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Ein Lyrik-Klassiker, der ganz am Puls unserer Zeit ist und uns allen aus dem Herzen spricht: Solchen Seltenheitswert hat „Der ewige Brunnen“, in dem seit seiner Premiere im Jahr 1955 Millionen LeserInnen deutschsprachige Lyrik für sich entdeckten. Nun überrascht das Erfolgsprojekt in der druckfrischen Ausgabe – für unsere Gegenwart grundlegend erneuert von Herausgeber Dirk von Petersdorff, einem der renommiertesten Lyrik-Kenner hierzulande und selbst Poet. Ein funkelnd facettenreicher Kanon mit frischen Stimmen!
Was macht Gedichte für Sie bedeutsam oder vielleicht sogar zum Lebenselixier?
Gedichte verbinden Sprache und Musik miteinander, erzeugen Sprachmusik. Und sie stabilisieren mich in Herausforderungen des Lebens, wenn ich ratlos oder unruhig bin. Aber genauso verhelfen sie Gefühlen der Freude zum Ausdruck.
Welchen Status hat „Der ewige Brunnen“ unter den Gedichtsammlungen? Was macht ihn zu etwas Besonderem?
Die Gedichte sind im „Brunnen“ nach Lebenssituationen geordnet, das war die Idee des ersten Herausgebers, ursprünglich war es sogar eine Idee von Goethe. Hier gibt es Gedichte zu den Phasen des Lebens von der Kindheit bis zum hohen Alter, es gibt Gedichte für die Einsamkeit wie die Geselligkeit, Gedichte zum Lachen genauso wie Gedichtzeugnisse aus dem Krieg.
In seiner langen Erfolgsgeschichte hatte „Der ewige Brunnen“ verschiedene Untertitel. Erst „Volksbuch“, dann „Hausbuch“. Wie würden Sie Ihre Neuausgabe nennen und welcher Wunsch oder welche Hoffnung ist damit verbunden?
„Hausbuch“ ist eigentlich ein sehr schönes Wort. Das Problem ist nur, dass Menschen in unserer Zeit zu oft die Häuser wechseln. Der neue „Brunnen“ sollte bei jedem Umzug mitgenommen werden, als wichtiges Gepäck.
Die Neuausgabe vereint 1.200 Gedichte und Songs zu allen Lebenslagen. In welchen Situationen bewährt er sich als Lebensbegleiter?
Zum Beispiel, wenn man auf einer Feier für einen lieben Menschen ein paar Worte sagen möchte: Das können auch Verse eines Gedichts sein! Oder wenn man nicht weiß, ob man an etwas Höheres glauben soll, dafür gibt es das Kapitel „Glaube und Zweifel“.
„Meine Mutter hatte ihn im Bücherregal stehen.“
Wann und wie ist „Der ewige Brunnen“ für Sie selbst zum Lebensbegleiter geworden?
Meine Mutter hatte ihn im Bücherregal stehen, sie konnte auch sehr viele Gedichte auswendig.
Die Welt, unsere Wahrnehmung, unsere Werte: Alles ist im Wandel und das gefühlt immer schneller. Wie passt dazu „Der ewige Brunnen“?
Gerade in diese Welt des Wandels passt der „Brunnen“. Denn Gedichte sind Haltepunkte. Auch dort, wo sie selbst vom Wandel sprechen, geben sie dem Fließenden eine Form.
Bitte vollenden Sie den folgenden Satz: „Der ewige Brunnen“ ist nicht in Stein gemeißelt …
Sondern in der unendlichen Weisheit des Universums verwurzelt. Das ist der Vorschlag einer KI, diesen Satz zu vollenden, nicht schlecht, oder?
Wie haben Sie Ihre Aufgabe als Herausgeber interpretiert? Mit welchen Hauptanliegen oder Zielsetzungen haben Sie sich ans Werk gemacht?
Ich wollte den „Ewigen Brunnen“ verjüngen, also an meine Vorgänger anschließen und neue Impulse hineinbringen.
Wie sind Sie vorgegangen? Welches Lese- und vielleicht Hörpensum haben Sie für Ihre Neuausgabe absolviert?
Zuerst habe ich den bisherigen Bestand gesichtet und überlegt, welche Gedichte auch in die Neuausgabe hineinsollen. Dann habe ich die Werke zahlreicher Autorinnen und Autoren vom Mittelalter bis in die Gegenwart nach möglichen Neuaufnahmen durchgesehen: von Walther von der Vogelweide über Annette von Droste-Hülshoff bis zu Ernst Jandl. Ich hatte einige Jahre Zeit, und das war ein großes Vergnügen.
Wie erlesen Sie sich eigentlich Gedichte? Laut oder leise? Erst mal am Stück oder wägen Sie Wort für Wort ab? Was bewährt sich am besten?
Unbedingt auch laut lesen, würde ich empfehlen, weil sich nur so das volle Klangerlebnis einstellt. Und mehrmals lesen natürlich, manchmal auch mit dem Abstand von Jahren dazwischen, dann entdeckt man in einem bekannten Gedicht wieder etwas Neues.
„Vom höchsten Pathos bis zur größten Albernheit.“
Welche Namen sind beispielhaft für die Bandbreite des neuen „Ewigen Brunnen“?
Vom höchsten Pathos bis zur größten Albernheit ist für alles Platz, also von Friedrich Hölderlin bis zu Robert Gernhardt.
Wie hoch ist der Anteil an Neuaufnahmen? Worauf haben Sie dabei Wert gelegt?
Etwa die Hälfte des Bestands ist neu. Die Vielfalt der dargestellten Lebenssituationen und Gefühle sollte erhöht werden. Natürlich die Zahl der Autorinnen. Die Gegenwart ist stärker vertreten, aber nicht einseitig, denn ich kann auch in einem mittelalterlichen Gedicht etwas finden, was mich ganz direkt packt.
Sie haben eine Premiere gewagt und erstmals Songtexte aufgenommen. Was spricht aus Ihrer Sicht dafür?
Die Erfahrung, dass Sprache einen Rhythmus bekommen und lustvoll wirken kann, machen viele Menschen das erste Mal beim Hören und vielleicht auch Mitsingen von Songs. Viele Menschen empfinden beim Hören von Songs eine tiefe Übereinstimmung mit dem eigenen Leben. Dann muss man nur noch fragen: Ist ein Songtext interessant genug, um ihn auch ohne Musik in einer Gedichtsammlung abzudrucken?
„Die weibliche Perspektive fehlt in den meisten Lyrikanthologien.“
Zu den weiblichen Neuaufnahmen zählen Marlene Dietrich und Judith Holofernes von „Wir sind Helden“. Was macht Ihnen diese künstlerischen Positionen wichtig?
Beide sprechen aus einer weiblichen Perspektive sehr eigenwillig über Liebe. Solche Stimmen fehlen in den meisten Lyrikanthologien, aber sie gehören unbedingt hinein.
Was hatten Sie bei der Aktualisierung des Themenspektrums im Blick und was sind für Sie die wichtigsten Ergänzungen?
Beginnen wir mit den schwierigen Themen: Wir haben ein Kapitel mit dem Titel „Krieg, Flucht, Vernichtung“ neu aufgenommen. Ein anderes Beispiel: „Aufbrüche, Umbrüche“ heißt ein neues Kapitel, weil in den Lebensgeschichten gegenwärtiger Menschen diese Situationen verstärkt auftreten.
Und wird ein Verstoß dagegen geahndet?
Ja, die Nichteinhaltung wird mit bis zu 245 € oder 368 $ bestraft. Genauso wichtig in sind mittlerweile auch Âçcèñtë, die in neueren Schriften aber fast immer enthalten sind. Ein wichtiges aber schwierig zu integrierendes Feld sind OpenType-Funktionalitäten. Je nach Software und Voreinstellungen können eingebaute Kapitälchen, Kerning oder Ligaturen (sehr pfiffig) nicht richtig dargestellt werden. Dies ist ein Typoblindtext. An ihm kann man sehen, ob alle Buchstaben da sind und wie sie aussehen. Manchmal benutzt man Worte wie Hamburgefonts, Rafgenduks oder Handgloves, um Schriften zu testen. Manchmal Sätze, die alle Buchstaben des Alphabets enthalten – man nennt diese Sätze »Pangrams«. Sehr bekannt ist dieser: The quick brown fox jumps over the lazy old dog.
In den einzelnen Themenbereichen präsentieren Sie die Gedichte nicht etwa in chronologischer Reihenfolge vom Mittelalter bis zur Moderne. Was erscheint Ihnen spannender und aufschlussreicher?
Die chronologische Ordnung wäre natürlich möglich gewesen, aber ich wollte zum Beispiel in dem sehr umfangreichen Kapitel „Höhen und Tiefen der Liebe“ die Gedichte nach Liebessituationen gruppieren: von der ersten Liebesbegeisterung bis zum Rückblick auf eine vergangene Liebe. Außerdem ergibt das Nebeneinander von Alt und Neu verblüffende Einsichten: So wie Oswald von Wolkenstein im Mittelalter seinen alten Körper betrachtet, führt auch Udo Lindenberg ein Gespräch mit seinem „Body“.
„Annette von Droste-Hülshoff will glauben und kennt alle Zweifel am Glauben.“
„Glaube und Zweifel“ beschäftigt uns nicht erst heute. Welche Namen und Werke sind exemplarisch für die Vielfalt an Perspektiven?
Das ist richtig: Schon Goethe lässt seinen „Prometheus“ erklären, dass man sein Leben ohne Götter führen soll. Besonders eindringlich finde ich zum Beispiel die Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs, denn diese Autorin will glauben und kennt alle Zweifel am Glauben. Aber auch in der Gegenwart gibt es Dichter wie den vor kurzem verstorbenen Hans Magnus Enzensberger: Er wollte sich bei irgendjemandem da oben für sein Leben bedanken.
Haben Sie das erste Gedicht, mit dem Sie ein Herz zu erobern hofften, selbst geschrieben oder von einem berühmten Dichter entliehen? Wie war die Wirkung?
Das ist ein Geheimnis, das kann ich hier nicht verraten. Aber im „Brunnen“ finden sich zahlreiche Gedichte aus allen Jahrhunderten, mit denen man einem anderen Menschen die eigene Liebe gestehen kann, so viel kann ich verraten.
Wer sich an einen neuen Kanon wagt, wird automatisch an den Vorgängern gemessen. Wie stehen Sie dazu?
Das ist völlig in Ordnung. Ich trete aber nicht gegen meine Vorgänger an, sondern führe ihre Arbeit fort. Jeder Herausgeber steht in seiner Zeit und muss für diese Zeit die richtigen Entscheidungen treffen.
Was macht es für BesitzerInnen früherer Ausgaben sogar spannend, sie mit dem neuen „Ewigen Brunnen“ zu vergleichen? Was lässt sich ablesen?
Auf die Reaktionen älterer Leserinnen und Leser bin ich sehr gespannt. Mir haben immer wieder Menschen, die heute um die 80 Jahre alt sind, gesagt: „Der ewige Brunnen, das war meine erste Begegnung mit Gedichten“. Ich hoffe, dass diese Lesergruppe nicht zu viel vermisst und manche Neuaufnahmen findet, denen sie zustimmen kann.
Welches lyrische Bekenntnis oder welche Botschaft würde Ihnen als Schlusswort gefallen? Vielleicht – trotz allem – ein Zitat voll Zuversicht und Lebensfreude?
Ein frommer Wunsch Goethes: „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände.“