Ein Gralssucher des 21. Jahrhunderts, literarischer Abenteurer und Pionier der Erzählkunst in schwindelerregenden Sphären der Wissenschaft: Das sind nur einige der Facetten von Benjamín Labatut, einem der brillantesten Autoren unserer Zeit. International bekannt wurde er durch „Das blinde Licht“. Sein neues Meisterwerk: „MANIAC“ über das Genie John von Neumann & Co sowie die Ursprünge und die Zukunft der Künstlichen Intelligenz – und deren Chancen und Risiken für die Menschheit.

Passend zum KI-Bezug Ihres neuen Buches habe ich mir kurz von einer künstlichen Intelligenz assistieren lassen. ChatGPT weiß: „Labatut verbindet Fakten und Fiktion, um eine literarische Reflexion über die Grenzen des menschlichen Wissens und die ethischen Implikationen wissenschaftlicher Entdeckungen zu schaffen.“ Richtig? Wie würden Sie selbst es formulieren?
Ich interessiere mich für die verrückten Träume der Vernunft. Für Dunkelheit und Erleuchtung, für Singularitäten und kurze Einblicke in Dinge, die zu groß für unsere Vorstellungskraft sind. „MANIAC“ handelt von den Grenzen der Logik, von den Monstern, die unserer Suche nach Wahrheit entspringen, und von den vielen Wahnvorstellungen der Intelligenz – sei sie nun menschlich oder nicht –, aber vor allem von drei Menschen: einem gepeinigten Physiker, den die Melancholie und sein tiefes Bedürfnis, das letztlich Unerklärliche zu verstehen, umtreiben, einem einzigartigen Genie, das mit der Welt spielt wie ein kindlicher Gott, und einem Künstler, der von der Vision einer neuen Schönheit zerstört wird, nach der er sein ganzes Leben lang gesucht hat.

„Ich glaube, dass wir unseren „Geist“ wiederfinden müssen.“

Was genau haben Sie an der künstlichen Intelligenz so inspirierend oder beunruhigend gefunden, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?
Das Aufkommen einer neuen Form von Intelligenz ist wahrscheinlich die wichtigste Entwicklung der Neuzeit. Aber ich war schon mein ganzes Leben lang von ähnlichen Ideen besessen. Seit ich mit 15 Jahren „Ghost in the Shell“ von Mamoru Oshi gesehen habe, einen Film, in dem ein digitales Bewusstsein aus dem Meer von Informationen, in dem wir ertrinken, geboren wird, habe ich versucht, einen Weg zu finden, über eine solche Entwicklung zu schreiben. Ich kehre immer wieder zu diesem Film zurück, weil ich glaube, dass wir unseren „Geist“ wiederfinden müssen.

Wie bereits Ihr Erfolgsroman „Un verdor terrible / Das blinde Licht“ gezeigt hat, fühlen Sie sich in den schwindelerregenden Höhen der Physik, Mathematik usw. sehr wohl. Was fesselt Sie so an Wissenschaft? Welchen Phänomenen oder Fragen gilt Ihr Hauptinteresse?
Es ist nicht die Wissenschaft, die mich fasziniert, sondern die Welt an sich und vor allem die Teile davon, die auf das verweisen, was einst im Zentrum unseres Herzens und Verstandes stand – das Unsichtbare. Die Entdeckungen, die mich begeistern, sind diejenigen, die so geheimnisvoll erscheinen, dass wir sie vielleicht nie wirklich begreifen werden. Diese Dinge, die wir mit Worten umschreiben und mit Zahlen und Instrumenten auseinander nehmen, passen nicht wirklich in unseren Kopf. Wir tun nur so, als ob, aber sie sind so seltsam, fremd und mächtig, dass sie an den Anfang zurückführen. Zu den Ritualen der vedischen Kultur. An den Altar des Feuers.

Soweit wir wissen, sind Sie Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, aber nicht unbedingt ein technischer Tüftler oder Algorithmus-Zauberer im professionellen Sinne. Welche Strategien wenden Sie an, um die komplexeren Bereiche der Naturwissenschaften zu erfassen?
Da der Kern der Literatur das Delirium ist, bevorzuge ich die Strategien des Unbewussten. Besessenheit, Inbrunst, Rituale. Ich bin der Meinung, dass Bücher etwas in einem entflammen sollten, aber ich bin in keiner Weise ein Gelehrter. Ich bin allerdings ein Zauberlehrling. Dank Leuten wie Alan Moore, Mario Levrero, Robert Anton Wilson, William Burroughs und Grant Morrison habe ich mich für die Chaosmagie interessiert und sie eine Zeit lang praktiziert, wobei mir fast das Hirn platzte. Den Verstand ein wenig zu verlieren ist eine Art Abkürzung. Man entwickelt plötzlich ein Gefühl für die Leere, Komplexität wird vertraut, Dinge, die normalerweise keinen Sinn ergeben, erscheinen in großer Klarheit. Irrationalität kann dich zerstören, aber sie kann dich auch öffnen. Sie kann dich lehren, gegensätzliche und widersprüchliche Standpunkte in Betracht zu ziehen. Sie kann dir zeigen, dass die Unendlichkeit überall ist.

„Alle Bücher sollten eine Warnung sein. Aber wovor?“

Dass wir uns nun auf einiges gefasst machen können, signalisiert Ihr Buchtitel „MANIAC“. Eine Warnung? Oder eher eine der Grundvoraussetzungen, um Grenzen zu sprengen? Vielleicht ein bisschen von beidem?
Burroughs sagte, dass alle Bücher eine Warnung sein sollten. Aber wovor? Davor, dass wir eine von sich selbst verfolgte Spezies sind. Grenzen zu überschreiten ist ein Weg, um voranzukommen, ja, aber meine Erfahrung ist, dass die Dinge wirklich seltsam werden, wenn das tatsächliche Gefüge der Realität gegen einen zurückstößt. Das ist der Moment, in dem wahre Veränderung geschieht. Und um sich dem zu stellen und es zu verstehen, brauchen wir manische Perspektiven und die Weisheit, die wir verloren haben, als der große Gott Pan starb.

Den ersten Teil von „MANIAC“ widmen sie dem Physiker Paul Ehrenfest. Warum?
Das Buch beginnt mit Paul, weil Paul ein Prophet ist. Ein Mann, der leidet, der seine Grenzen kennt und doch ahnen kann, was darüber hinausgeht. Er liegt mir sehr am Herzen, denn als ich jung war, litt auch ich unter einem seltsamen Bedürfnis „zu wissen“. Doch mit der Zeit erkennt man, dass die Welt nicht gezähmt werden kann. Dass es eine große innere Dunkelheit gibt, und dass es Dinge gibt, die einem immer entgehen werden. Wenn man sich dem ohne den illusorischen Trost des Glaubens stellt, kann man leicht in Nihilismus und Verzweiflung verfallen, wie Paul es tat. Weisheit erfordert, mit den Gegensätzen Frieden zu schließen. Mit der Stille, mit der Ungewissheit, mit der Leere. Wahrheit und Chaos müssen, wie alle Dinge, tief in unserem Herzen in liebevollem Widerspruch zusammengehalten werden.

Drei Dutzend Größen der europäischen Physik führten 1932 im Kopenhagener Niels-Bohr-Institut eine Parodie von Goethes Faust auf – mit Paul Ehrenfest in der Titelrolle. Selbstironie? Oder ein Symbol dafür, wie groß die Gefahr eines Paktes mit Mephistopheles ist?
Wer weiß, was diese Physiker in der langen Dunkelheit einer dänischen Nacht getrieben haben? Aber eines ist sicher: Was auch immer sie mit dieser Beschwörung aus Goethes Faust auf die Erde gerufen haben, davon haben wir uns noch nicht erholt.

„Über die Welt nachdenken, die wir in den kommenden Jahrzehnten bewohnen werden.“

Die zentrale Figur von „MANIAC“ ist John von Neumann. Welchen Stellenwert hat er nicht nur in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sondern vermutlich auch in der Menschheitsgeschichte insgesamt?
Unter uns Menschen ist John von Neumann wohl derjenige, der am ehesten einer übermenschlichen Intelligenz gleichkommt. Er war ein absolut einzigartiges menschliches Wesen. Die Betrachtung seines Lebens, seiner Arbeit, seiner Genialität, seiner Schwächen und der zahlreichen Auswirkungen, die er auf Wissenschaft und Technologie hatte, ist eine Möglichkeit, über die Welt nachzudenken, die wir in den kommenden Jahrzehnten bewohnen werden. Denn ob es uns nun gefällt oder nicht, es scheint ziemlich wahrscheinlich, dass wir es bald mit Intelligenzen zu tun haben werden, die nicht nur mit unserer eigenen konkurrieren, sondern sie vielleicht sogar übertreffen.

Als Autor nehmen Sie Ihre Protagonisten sehr genau unter die Lupe, nehmen dabei die unterschiedlichsten Perspektiven ein und versetzen sich in die Lage eines Psychoanalytikers oder eines Risikoforschers. Was ist Ihnen dabei wichtig?
Die Psychologie der Menschen, über die ich schreibe, interessiert mich nicht. Ich mag Ideen und baue alles um sie herum auf. Was die Menschen denken und fühlen, ihre Ansichten über die Welt, die Eigenheiten dieser Figuren, all die Kleinigkeiten, die die Seiten so vieler Romane füllen, interessieren mich kaum. Ich beziehe einige dieser Aspekte in meine eigenen Bücher ein, denn die Fiktion hat gewisse eiserne Regeln, aber ich versetze mich nicht in die Gedanken der Figuren. Aber ich nutze manchmal ihre Stimmen, weil das in der Prosa viel wichtiger ist. Stimme, Rhythmus, Kadenz; Prosa, die sich selbst schreibt. Intensive Erlebnisse, verblüffende Entdeckungen, seltsame Visionen, dunkle Träume und helle Albträume – das ist alles, worüber ich schreiben möchte.

Was macht John von Neumann zu einer Ausnahmeerscheinung und gleichzeitig zu einem Rätsel für seine Zeitgenossen?
Es gibt nur sehr wenige Menschen, die einen so großen Einfluss auf die moderne Welt hatten wie von Neumann. Seine Beherrschung der Logik, die Schnelligkeit seines Verstandes, ist wahrscheinlich bis heute unerreicht. In „MANIAC“ habe ich mich dafür entschieden, ihn aus der Ferne zu porträtieren, vergleichbar mit dem Bild eines Gottes oder eines Monsters, weil wir auf diese Weise seine Größe, seine Stärke und seinen Einfluss wirklich erfassen können. Für mich hat sein Freund Eugene Wigner ihn in einem glorreichen Satz zusammengefasst: „Nur er war völlig wach.“ Seit ich das gelesen habe, wuchs in mir langsam das Bild von von Neumann als eine Art Halbgott der Wissenschaft, einer kleinen Gottheit, die mit gefährlichen Ideen spielte und eine so fortgeschrittene Form der Intelligenz besaß, dass es fast so aussieht, als wäre er eine KI gewesen, bevor es so etwas gab.

„was in diesen Spielen passiert, ist die erste Welle …“

Im dritten Teil von „MANIAC“ kommt es zum Duell der Superhirne, nämlich dem weltbesten Go-Spieler Lee Sedol und der künstlichen Intelligenz „AlphaGo“. Welche Bedeutung hat dieses Kräftemessen im Hinblick auf die Geschichte der Menschheit?
Ich glaube, dass das, was in diesen Spielen passiert, die erste Welle ist, von der etwas wirklich Grundlegendes ausgehen wird. Die Steine, die Lee Sedol und AlphaGo gelegt haben, sind (in Abwandlung eines Zitats von Bruno Schulz, einem meiner Lieblingsschriftsteller) der Auftakt zu einem Ereignis, das in seinem Ursprung vielleicht klein und unbedeutend war, das aber, wenn es in unsere Nähe gerückt wird, in seinem Zentrum eine unendliche und strahlende Perspektive eröffnen kann, weil eine höhere Ordnung des Seins versucht, sich darin auszudrücken, und so strahlt es heftig aus.

Das letzte Wort Ihres Buches ist „AlphaZero“. Eine Prophezeiung? Auf welche Art von Veränderungen sollten wir uns gefasst machen?
Bücher sind Warnungen, aber sie sind auch lange Zaubersprüche, für die man Jahre braucht. Ich glaube nicht an Prophezeiungen (oder zumindest nicht an genaue), aber ich glaube an Rituale. Wir schreiben Dinge in die Welt. AlphaZero ist die kleinste Version der Unendlichkeit.

„ChatGPT ,sagt‘ nicht, es ,macht‘.“

ChatGPT sagt: „Die Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI könnte zu Synergien führen …“ Was sagen Sie? Wie zuversichtlich sind Sie? Welche Rolle werden die Maschinen der Zukunft unserer Spezies künftig zugestehen?
Wir sollten fast nichts von dem, was ChatGPT sagt, beachten, es sei denn, wir modifizieren das Verb: ChatGPT „sagt“ nicht, es „macht“. Das ist ein sehr bedeutender Unterschied. Maschinen sollten unserer Spezies niemals Rollen zuweisen. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Dinge grandios vermasseln werden – wozu wir ja auch neigen. Und dann werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um zu überleben. Und darin sind wir ziemlich gut. Ich würde die Menschen noch nicht abschreiben. In uns steckt viel mehr als nur das Licht der Intelligenz. Wir haben einen Schatten, der länger, älter und grundlegender ist. Diese Maschinen haben vorerst keinen Geist, obwohl wir die Möglichkeit nicht ausschließen können, dass etwas Ähnliches in ihnen entstehen wird.

Was ist der gemeinsame Schlüsselmoment oder die verbindende Erfahrung oder Erkenntnis in den drei Teilen Ihres Buches?
Ich habe das Gefühl, dass es eine klare Linie gibt – die Geburt einer neuen Rationalität oder eines subtilen, aber mächtigen Einflusses –, die Paul vorschwebt, die in Johns sprunghaftem Aufstieg aufblüht und in Lee Sedols Kampf gegen die KI gipfelt. Aber ich würde es nie benennen, weil ich noch nicht genau weiß, was es ist. Ein Phantom. Ein Eindruck. Guy Davenport hat einmal erklärt, dass jede Kraft eine Form entwickelt. Es ist also nur eine Frage der Zeit. Wenn wir wirklich Zeuge der Geburt von etwas Mächtigem sind, wird es irgendwann eine Form annehmen. Und dann werden wir vielleicht seinen Namen und seine Natur kennen.