Bürgerrechtler, Bundespräsident, Bestsellerautor: Joachim Gauck macht sich wie kaum ein anderer stark für Demokratie und Miteinander – einschließlich Streitkultur, d.h. konstruktivem Dialog als Herzstück. An den großen Bucherfolg zu seinem Lebensthema Freiheit knüpft er nun gemeinsam mit Ko-Autorin Helga Hirsch an: mit einem leidenschaftlichen und – nicht nur zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls von 1989 – hochaktuellen Plädoyer für alltagstaugliche Toleranz.

Der Mauerfall 1989 ging als einer der glücklichsten historischen Momente in die Geschichte ein. Deutschland feierte. Die Menschen fielen sich auf der Straße in die Arme, die Stimmung war euphorisch. Das ist jetzt anders. Wie nehmen Sie die momentane nationale Gemütslage wahr?
Deutschland ist durch seine Erfolge nicht glücklicher oder ruhiger geworden, sondern unruhig, zum Teil ängstlich und zu wenig zukunftsorientiert.

Was ist uns abhanden gekommen?
In der Gesamtgesellschaft – in Ost wie in West – gibt es zu wenig Aufbruchstimmung und zu wenig Selbstvertrauen. Das zeigt sich in Risikoscheu, verbreiteter Skepsis gegenüber der Moderne. Es fehlt auch das richtige Maß an Selbstvertrauen und Mut.

Ein wichtiges Stichwort in Ihrem neuen Buch ist die „Dialogkultur“. Worunter hat sie, wie Sie schreiben, so „massiv gelitten“?
An einem übertriebenen Willen, recht zu haben, und an einer Fokussierung auf die jeweils eigenen Meinungsmilieus.

Wo fällt Ihnen das auf?
Das ist generell festzustellen.

Eher im privaten Bereich oder auf der Straße?
Das mag im privaten Bereich genauso gelten wie in den öffentlichen Debatten. Diejenigen, die eine andere Meinung haben, werden oftmals moralisch herabgewürdigt. Bevor man ihnen mit Argumenten begegnet, wird ihnen oft schon eine moralische Verwerfung unterstellt. Das belastet, ja erschwert den Dialog.

Wenn lautstarke Demos in den Medien kommentiert werden, ist oft die Rede von Wutbürgern und nicht selten von Radikalisierung oder Extremismus. Was hören Sie bei den Protesten heraus?
Generell müssen wir unterscheiden. Es ist ja zu loben, wenn Bürger ihre politische Meinung in die Öffentlichkeit tragen, Mängel beklagen oder Ziele benennen. Das ist gut.

Aber?
Aber es ist nicht gut, sondern schlecht, wenn Wut und Hassgefühle kultiviert werden und wenn Lügen und Unterstellungen benutzt werden, um den politischen Gegner einzuschüchtern, oder wenn politische Gegner sogar tätlich angegriffen werden. Das ist natürlich zu verwerfen.

Worin sehen Sie die Ursachen?
Hauptursache dieser Proteste in den vergangenen Jahren war die Migrations- oder Flüchtlingspolitik der Regierung. Das kann man mit Sachargumenten angreifen und debattieren oder mit Wut und Verächtlichmachung. Das eine ist o.k., das andere darf man nicht tolerieren.

Und das Gesamtklima?
Nicht nur bei uns, sondern in weiten Teilen der Welt gibt es einen Trend, der sich in einem generellen Unbehagen an der Moderne zeigt: an der Globalisierung, der Entgrenzung, an diesen ganzen technologischen Innovationen, die den Menschen Angst machen. Und aus Angst reagieren Menschen dann in vielen Teilen der Welt wütend und wählen aus Protest populistische Gruppierungen, die unter Umständen gar kein überzeugendes Zukunftskonzept haben, aber sehr gut die Angst der Leute aufnehmen und dann bündeln. Das ist nicht nur in Deutschland so. Uns stört das in Deutschland besonders, weil wir Deutsche sind – aber es ist ein europäisches und zum Teil globales Problem.

Nach Ihrer Abschiedsrede als Bundespräsident wurden Sie nicht zuletzt als Politiker gewürdigt, der sich den Menschen zuwendet und sich darauf versteht, Vertreter der unterschiedlichsten Meinungen oder Lager ins Boot zu holen. Ihre Bereitschaft zum Dialog endete auch nicht mit Ihrer Amtszeit, im Gegenteil, Sie suchen förmlich das Gespräch. Welche Überzeugung leitet Sie?
Wer Diktaturen erlebt hat, weiß, was Freiheit wert ist. Die Richtschnur des politischen Handelns ist für mich, die Menschenrechte zu wahren und zu verteidigen. Der liberale Ansatz der offenen Gesellschaft bestimmt mein politisches Denken.

Sie machen durchaus keine Ausnahme bei Vertretern von Gegenpositionen, sondern suchen auch das Gespräch mit der früheren AfD-Politikerin Frauke Petry oder mit René Jahn von Pegida. Bewusste Bekenntnisse zu Toleranz?
Ja, das sind bewusste Bekenntnisse zur Toleranz. Ja, Toleranz ist machmal eine Zumutung. Aber auch Auffassungen, die wir kritisieren, sind – wie die Menschen, die sie vertreten – Teil unserer Gesellschaft. Solange sie die Gesetze und das Grundgesetz achten, sollten sie in die Debatten einbezogen werden. Auch wenn es manchmal schwerfällt.

„Goldene Regel von Kant & Co.“

Bekannt sind Sie nicht zuletzt für Klartext. Das gilt auch für unser politisches System und dessen Repräsentanten. Ihre Kritik? Beziehungsweise Ihre Ermutigung zu konstruktiven Veränderungen?
Man kann auch Unsinn in Klartextform verbreiten. Mein Bekenntnis zur liberalen Demokratie lässt mich in der Regel zum Verteidiger unseres Gesellschaftsmodells werden. Repräsentanten sind mehr oder weniger ein Abbild der Gesamtbevölkerung. Was wir miteinander besser machen können? Die Interessen einzelner Gruppen deutlicher formulieren! Die politische Kommunikation vereinfachen, so dass auch diejenigen verstehen, worum es geht, die weit entfernt von den politischen Eliten leben.

Wer den Begriff Toleranz googelt, bekommt im Nullkommanichts über zwölf Millionen Ergebnisse angezeigt. Was sagt uns das? Ein Konjunkturthema?
Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Sprechen wir über das, was wir vermögen? Oder über das, was wir entbehren?

Konnte man nicht fast den Eindruck gewinnen, alle wären sich irgendwie einig, als die UNESCO 1995 Ihre Erklärung zu den Toleranz-Prinzipien verabschiedete? Was können solche Deklarationen Ihrer Auffassung nach bewirken?
Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist viel formuliert worden, was in der politischen Praxis – besonders natürlich im nicht-demokratischen Teil der Welt – nicht toleriert, sondern sogar bekämpft wird. Trotzdem machen solche Deklarationen Sinn. Sie helfen jenen, die gegen Diktatur und für die Rechte aller Menschen kämpfen.

Was hat Sie bewegt, der Toleranz sogar ein ganzes Buch zu widmen? Welchen konkreten Auslöser hatten Sie? Worin bestehen die verbreiteten Irrtümer über Toleranz?
Wenn Teile der Bevölkerung von Meinungsführern zu früh als Dialog- oder Streitpartner ausgeschlossen werden, ist das ein Weg, der die Gesellschaft stärker spaltet, als dies notwendig wäre. Und die Irrtümer über Toleranz? Sie rechtfertige und verstehe jede Meinung und Haltung, sie sei zu verwechseln mit Gleichgültigkeit oder sie sei zu unentschieden, zu relativierend, was Werte betrifft, sie sei überhaupt schwach. Das sind Irrtümer!

Sie haben verschiedentlich geäußert, dass Ihnen einst in Ihrem Pastorenleben die Jugendarbeit sehr am Herzen lag. Wie würden Sie denn Jugendlichen von heute nahebringen, was Toleranz so wichtig macht und wie sie sich im Alltag am besten leben lässt?
Wichtig ist, jungen Menschen zu erklären, dass das Recht des Stärkeren kein gutes Gesellschaftsmodell ist. Wer das durchsetzt, schafft eine ungerechte Gesellschaft. Jugendliche lieben Freiheit. Aber Freiheit ohne Toleranz schafft Abhängigkeit und Ungleichheit. Und wir sind auch alle miteinander zu verschieden. Wenn wir also gleichberechtigt miteinander leben wollen, dann geht das eben nur mit Toleranz. Das kann man schon in einer Familie oder in einem Klassenverband oder in einem Unternehmen erleben. Das kann also jeder verstehen. Jeder sieht die Verschiedenheit der Menschen und sieht die Notwendigkeit, dass wir miteinander leben und gestalten wollen. Deshalb gibt es auch so etwas wie ein natürliches Verständnis für die Haltung von Toleranz.

In Ihrem Buch verbinden Sie Geschichte und Gegenwart. Was haben uns die von Ihnen zitierten Dichter und Denker heute zu sagen?
Toleranz ist schwer, aber menschenmöglich! Dieses „menschenmöglich“ war und ist das Thema der zitierten Dichter und Denker.

Ihr Thema verorten Sie auch mitten im Alltag und schildern z.B. das Leben in einem Haus, in dem die unterschiedlichsten Mieter aufeinander treffen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie diesen Mikrokosmos entwarfen?
Ich wollte ein alltägliches Bild, um einem Leser, der nicht so vorgebildet ist, nahezubringen, dass wir in unserer Gesellschaft, ob wir das nun wollen oder nicht, in Zusammenhängen leben, für die wir Toleranz brauchen. Mein Beispiel mit dem Haus schildert, wie sich Menschen auch daran gewöhnen müssen, dass es Fremde in unserer Nähe gibt – und dass so etwas gelingen kann. Dass man Fremdheit wandeln kann in Vertrautheit, wenn man Offenheit und Verständnis mitbringt. Es ist also ein Bild für das, was wir schon zum Teil gelebt haben, insbesondere im alten Westen Deutschlands, und was also jedem Menschen einen Zugang eröffnet: Ach so, ja, das ist wie im praktischen Leben.

Sie bringen auch Erfahrungen mit, was es heißt, in der Position des definitiv Schwächeren zu sein – zu einer Minderheit im Visier der Mächtigen zu gehören. Klein beigegeben haben Sie damals in der DDR jedoch nicht. Was hat Ihnen am meisten geholfen, Ihre Stimme zu erheben?
Ein Mensch braucht so etwas wie einen inneren Kern. Einen Glauben bzw. Werte, die ihm zentral wichtig sind. Es ist zwar schwer, aber möglich, diesen Werten verpflichtet zu bleiben – sich nicht durch totale Anpassung oder Unterwerfung zu verlieren.

Auch wenn wir nicht auf einer Insel der Seligen leben: Worin besteht für Sie das Fundament eines lebenswerten Miteinanders?
Menschen können nicht ohne Miteinander leben. Also wird eine gute menschliche Gesellschaft nie ohne Achtsamkeit, Solidarität und Wachsamkeit existieren können. Eine gute Hilfe für Suchende: Die goldene Regel beachten!

Jetzt kommen wir zu Lessing und Kant … Der Kern?
Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Diese Regel gibt es so oder so ähnlich in verschiedenen Religionen und Gegenden.

Der Erscheinungstermin von „Toleranz“ zum 17. Juni kann ja fast kein Zufall sein, oder? Welche Botschaft birgt das Datum für Sie?
Auch Deutsche können Freiheit! Wenn sie dies nicht erfolgreich schon im Juni 1953 beweisen konnten, so doch vor 30 Jahren in der friedlichen Revolution 1989 im Osten.