Mit großem Bedauern haben wir heute von Hannelore Elsners Tod erfahren. In bester Erinnerung ist uns bis heute das Exklusiv-Interview, das wir mit ihr im Sommer 2011 führen durften. Für alle Interessierten präsentieren wir unser damaliges Gespräch hier zum Nachlesen:

Als Schauspielerin mit Leib und Seele begeistert Hannelore Elsner das Publikum seit 50 Jahren. Alle namhaften Auszeichnungen vom Grimme-Preis über den Bambi bis zum Deutschen Filmpreis hat sie schon erhalten. Und trotzdem hat sie noch immer Lampenfieber, besonders bei großen Ereignissen wie der Verleihung des Bayerischen Filmpreises. Gewürdigt wurde sie als „Ausnahmeerscheinung und Grande Dame des Kinos“. Hannelore Elsner, gleichermaßen überzeugend als Komödiantin und Charakterdarstellerin, versteht den „Ehrenpreis“ als Zukunftspreis – schließlich ist sie noch „mittendrin“ und offen für Neues. Wir sprachen mit der Künstlerin über ihr erstes Buch „Im Überschwang“.

Viele bekannte Persönlichkeiten überlassen es einem professionellen Autor, ihre Biografie zu schreiben. Sie nicht. Warum war es Ihnen so wichtig, selbst Ihre Lebensgeschichte zu erzählen?
Es ist ja schon viel von anderen Leuten über mich geschrieben worden. Darin habe ich mich aber oft nicht wiedererkannt. Das war nicht mein Ton, nicht meine Melodie. Die Idee, irgendjemand könnte meine Biografie schreiben, habe ich noch nie gemocht. Zusammen mit einem anderen Menschen hätte ich auch gar nicht so tief in mein Leben eindringen können.

Als Schauspielerin sind Sie es seit gut 50 Jahren gewohnt, sich in die Lebensgeschichten, Gefühle und Gedanken anderer hineinzuversetzen. Was für eine Erfahrung war es für Sie, sich nun bei der Arbeit an Ihrem Buch so intensiv mit Ihrem eigenen Leben auseinanderzusetzen und mit allen Höhen und Tiefen konfrontiert zu sein?
Mit mir selbst bin ich eigentlich immer konfrontiert. Den Erfahrungsschatz, den ich in mir trage, bringe ich ja auch in meine Rollen ein. Wie ich meine Rollen spiele, kommt nicht von außen und nicht nur durch Einfühlungsvermögen, sondern es kommt aus meinem Leben. Es gibt so viele Dinge in mir, die ich – so komisch das klingen mag – verwenden kann. Ich kenne so viele Empfindungen, große und kleine. Mit dem, was ich selbst erfahren habe, kann ich mich annähern an die Rollen, die ich verkörpere.

Wie haben Sie das Schreiben erlebt?
Ich musste nicht lange nach Erinnerungen und Empfindungen stöbern, sondern sie sind immer da gewesen, die Freude und der Schmerz. Das konnte ich abrufen. 

„… so viele Empfindungen, große und kleine.“

Sie erwähnen Erinnerungsstücke, beispielsweise einen Leinenbeutel mit zwei Holzpferdchen Ihres früh verstorbenen älteren Bruders. Welche Bedeutung haben diese Dinge für Sie?
Diese materiellen Erinnerungsstücke sind gar nicht so wichtig. Sie waren kein Auslöser zu schreiben, sondern sind mir erst während des Schreibens wieder eingefallen – also nichts, woran ich mich gehalten habe. Das war auch gar nicht nötig: Alles, was ich über meine Kindheit geschrieben habe, ist ja in mir. Ich hatte das Gefühl, dass das alles an die Oberfläche drängt. Manchmal bin ich fast ein bisschen erschrocken, was da zum Vorschein kam. Beim Schreiben dachte ich immer wieder, das ist viel zu privat und vielleicht viel zu intim. Aber das ist eben das, was in mir ist. Und jetzt bin ich froh, dass ich diese Dinge in die Welt gebracht habe. Irgendwie ist das auch eine Befreiung.

Was hat denn Ihre Bedenken ausgelöst?
Zuerst habe ich gedacht, dass ich biografische Punkte als Tatsachen schildere: Mein Vater ist gestorben, mein Bruder ist gestorben, meine Mutter ist gestorben. Dann habe ich gespürt, dass das nicht geht. Es gab zwei Möglichkeiten: dass ich davon gar nicht schreibe. Oder ganz ausführlich, so wie ich es damals erlebt habe und in Erinnerung immer wieder erlebe. Ich habe gemerkt, dass ich wirklich ganz genau darüber schreiben muss.

War das Schreiben über die Menschen, die Sie verloren haben, eher hilfreich für Sie? Oder haben Sie es als schmerzlich empfunden?
Es hat mir gut getan, meine Erinnerungen in Worte zu fassen, die sich sonst so in mir breitmachen, wie sie wollen. Indem ich sie in Worte fassen konnte, habe ich im wahrsten Sinn des Wortes meine Fassung wiedergefunden. Das war sehr heilsam.

Als etwas sehr Wohltuendes schildern Sie in Ihrem Buch auch das Schwimmen. Zu den eindrücklichsten Beschreibungen von Kindheitserlebnissen gehört das Schwimmenlernen mit Ihrem Vater …
Das Schwimmenlernen mit meinem Vater war beglückend für mich. Das war ein wahnsinnig schönes Gefühl für mich: dieses Ausprobieren, ob ich es schon alleine kann – und wenn nicht, dann werde ich sofort aufgefangen und gerettet.

Was ist heute für Sie das Besondere am Schwimmen?
Wasser ist für mich ein ganz wunderbares Element. Im Wasser fühle ich mich einfach wohl. Das kommt natürlich auch aus meiner Heimat. In Bayern, wo ich aufgewachsen bin, gibt es so viele Seen. Schon als Kind war ich immer in Bewegung. Das hat auch mit dem Atmen zu tun. Das sind Atemübungen. Lebensübungen. Meditationen, wenn Sie so wollen.

Gilt das auch für das Spazierengehen, das Sie als etwas sehr Wichtiges beschreiben ..?
Ich gehe, wann immer ich kann. Ich nehme nicht den Aufzug, sondern gehe grundsätzlich die Treppe hoch. Ich gehe immer und überall. Weil ich alles besser sehen kann und weil mir die Bewegung einfach gut tut: diese gleichmäßige Bewegung und die Gedanken, die sich dabei einstellen. Ich gehe so wie andere laufen. Gerade lese ich Haruki Murakamis erstes autobio-grafisches Buch: „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“. Von ihm habe ich alles gelesen, auch seinen neuen Roman „1Q48“. Eine ganze Zeit lang habe ich ihn immer mit mir herumgeschleppt …

„Zum Leben gehören Freude und Schmerz.“

Welche Bücher haben Sie in letzter Zeit für sich entdeckt?
Momentan bin ich sehr mit meinem eigenen Buch „Im Überschwang“ beschäftigt, weil ich im Volkshausstudio in Basel gemeinsam mit David Klein das Hörbuch aufnehme. Hier im Hotel Krafft, wo auch Hermann Hesse einst Gast war, gibt es eine wunderschöne Ausgabe von „Steppenwolf“, die ich sofort noch einmal lesen musste. Eigentlich lese ich alles, was ich in die Finger bekomme. Ich habe diese tollen Amerikaner für mich entdeckt: Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss, Richard Ford, Richard Powers, Paul Auster und Siri Hustvedt. Besonders beeindruckt mich gerade Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“. Und Per Olov Enquists autobiografisches Buch „Das andere Leben“. Ich kaufe mir immer wieder viel zu viele neue Bücher, obwohl ich mit dem Lesen manchmal nicht mehr nachkomme.

Gibt es Autoren, die Ihnen zu Lebensbegleitern geworden sind?
Ingeborg Bachmann. Sie hat mich mein Leben lang begleitet mit ihren Gedichten und Romanen. Auch Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ bedeutet mir sehr viel. Und Anne Saxton. Ihre „Verwandlungen“ habe ich als Hörbuch eingelesen. Alice Munro schätze ich sehr … Wenn Sie wüssten, wie es bei mir in Hotelzimmern aussieht. Da liegen überall Bücher.

Schon als Kind mussten Sie viele Ortswechsel verkraften und sich oft auf andere Lebensumstände und Menschen einstellen. Entsprechend fragen Sie sich in Ihrem Buch immer wieder, wo eigentlich Ihr Zuhause war. Haben Sie eine Antwort gefunden?
Bei manchen Fragen geht es für mich gar nicht darum, Antworten zu finden. Aber dass da eine Frage ist, finde ich wichtig.

Wie würden Sie „Zuhause-Sein“ jetzt definieren?
Für mich ist immer ein freier Blick wichtig, ein freier Blick auf den Himmel, auf etwas Schönes. Auf Natur oder Architektur. Hier in dieser alten Stadt Basel am Rhein zu sitzen, erinnert mich an Burghausen, wo ich geboren bin und als Kind gelebt habe. Burghausen ist für mich mit Heimat verbunden.

Was macht Ihr Heimatgefühl aus? Orte oder Menschen?
Die Zeit bei meiner Oma ist für mich fest mit Heimat verbunden. Heimat ist natürlich schon, wo meine Menschen sind. Und die sind ja auch bei mir und in mir. Mit diesem Gefühl in mir kann ich mir alles verwandeln. Allmählich bin ich auch in mir selber zuhause.

Ihre Erinnerungen an Ihre Großmutter sind nicht nur mit wunderbarem Apfelstrudel und mit Geborgenheit verbunden, sondern auch mit einer Lebenshaltung …
Meine Oma hat mich geprägt, das Leben mit ihr hat mich wirklich reich gemacht: ihre immerwährende Heiterkeit, ihre Gelassenheit und ihre Einstellung, das Leben anzunehmen. Von meiner Oma habe ich gelernt, mein Leben so anzunehmen, wie es ist – ohne dauernd damit zu hadern. Von ihr habe ich die Einstellung, dass Freude und Schmerz zum Leben gehören. Ich habe mich nicht aus dem Leben geworfen gefühlt, wenn mir etwas großen Schmerz bereitet hat, weil ich wusste, dass es zu meinem Leben gehört. Ich habe alles im Überschwang erlebt: das Hohe und das Tiefe, ganz oben und ganz unten.