gilt, Bilanz zu ziehen: über 16 Jahre Kanzler­schaft in einer Zeit der Krisen. Über Versäum­nisse und Verdienste, Weichenstellungen und Handlungsbedarf. Eine Heraus­forderung, der sich Ralph Bollmann stellt und die er mit Bravour meistert – als Erster, der zum Ende der Ära Merkel eine Gesamt­darstellung wagt: ein eindrucksvolles Porträt, gezeichnet mit kritischer Sympathie.

Als Sie in Berlin an der Humboldt-Universität Ihr Studium abschlossen, hätten Sie es kaum besser treffen können mit den Professoren: Heinrich August Winkler, Herfried Münkler und Bernhard Schlink. Wer hat Sie in welcher Weise geprägt? Was haben Sie mitgenommen?
Geprägt hat mich vor allem der historische Umbruch: In den frühen neunziger Jahren war die Geschichte in Berlin noch überall spürbar. An den Gebäuden rings um die Universität sah man die Einschusslöcher aus dem Krieg, auf den Fluren roch es nach dem Reinigungsmittel aus der DDR, und meine Wohnung heizte ich mit Kohle. Die familiäre Atmosphäre mit wenigen Studenten und vielen herausragenden Professoren kam hinzu.

Schon weil es auf eine Gemeinsamkeit mit Angela Merkel als Festspielbesucherin in Bayreuth verweist, wollen wir Ihre „Walküre in Detmold“ nicht übergehen. Was hat es damit auf sich und was ist Ihr persönliches Highlight in der Opernwelt?
Das Buch ist ein Porträt Deutschlands, erzählt entlang einer Reise zu den Opernhäusern, von denen die Bundesrepublik so viele hat wie kein anderes Land auf der Welt. Meine Vorliebe gilt vor allem den Häusern in den kleinen Städten, Neustrelitz zum Beispiel oder Meiningen. Die aufwändigste aller Kunstformen in einer Stadt mit etwas mehr als 20.000 Einwohnern, das ist wirklich etwas ganz Besonderes.

Welche Oper passt aus Ihrer Kennersicht am besten zum Ende der Ära Merkel?
Merkel selbst hat mal gesagt, dass „Tristan und Isolde“ ihre Lieblingsoper ist: Bei Richard Wagner treibe sie immer um, dass das bittere Ende schon von Anfang an durchscheint, vom ersten Ton an.

„Als die vertraute Welt einzustürzen drohte.“

Wie haben Sie Ihre allererste Begegnung als Journalist mit Angela Merkel in Erinnerung?
Das erste intensivere Erlebnis war ein Hintergrundgespräch im Kanzleramt während der Finanzkrise 2008: der Moment, als die vertraute Welt einzustürzen drohte. Man spürte die große Anspannung, und es war der Beginn von Merkels Karriere als Krisenkanzlerin.

Einst haben Sie das Verhältnis zwischen Angela Merkel und den Deutschen als Liebe auf den zweiten Blick bezeichnet. Wie würden Sie den Beziehungsstatus am Ende ihrer Kanzlerschaft nennen?
Ich weiß gar nicht, ob es eine Liebe auf den zweiten Blick war. Eher würde ich von einem sehr ungleichen Verhältnis sprechen: Die Mehrheit der Deutschen schätzte an Merkel, dass sie viele Zumutungen von ihnen fernhielt. Umgekehrt sah Merkel diese mangelnde Bereitschaft ihrer Wähler zur Veränderung äußerst kritisch. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

Was machte es für Sie interessant, Angela Merkel nun noch ein gewichtiges biografisches Werk zu widmen?
Seit Merkel im Jahr 2005 Kanzlerin wurde, hat niemand mehr eine vollständige Biografie geschrieben. Das fand ich erstaunlich, bei einer Figur der Zeitgeschichte von dieser Relevanz.

Was war Ihre wichtigste Regieanweisung an Sie selbst bei Ihrem Biografieprojekt?
Die Kanzlerin nicht isoliert zu betrachten, sondern im historischen Gesamtzusammenhang. Meine Biografie ist zugleich ein Buch über die Geschichte Deutschlands und des Westens im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.

Zur Zeit des Untergangs der DDR und der Wende 1989 war Angela Merkel 35. Wie hat sie diese Erfahrung eines epochalen Umbruchs geprägt?
Mehr, als es in Deutschland meist wahrgenommen wird. Merkel lebte immer in dem Bewusstsein, dass ein politisches und ökonomisches System auch untergehen kann. Das hat ihr in den Krisen seit 2008 sehr geholfen.

Angela Merkels Amtsantritt war eine Doppelpremiere für Deutschland: Im Kanzleramt war sie die erste Frau und die erste ehemalige DDR-Bürgerin. Wie bedeutend erscheinen Ihnen diese beiden Aspekte?
Im Politikbetrieb der Bundesrepublik war sie dadurch eine doppelte Außenseiterin: Sie konnte die Dinge mit mehr Distanz betrachten als der typische männliche Politiker, der schon mit 16 Jahren in die Junge Union eingetreten war. Das hat ihr manches erschwert, aber vieles erleichtert.

„Angela Merkel ist die Krisenkanzlerin.“

Mehrere von Merkels Vorgängern im Kanzleramt gingen durch weltpolitische Weichenstellungen in die Geschichte ein, z.B. Willy Brandt mit seiner Ostpolitik und Helmut Kohl durch die Wiedervereinigung. Wie sieht es bei Angela Merkel aus?
Sie ist die Krisenkanzlerin. Ihre historische Leistung besteht darin, dass sie Deutschland und Europa einigermaßen sicher durch die historischen Stürme der jüngeren Vergangenheit geführt hat: Bankencrash, Eurokrise, Ukrainekonflikt, Flüchtlinge, Corona, um nur die wichtigsten zu nennen.

Sie bezeichnen Helmut Kohl als „Herzenseuropäer“, Angela Merkel als „Vernunfteuropäerin“. Wie meinen Sie das?
Für viele Westdeutsche waren Frankreich oder Italien die Sehnsuchtsorte, die DDR-Bürgerin Merkel orientierte sich an der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten. Wie wichtig der Zusammenhalt innerhalb Europas ist, musste sie erst lernen.

Es wird hartnäckig behauptet, dass Krisen auch Chancen sind und man daran wachsen kann. Wie beurteilen Sie das bei Angela Merkels Kanzlerschaft?
Es stimmt: Merkels Kanzlerschaft fand ihren Sinn in der Bewältigung der großen Krisen, vor 2008 fehlten ihr Ziel und Richtung. Darin eine Chance zu sehen, entspricht aber nicht dem Denken Merkels. Die Eurokrise hat sie zum Beispiel nicht genutzt, um die Integration in Europa zu vertiefen.

Kaum eine Aussage Angela Merkels wird so oft zitiert wie die während der Flüchtlingskrise 2015 geäußerte Ermutigung „Wir schaffen das!“ Wie ordnen Sie das daraus resultierende Debakel ein?
Die Aufnahme der Flüchtlinge war kein Debakel, gescheitert ist allenfalls die Kommunikation. Da wurde der Kanzlerin allerdings auch mutwillig das Wort im Mund verdreht: Zu ihrem „Wir schaffen das“ gehörten von Anfang an auch Abschiebungen und die Sicherung der EU-Außengrenzen, nicht nur die humanitäre Geste.

„Ihre Amtszeit war geprägt von einer wachsenden Polarisierung.“

Wie beurteilen Sie die Entwicklung der internationalen Beziehungen während Angela Merkels Kanzlerschaft? Worin sehen Sie ihre Verdienste und Defizite?
Ihre Amtszeit war geprägt von einer wachsenden Polarisierung zwischen einem liberal-kosmopolitischen und einem national-protektionistischen Milieu, in Europa und darüber hinaus. Am Ende galt sie weltweit als eine Symbolfigur der liberalen Demokratie – zunächst eher wider Willen, aber sie hat die Rolle dann angenommen.

Die deutsche Kanzlerin sei seine „wohl engste Verbündete in den acht Jahren“ seiner Präsidentschaft gewesen, sagte Barack Obama, als seine Amtszeit zu Ende ging. Auch das Ende von Deutschlands guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika?
Nein. Man darf nicht vergessen, dass auch das Verhältnis zwischen Merkel und Obama am Anfang sehr schwierig war. Dass sie im Jahr 2017 noch mal angetreten ist, hing auch mit der Wahl Donald Trumps zusammen. Nachdem er das Weiße Haus verlassen hat, kann auch die Kanzlerin beruhigter abtreten.

Welche Lücke hinterlässt der Abschied Angela Merkels auf dem internationalen politischen Parkett?
Eine große, vor allem in Europa. Aber im Vergleich zu 2017 hat sich die Lage stabilisiert: Trump ist abgewählt, Europa hat den Brexit ganz gut überstanden. Anders als bei einem möglichen Abgang vor vier Jahren herrscht diesmal nicht das Gefühl vor, hier verlasse eine Lotsin das sinkende Schiff.

Umstritten ist Angela Merkels Status als „Klimakanzlerin“. Wo ordnen Sie sie zwischen „Fridays for Future“ und Kapitalistenlobby ein?
Im internationalen Maßstab war Merkel über lange Zeit einer der entschiedensten Vorkämpferinnen für den Klimaschutz, schon seit der Berliner Klimakonferenz von 1995, die sie als Umweltministerin leitete. Im Inland hat sie aber wenig dafür getan, diese Ziele auch umzusetzen.

Ein Klimawandel ist hierzulande auch gesellschaftlich festzustellen, ob in politischen Auseinandersetzungen oder auf der Straße. Welchen Anteil hat daran die Politik in der Ära Merkel und worin besteht nun der hauptsächliche Handlungsbedarf?
Ist das so? Klar: Die Flüchtlingspolitik hat zu einer gesellschaftlichen Polarisierung geführt, auch um Corona gab es Streit. Aber dieses Phänomen ist auch in anderen westlichen Gesellschaften festzustellen, das lässt sich nicht der deutschen Kanzlerin allein zuschreiben.

„Manche Versäumnisse sind ans Licht gekommen.“

Nicht wenig Kritik musste die Kanzlerin seit der Heimsuchung durch Corona einstecken. Zu Recht?
Bei Corona ist ihr Politikstil tatsächlich an Grenzen gestoßen. Nächtelang verhandeln, Kompromisse schließen, lange Papiere schreiben: Das passt nicht zu einer Krise, in der schnell gehandelt werden muss. Außerdem sind manche Versäumnisse ihrer langen Amtszeit ans Licht gekommen – ob es nun um die Bildung geht, um die Digitalisierung oder um die Altenpflege.

Betrachtet man die Cover von Politiker-Biografien, ist die staatstragende Pose nicht selten – im Gegensatz zu Ihrem Buch. Was spricht für die Wahl dieses Porträts? Wie deuten Sie Merkels Miene?
Staatstragend sollte die Anmutung des Buchs nun wirklich nicht sein. Wichtiger als Merkels zugewandtes Gesicht finde ich aber die Krawatte im Hintergrund: Das Foto symbolisiert, wie die Kanzlerin während ihrer gesamten Karriere von Männern umgeben war – und wie sie sich in diesem Umfeld behauptet hat.

Legendär ist Herlinde Koelbls Porträtband „Spuren der Macht“, ein Psychogramm, das als Langzeitstudie dokumentiert, wie sich Menschen in Machtpositionen verändern – darunter auch Angela Merkel. Wie ist Ihre Wahrnehmung ihrer Entwicklung?
Natürlich hat sie sich, wie andere Politiker auch, mit der Zeit eine Art Panzer zugelegt. Hätte Frau Koelbl ihre Porträtstudie bis in die Gegenwart fortgesetzt, wäre diese Entwicklung noch drastischer zu erkennen. Da zeigt sich eben auch die unglaubliche Anspannung durch das Amt, die einer Kanzlerin auch körperlich alles abverlangt.

„Einen solchen Hinweis hatte es noch nie gegeben.“

Was hat Sie in der langen Zeit, die Sie sich nun schon intensiv mit Angela Merkel befassen, am meisten überrascht?
Als sie 2015 in Bezug auf die Flüchtlinge sagte: Wenn wir uns für die Hilfeleistung in Notsituationen entschuldigen müssen, dann ist das nicht mein Land. Eine solchen Hinweis hatte es noch nie gegeben, dass nicht nur das Volk der Kanzlerin das Misstrauen aussprechen kann, sondern auch die Kanzlerin dem Volk.

Wie lautet Ihre Bilanz der Ära Merkel in zwei bis drei Sätzen?
Sie hat gewiss Reformen und Veränderungen versäumt, aber vermutlich war das der Preis einer langen Amtszeit, die Deutschland und Europa vor allem eines gebracht hat: Stabilität.