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Eine Ikone unter den politischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die mit debattierenden Männern um die Wette qualmt: Dieses Bild haben die meisten von Hannah Arendt (1906-1975). Nun aber darf sie aus dem Schatten des Mythos treten, ein freier Mensch sein, im Tessiner Sommerglück ihr Leben Revue passieren lassen – in Hildegard E. Kellers Roman „Was wir scheinen“. Typisch für die vielseitige Schweizer Autorin und Literaturwissenschaftlerin, dass sie ihre Heldin zum Leben in allen Nuancen erweckt – mit frischem Blick, profunder Kenntnis und erzählerischer Leidenschaft.
Beim heiteren Beruferaten wären Sie ein spannender, aber auch kniffliger Fall. Welche Stichworte würden Sie selbst ins Spiel bringen?
Zum Auftakt dürfte ich ja ein Schweindl wählen und eine typische Handbewegung machen. Beim Schweindl wär’s schwierig, mich für eine Farbe zu entscheiden, denn mir gefällt eigentlich bunt am besten, aber bei der Handbewegung wäre es sicher so eine Art Bedienung der Tastatur und dazu den Mund auftun. Autorin, also Urheberin, Schöpferin mit Wort und Bild. Bin in mehreren Zimmern zuhause, aber im Hause des Herrn gibt es zum Glück viele.
Ihr Aktionsradius reicht von der Uni bis zur Bühne und von der Mittelalter-Forschung bis zum multimedialen Storytelling. Welche Haltung steht hinter Ihrem professionellen Kontrastprogramm?
Dass sich Neues anbahnt. Und Ausdruck, in allen schönen Künsten und Medien. Seit vielen Jahren gestalte ich Hörbücher, Filme, Webplattformen für Storytelling, Performance mit Schauspielern und Musikern. Natürlich komme ich vom Wort her. Ich will und kann mich aber nicht auf das geschriebene Wort, das Schwarz auf Weiß, beschränken. Ich liebe das Performative.
Ihr Werk umspannt ein Spektrum von Hildegard von Bingen bis zu Hannah Arendt. Welchen gemeinsamen Nenner sehen Sie dabei?
Sie suchten und lebten das Mit-Sich-Sein so intensiv wie den Austausch mit der Welt und vielleicht sogar mit dem Kosmos. Wahrscheinlich ist mir deshalb ein Leonard Cohen näher als ein Andrea Bocelli.
Wann und wie haben Sie Hannah Arendt für sich entdeckt?
Maßgeblich für diesen Roman waren meine zehn Jahre im amerikanischen Midwest. In Bloomington. Dort und an anderen German Departments lernte ich die deutsche Exilkultur in Amerika kennen, diskutierte mit Fakultätskollegen über das Schicksal deutscher Intellektueller. Mir fielen Parallelen zu meinem eigenen Weg auf, vor allem aber stach mir ins Auge, wie verengt der Blick auf das Werk von Hannah Arendt war und noch immer ist.
Die historische Hannah Arendt ist längst ein Mythos – als eine der profiliertesten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Was war für Sie der Auslöser, eine neue, frische Annäherung an die Ikone zu versuchen?
Sie sagen es: Hannah Arendt steht im Grunde genommen auf einem sehr hohen, akademisch geprägten Sockel. Wirklich nahbar ist sie selten, umso kostbarer ist ihre warme, lockere und humorvolle Präsenz im Interview mit Günther Gaus. Im Roman ist sie neu zu entdecken. Ganzer.
Ein Schlüsselwort beziehungsweise ein wichtiger Antrieb bei Ihrer Arbeit scheint „Reanimation“ zu sein. Was verstehen Sie darunter?
Das tönt mir im Moment etwas zu medizinisch. Ich bringe historische Figuren ins Leben zurück, ich frische verfestigte Bilder auf, in meinem Roman mit derselben Freiheit, die Hannah Arendt zeitlebens hochgehalten hat.
„Rauchen gibt dem Roman Rhytmus.“
Denkerpose mit der unverzichtbaren Zigarette: Dieses Bild dürfte wohl das bekannteste von Hannah Arendt sein. Wie sehen Sie sie? Und wie haben Sie die Rauchintervalle im Buch festgelegt?
Das ist eine sehr wertvolle Vermutung! Diese Rauchpausen durchwehen das Buch tatsächlich. Rauchen schafft Raum und gibt auch einem Roman Rhythmus. Die Gefahr ist natürlich, dass sie zu viel raucht, wie man in Margarete von Trottas Film sieht.
Was war für Sie entscheidend, Hannah Arendt ausgerechnet in einem Roman lebendig werden zu lassen? Und wer hatte die Oberhand beim Schreiben? Die Literatin oder die Forscherin?
Ganz klar die Erzählerin. Die Forscherin erledigte die Knochenarbeit. Sie diente der Fabulierlust.
Was spricht für die Verortung Ihres Romans im Tessin, einer Gegend mit zeitweise bemerkenswerter Dichte an Dichtern?
Zuerst die Fakten. Arendt spielte sogar mit dem Gedanken, ins Tessin auszuwandern, am Ende wurden es dann nur einige Sommer, die sie im Hinterland von Locarno verbrachte.
„Palmen und trotzdem noch schweizerische Verlässlichkeit.“
Wie erklären Sie sich diese Anziehungskraft?
Das Tessin war für die deutschsprachigen Schriftsteller seit der Eröffnung des Gotthardtunnels das nächsterreichbare „Italien“, ein Sehnsuchtsort ohne Meer, aber mit einer schon freundlich fremdelnden levantinischen Kultur und ab Basel in vier Stunden erreichbar. Palmen und trotzdem noch schweizerische Verlässlichkeit. Berge, Seen und eine verhaltene südliche Opulenz.
In Ihrem Roman kommen – bei Hannah Arendts Frühstück – unter anderem der einheimische Honig und Bergkäse zu Ehren. Was sagt uns das über das kulinarische Faible von Hannah Arendt und von Ihnen selbst?
Es gibt wohl wenige, die wie Wittgenstein am liebsten Brot und immer den gleichen Käse zu sich nehmen wollen. Es hat eine Bedeutung, was ein Mensch isst. Friedrich Dürrenmatt hat anderes zu sich genommen als Samuel Beckett. Deshalb feiere ich die Verbindung zwischen Literatur und Kulinarik in der „Edition Maulhelden“.
Ihre Hannah Arendt reist nicht nur von den USA ins Tessin, sondern auch zurück in die eigene Vergangenheit. Wie haben Sie die Ereignisse ausgewählt, an die sie sich erinnert? Nach den großen Umbrüchen?
Ja. So ist beispielsweise der Eichmann-Prozess eines der Prismen, durch die ich Hannah Arendts Denken, Fühlen und Handeln aufleuchten lasse.
„Die Briefe zeigen Hannahs Menschlichkeit.“
In Ihrem Roman sind Freundschaft und Verbundenheit ein großes Thema. Wie kommt es dazu?
Hannah Arendts Briefwechsel kann man als Who’s Who ihrer Zeit lesen. Aber mir ging es nicht darum, eine Parallelbiografie zu schreiben. Ich wollte ihr fantastisches Talent zur Freundschaft und auch zu eigentlichen Bündnissen mit Menschen aufleben lassen. Davon erzählen, auch in fiktiven Freundschaften. Meine Szenerie dafür ist ein Tessiner Dorf, in dem Hannah Arendt Urlaub macht. In sommerlicher Idylle, in der Natur tritt sie mit allem, was kreucht und fleucht, von Eidechsen, Rotkehlchen bis zu den Siebenschläfern, ins Gespräch mit sich selbst, ja, das ist das Wichtige: Sie betrachtet ihr Leben und spricht mit sich selbst, dem jungen Mädchen in ihr und der alten Frau.
An Gedichte würden bei Hannah Arendt wohl die wenigsten denken. Sie schon. Was machte es Ihnen wichtig, Hannahs poetischer Ader in Ihrem Roman Entfaltungsraum zu verschaffen?
Eine Ader kann versiegen – und das wirft Fragen auf. Der Schlüssel zu meiner Hannah Arendt und zum dunklen Herz des Romans. Wesentlich ist eine junge Frau, mit der sie im Hotel Freundschaft schließt und der sie fast widerstandslos ihr Inneres öffnet.
Auch das Ende Ihres Romans ist von Poesie beseelt. Warum musste es Auden sein? Und warum dieses Gedicht?
Auden, ein naher Freund, spricht in diesem Gedicht vom Heilen und Transformieren des Erlebten. Genauso wie Hannah Arendts Märchen von den weisen Tieren, das ich in den Roman integriert habe. Wenn meine Arendt poetisch denkt und erzählt, ist sie dem auf der Spur, was heilt. Nichts brauchte ihr Jahrhundert mehr – und wir wissen alle, dass sich auch unseres danach sehnt.
Ihre Roman-Hannah ringt immer wieder um die aussagekräftigste Überschrift für ihre Artikel oder den besten Buchtitel …
Wundert Sie das? Mit dem Untertitel zum Eichmann-Buch, „Bericht von der Banalität des Bösen“, hat sie Geschichte geschrieben – allerdings anders, als sie selbst das ursprünglich im Sinn hatte.
Was leitete Sie selbst bei Ihrem Romantitel?
Ein Titel muss die Kraft des Romans in sich tragen, deshalb ist die Suche danach so knifflig und schön. Jetzt gerade suche ich den passenden Titel für ein Buch, das ich zusammen mit Freundinnen mache, in dem wir von unseren Vätern erzählen. Bei „Was wir scheinen“ war von Anfang an klar, dass nicht der Name der Hauptfigur, sondern ihre Kraft im Titel stehen soll, und die funkelt eben am schönsten in ihren Versen. Der Titel geht auf einen Gedichtvers von Hannah Arendt zurück.