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Längst ein Star in seiner schwedischen Heimat und international als großartige Entdeckung gefeiert: Alex Schulman, Jahrgang 1976, Blogger, Podcaster, Moderator und vor allem Bestsellerautor. Zum Kultstatus brachte er es mit seinen autobiografischen Werken wie „Glöm mig“ (engl. „Forget about me“, noch nicht auf Deutsch erschienen), 2017 Buch des Jahres. Nach seinem furiosen Familiendrama „Die Überlebenden“ übertrifft er sich nun selbst mit seinem persönlichsten Roman: „Verbrenn all meine Briefe“, in Schweden sein bisher größter Erfolg!
Die schwedische Zeitung „Expressen“ findet: „Schulman schreibt, als ob sein Leben davon abhinge.“ Wie würden Sie es selbst formulieren?
Schwierig, das können andere besser beurteilen als ich. Jedenfalls trifft es die Formulierung von „Expressen“ gut, dass ich schreibe, als ginge es um mein Leben. Ich versuche stets, meinen Weg in eine Dunkelheit zu finden, wo es am meisten weh tut.
Warum liegen Ihnen die deutschen LeserInnen so besonders am Herzen?
Als Teenager bin ich jeden Sommer durch Europa getrampt. Jedes Mal, wenn ich nach Deutschland kam, fiel mir auf, dass es in fast jedem Gespräch früher oder später um Bücher ging. Nach diesen Reisen hatte ich immer das Gefühl, unter allen Völkern sind es die Deutschen, die Bücher am meisten schätzen. Deshalb ist es etwas ganz Besonderes für mich, dass meine Bücher in Deutschland veröffentlicht werden. Ich liebe nun mal dieses Niveau an Intellektualität.
Als Leser mit enormem Pensum haben Sie Ihren Großvater Sven Stolpe in Erinnerung behalten. Was beeindruckte Sie besonders an seiner Lesetechnik?
Ich habe meinen Großvater oft beobachtet, wenn er Bücher las. Er konnte eine einzige Seite in weniger als 10 Sekunden lesen und danach war er in der Lage, fast die ganze Seite wiederzugeben. Das Kunststück vollbrachte er nicht nur beim Arbeiten, es war auch immer wieder ein Party Gag beim Dinner. Jemand am Tisch reichte ihm einen Text mit der Bitte, ihn schnell durchzulesen. Danach war Sven in der Lage, die ganze Seite auswendig aufzusagen. Es war schon verrückt.
Ihr Großvater war in Schweden als Schriftsteller berühmt. Welche Rolle spielte er für die Entdeckung Ihres Schreibtalents?
Ich wuchs in einer Familie auf, in der meine Eltern sich nicht großartig um mich kümmerten. Sie nahmen es wohl auch nicht so ernst, als ich ihnen mitteilte, dass ich Schriftsteller werden wolle. Also hielt ich mich an meinem Großvater und schickte ihm immer wieder selbst geschriebene Gedichte. Er antwortete mir jedes Mal – in Großbuchstaben, als ob er mir mit lauter Stimme verkündete – was für ein fantastisches Genie ich sei und dass ich bestimmt nicht mehr lang warten müsste, bis man mich in die Nobel-Akademie aufnimmt. Und ähnlich erbauliche Dinge. Das war sehr lieb von ihm.
„Mich überkam beim Lesen ein Schauder der Glückseligkeit.“
Wann und wie erwachte Ihre eigene Begeisterung für Bücher und was machte das Lesen so bedeutsam für Sie?
Als Kind hatte ich fast keine Freunde, sondern nur meine Bücher. Ich las den ganzen Tag. So hatte ich schon in jungen Jahren den Traum, Schriftsteller zu werden. Eine große Rolle spielte auch die Lektüre von Stephen Kings Roman „Cujo“. Mich überkam beim Lesen ein Schauder der Glückseligkeit. Ich fragte mich: Wie ist es möglich, dass dieser Autor Dinge zu Papier bringt, die so heftige Gefühle in mir auslösen. Es war fantastisch.
Welche Bedeutung hatte das Lesen für Ihre Entwicklung als Autor?
Nun, es hat natürlich geholfen, aber ich stimme nicht mit all den Autoren überein, die glauben, um gut zu schreiben, muss man lesen, lesen, lesen. Ich denke, um gut zu schreiben, ist es wichtig zu schreiben, schreiben, schreiben.
Was haben Sie in der Literatur gefunden, das Sie im wirklichen Leben vermissten?
In Büchern fand ich Sauerstoff. Man kann in Büchern atmen. In meiner Kindheit gab es davon leider oft zu wenig.
„Für mich ist die Kindheit Ground Zero. Der Punkt des Einschlags“
Zu Ihrem Schreibkonzept gehört es, sich in die eigene Kindheit zurückzuversetzen. Welche Überzeugung steht dahinter?
Für mich ist die Kindheit Ground Zero, der Punkt des Einschlags. Hier hat alles angefangen. In meinem Leben frage ich mich immer wieder: Was ist passiert? Und auch in meinen Büchern komme ich immer wieder auf diese Frage zurück: Was ist passiert? So fragen auch Psychotherapeuten. Und da ich noch keine Antwort darauf gefunden habe, stelle ich mir die Frage immer wieder und schreibe darüber.
Ihren literarischen Durchbruch hatten Sie mit „Forget me“, 2017 in Schweden zum Buch des Jahres gewählt und durch ihre Mutter inspiriert. Worum ging es Ihnen und wie haben Sie den Schreibprozess empfunden?
Ich hatte große Zweifel, bevor ich mich ans Schreiben machte, denn irgendwie kam es mir vor wie ein Verrat an meiner Mutter. Über sie zu schreiben hieß auch, allen zu erzählen, dass sie trank. Ich weiß, das hätte sie nicht gewollt. Ich erinnere mich an einen Vorfall, während ich in einer Kirche einen Vortrag hielt: Eine ältere Dame stand auf und schrie mich an, ich hätte Schande über meine Familie und Mutter gebracht und solle mich schämen. Alles sei nur Klatsch. Mit großer Angst ging ich in dieser Nacht nach Hause – und gelegentlich gebe ich der alten Dame auch recht. Doch letztendlich komme ich immer wieder zum gleichen Fazit: Das ist mein Leben und meine Geschichte und ich habe das Recht, davon zu erzählen.
Wie reagiert Ihre Familie auf Ihre Bücher? Wie stimmen Sie sich ab, was öffentlich werden darf?
Das ist ein heikles Thema. Beispielsweise weil ich zwei Brüder habe und irgendwie auch über deren Kindheit schreibe. Ich eigne mir also ihre Geschichte an – und das ist nicht fair ihnen gegenüber. Deshalb gebe ich den beiden alles zu lesen, bevor ein Buch von mir veröffentlicht wird.
Was war der Auslöser für Ihr neuestes Buch „Verbrenn all meine Briefe“?
Ein Streit zwischen meiner Frau und mir. Er endete mit der Mitteilung meiner Frau, sie sei sich nicht sicher, ob sie die Beziehung mit mir weiterführen will, weil sie meine Wutausbrüche fürchtet. Deshalb begann ich, meinen Zorn zu erforschen und suchte eine Therapeutin auf. Sie machte eine „Familienaufstellung“.
„Ich deckte eine heimliche Liebesgeschichte in meiner Familie auf.“
Was haben Sie dabei herausgefunden?
Als ich damit fertig war, konnte ich klar erkennen, dass alle Kämpfe und alle Dunkelheit in meiner Familie mit einem Mann anfingen: meinem Großvater. Da begann ich, seine Bücher zu lesen und über ihn nachzuforschen, um herauszufinden, wo der Familienzorn seinen Ursprung hatte. Und so deckte ich eine heimliche Liebesgeschichte in meiner Familie auf, gleichsam die Liebesgeschichte des Jahrhunderts.
Auf Ihrem neuen Buch steht Roman, aber die wichtigsten Figuren heißen wie im wirklichen Leben, z.B. der Großvater Sven Stolpe wie ihrer eigener, der Enkel Alex wie Sie. Wie haben Sie Ihre eigene Familiengeschichte und Fiktion verbunden?
In diesem Buch basiert alles auf Tatsachen, alles was passiert beruht auf Quellen wie z.B. Tagebüchern und Briefen. Ich wollte in dieser Geschichte die Wahrheit über meinen Großvater und meine Großmutter erzählen. Aber natürlich gibt es auch Szenen mit Gesprächen zwischen Leuten, die vor hundert Jahren lebten. Das ist meine Freiheit als Autor und deshalb spreche ich auch von einem Roman.
Was waren Ihre wichtigsten Quellen bei den Recherchen für Ihr neues Buch?
Mein Großvater hat mehr als 100 Bücher geschrieben. Ich hatte bis dahin noch kein einziges davon gelesen. Sie waren im Keller aufbewahrt und so ging ich nach unten und begann zu lesen. Danach suchte ich die Bibliothek in Uppsala auf, wo 7.000 Briefe meines Großvaters aufbewahrt werden. Doch den wichtigsten Hinweis zu der Liebesgeschichte bekam ich von meinem Freund, dem Autor David Lagercrantz. Seine Familie bewahrte die Liebesbriefe von meiner Großmutter Karin und seinem Großvater Olof auf, die vor langer Zeit das Leben meines Großvaters zerstörten. Lagercrantz ließ mir die Briefe zukommen. Da wusste ich, dass dies ein Buch ist, das ich schreiben muss.
Was hat Sie beim Recherchieren am meisten bewegt oder erschüttert?
Dass mein Großvater versuchte, meine Großmutter zu töten. Das war ein Schock.
„Jetzt – mit etwas Abstand – beginne ich ihn zu verstehen.“
Wie hat die Arbeit an Ihrem Buch Ihr Bild von Ihrem Großvater beeinflusst?
Nun, es war eine Reise für mich. Als ich an dem Buch arbeitete, kam ich zu der Erkenntnis: Ich mag diesen Mann nicht. Aber jetzt – mit etwas Abstand – beginne ich ihn zu verstehen. Vielleicht muss ich ihm verzeihen, denn hinter jedem Kummer tut sich neuer Kummer auf. Wenn man die Tür zu seiner Kindheit öffnete, sah man noch mehr Dunkelheit.
Was war bei der Lektüre der Familienkorrespondenz am aufschlussreichsten?
Endlich war es mir möglich, die wahre Stimme meiner Großmutter zu entdecken. Zuhause traf man nicht auf die wahre Karin, da sie vor ihrem Ehemann Sven Stolpe Angst hatte. In den Briefen hörte ich sie zum ersten Mal – und es war wunderbar.
Ist Ihr Buch für Sie eher die Geschichte einer großen Liebe oder einer großen Tragödie?
Sowohl als auch. Es ist eine große Liebesgeschichte und eine großartige Tragödie.
Für Ihre Großmutter Karin scheinen bestimmte Bücher wie Rettungsanker gewirkt zu haben. Wie lauten für Sie die schönsten Zeilen, in denen Ihre Großmutter Trost fand?
Es gibt ein Gedicht der schwedischen Poetin Edith Södergran, in dem sie von einem Land schreibt, das es nicht gibt: “The Land Which Is Not”. In diesem Land findet man alles, was niemals passiert ist. Alle Träume, die nicht erfüllt wurden, alle Chancen, die man nicht ergriffen hat. In diesem Land existieren all diese großartigen Sachen, die niemals passiert sind! Meine Großmutter reiste gelegentlich in dieses Land und dachte darüber nach, wie ihr Leben aussähe, wenn sie ein wenig mutiger gewesen wäre. Ich glaube, dass diese Zeilen sehr tröstlich sind.
Was hätten Sie Ihrer Großmutter Karin Stolpe am meisten gewünscht?
Glücklich gewesen zu sein.
An welcher Stelle hätten Sie das Leben am liebsten komplett umgeschrieben?
Als ich meine Mutter mit ihrer Trunksucht konfrontierte. Ich sagte ihr, dass wenn sie mit dem Trinken nicht aufhört, ich ihr den Kontakt zu mir und den Kindern untersagen würde. Und ihr war der Alkohol wichtiger als ich und meine Familie. Der Weg zurück nach Hause nach diesem Treffen war vielleicht der schlimmste Tiefpunkt in meinem Leben.
Wie hat Sie die Arbeit an Ihrem neuen Buch als Familienmensch beeinflusst oder sogar verändert?
Ich ließ mich sieben Jahre lang therapieren. So etwas verändert einen Menschen letztendlich. Über die Vergangenheit Bescheid zu wissen, hilft mir auch dabei, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.