Die begnadete Erzählerin Dörte Hansen begeistert LeserInnen und LiteraturkritikerInnen gleichermaßen. Ihr Debütroman „Altes Land“ wurde 2015 zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ gekürt und überdies SPIEGEL-Jahresbestseller 2015 –wie auch 2018 ihr zweiter, doppelt preisgekrönter Roman „Mittagsstunde“. Nun spürt die Autorin aus Husum in ihrem dritten, langerwarteten Roman „Zur See“ der Liebe zum Meer und der Inselsehnsucht nach.

Seit März dieses Jahres sind Sie Stadtschreiberin in Mainz. Wie erleben Sie das „Umtopfen auf Zeit“, wie Sie es bei Ihrer Antrittsrede genannt haben? Was ist für Sie das Spannende und Beflügelnde daran?
Ich wusste so gut wie nichts über Mainz, bevor ich Stadtschreiberin wurde. Die Stadt war für mich wirklich ein unbeschriebenes Blatt, und das hat für eine Schriftstellerin natürlich einen großen Reiz! Mittlerweile habe ich dort ein bisschen Zeit verbracht, Konzerte und Ballettaufführungen erlebt, einen Jazzclub entdeckt, den Rhein und den Alten Jüdischen Friedhof kennengelernt – und vor allem sehr gastfreundliche und aufgeschlossene Mainzerinnen und Mainzer, die ihre StadtschreiberInnen wirklich feiern. Man hat es sehr gut dort als norddeutsche Kulturpflanze.

Wie sehr vermissen Sie als Husumerin in Mainz das Meer, Frau Hansen? Was fehlt Ihnen am meisten?
Tatsächlich fehlt mir im Moment gar nichts. Ich kann ganz gut mal ein paar Wochen ohne die Nordsee sein – und die Nordsee ohne mich!

Welche landschaftlichen Szenarien und Stimmungen sprechen Sie literarisch am stärksten an?
Ich brauche anscheinend immer eine Landschaft, an der ich mich abarbeiten kann. Einsamkeit und schlechtes Wetter inspirieren mich eindeutig mehr als das Idyllische und das Urbane. Manchmal wünschte ich, es wäre anders. Aber dass ich mal einen Provence-Roman oder ein New York-Buch schreiben werde, ist eher unwahrscheinlich, fürchte ich.

„Das Zweifeln und das Hadern gehören einfach zu meinem Schreiben.“

„Nach „Mittagsstunde“ haben Sie die Hoffnung geäußert, „dass der Druck, wenn ich ein drittes Buch in Angriff nehme, nicht noch schlimmer werden kann“. Was löst den größten Druck aus und wie erging es Ihnen beim Schreiben Ihres dritten Romans „Zur See“?
Der Druck wurde nicht schlimmer, aber viel leichter als beim zweiten Buch war es beim dritten jetzt auch nicht. Das Zweifeln und das Hadern gehören einfach zu meinem Schreiben, fürchte ich. Und der Druck ist selbstgemacht.

Was waren für Sie die wichtigsten Schreiberfahrungen bei „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, die in „Zur See“ einflossen?
Ich habe festgestellt, dass mir Erfahrung wenig nützt. Ich fange immer wieder bei Null an. Beruhigend war aber das Wissen, dass ich immerhin schon zwei Bücher geschrieben habe, ohne durchzudrehen oder hinzuschmeißen. Es gab also Grund zur Hoffnung, dass es ein drittes Mal gelingen könnte.

In „Mittagsstunde“ haben Sie die Kapitel mit Songtiteln überschrieben. Was macht Ihnen Musik literarisch wichtig und welche Rolle spielt sie in Ihrem neuen Roman „Zur See“?
In „Mittagsstunde“ gibt es so etwas wie den Soundtrack eines Dorfes. Marret Feddersen, die halb verrückte Dorfkassandra, liebt Schlager, der alte Gastwirt hört Marschmusik, der junge Ingwer Feddersen hält mit Neil Young dagegen, und die Neuankömmlinge aus Berlin singen Bella Ciao. Musik kann im Roman eine weitere Erzählebene sein. Im neuen Roman nimmt sie viel weniger Raum ein, aber für eine der Figuren ist Heavy-Metal-Musik sehr wichtig.

Welche Bedeutung hat Musik in Ihrem eigenen Leben?
Ich kann eindeutig besser zuhören als musizieren! Aber in meiner Familie wurde immer viel gesungen, und das tue ich heute noch gern.“

„Was zieht den modernen Menschen eigentlich so sehr ans Meer?“

„Wie entdecken Sie Ihre literarischen Erzählstoffe? Was muss ein Thema bei Ihnen auslösen, um vielversprechend genug für einen Roman zu sein?
Es sind eigentlich immer Themen oder Fragen, die mich über eine lange Zeit beschäftigen. Bei „Altes Land“ war es die Frage, was Zugehörigkeit bedeutet. Bei „Mittagsstunde“ ging es um das Thema Verlust und die Frage, was seit den 1960ern eigentlich mit den Dörfern und den Dorfmenschen passiert ist. Und im neuen Roman „Zur See“ gehe ich der Frage nach, was den modernen Menschen eigentlich so sehr ans Meer zieht. Was suchen und was finden wir, wenn wir auf eine Insel fahren?

Was brachte Sie auf die Idee zu Ihrem neuen Roman „Zur See“?
Der Ausgangspunkt war meine eigene Faszination für die See und die Frage: Woher kommt das? Das Meer ist ein gefährliches Element für uns Menschen, wir kommen sehr schnell um darin. Warum vergöttern wir es so?

Über „Mittagsstunde“ haben Sie gesagt, dass es Ihnen weniger um Heimat als um Herkunft geht. Wie ist es denn bei Ihrem neuen Roman „Zur See“?
In meinen ersten beiden Romanen ging es um Herkunft und um Prägungen. In „Zur See“ stelle ich den Mythos der Prägung eigentlich in Frage. Wenn Menschen von Walfängern und Seemannsfrauen abstammen und seit Generationen auf einer Insel leben, dann unterstellen wir ihnen bestimmte Eigenschaften, zumindest aber eine besonders enge Verbindung zur See. Was, wenn das gar nicht stimmt?

Im Mittelpunkt steht die schon seit vielen Generationen auf der Insel beheimatete Familie Sander. Wie kamen Sie auf diesen Protagonistenkreis und was sind das für Menschen?
Ich brauchte für das, was ich erzählen wollte, eine Familie, die auf der Insel verwurzelt ist. Die Männer der Familie Sander sind immer zur See gefahren, die Frauen immer auf der Insel geblieben. Und plötzlich gelten die alten Gesetze nicht mehr. Der Vater und die Söhne können oder wollen nicht mehr auf ein Schiff, die Tochter kann nicht auf der Insel bleiben, und die Mutter will keine wartende Seemannsfrau sein.“

„An jeder Hand ein Elternteil, an jedem Bein ein Bruder.“

„Welchen gemeinsamen Anker gibt es im Leben der Familie Sander? Oder driften alle in unterschiedliche Richtungen?
Eske, die Tochter, fürchtet das Auseinanderdriften der Familie Sander und versucht es zu verhindern. Sie hält zu ihren Eltern und zu beiden Brüdern die Verbindung: „an jeder Hand ein Elternteil, an jedem Bein ein Bruder.“

Welche Rolle hat Hanne Sander und was an ihr ist charakteristisch für eine Inselfrau?
Hanne Sanders hütet sich vor dem, was sie die Krankheiten des Wartens nennt. Sie tut alles, um nicht in die Rolle der winkenden, sehnenden, wartenden Seemannsfrau zu geraten.

Zum Meer hat jeder in der Familie Sander ein anderes Verhältnis. Welche Sicht auf das Meer entspricht am ehesten Ihrer eigenen?
Mir geht es in dem Punkt so wie Eske: Es zieht mich an die See und in die Wellen, aber nie ganz ohne Furcht vor dem, was in der Tiefe ist.

Würden Sie sagen, Hannes drei erwachsene Kinder sind fest verankert?
Henrik, der Treibgutsammler, scheint genau zu wissen, wo er hingehört. Er bleibt sein Leben lang der Junge, der zum Strand geht. Ryckmer, der Älteste, hat buchstäblich Schiffbruch erlitten und kämpft sich langsam wieder hoch. Und Eske traut sich nicht, die Insel zu verlassen. Die beiden Ältesten sind absolut nicht fest verankert, sie schwimmen.“

„Ein Bild von einem Seemann.“

„Zur See“ beginnt mit dem Bild von einem waschechten Seemann. Was hat es mit Ryckmer Sander und seiner Traditionsrolle auf sich?
Er ist genau das – ein Bild von einem Seemann. Er sieht so aus, wie sich die Leute, die vom Festland kommen, einen Seemann vorstellen. In Wirklichkeit ist er längst keiner mehr.

Hannes jüngster Sohn Henrik ist der erste und einzige Mann in der Familie, den es nicht zur See zieht.
Henrik ist außerdem die einzige Figur in diesem Roman, von dem es keine „Innenansicht“ gibt. Ich beschreibe ihn ausschließlich aus der Sicht der anderen, weil er im toten Winkel der Familie aufgewachsen ist.

Hannes Tochter Eske sieht die Inselkultur durch die Touristenströme bedroht. Zu Recht?
Ob zu Recht oder zu Unrecht, das kann und will ich nicht beurteilen. Sie hat das Gefühl, dass die Inselleute sich selbst und ihre Kultur vermarkten, dass sie sozusagen mit den Seefahrermythen handeln, und Eske hält das nicht gut aus.

Gelegentlich kommen auch Studierende auf die Insel – in der Hoffnung, Einheimische zu finden, die noch Platt beherrschen.
Nein, es geht nicht um Platt! Es gibt auf dieser Insel eine alte nordseegermanische Sprache, die aber nicht benannt wird. Es könnte eine Variante des Dänischen, Friesischen oder Niederländischen sein, aber Plattdeutsch kommt in diesem Buch ausnahmsweise mal nicht vor.