DIE GROSSE SAUSE am Brandenburger Tor, die Reden der üblichen Würdenträger – eingespielte Rituale seit dem Mauerfall 1989 und nun erst recht beim 30-jährigen Jubiläum 2019. Jede Menge Überraschungen hingegen erwarten einen, wenn der Schauspieler Joachim Król (links) und der Reporter Lucas Vogelsang (rechts) dem Herzschlag der jüngsten deutschen Geschichte nachspüren. Begegnungen suchen, Wende-Geschichten sammeln, Lebenswirklichkeiten erfahren – beim Roadtrip vom Ruhrgebiet nach Mecklenburg. Im Gespräch mit Lucas Vogelsang blicken wir in den Rückspiegel und auf das Hier und Jetzt.

Sie bekennen: Am Anfang stand eine Schnapsidee. Welche?
Ich habe Joachim Król 2009 im Schauspielhaus kennen gelernt, Nacht und Nebel, dort erzählte er mir von den Dreharbeiten des Buck-Films Wir können auch anders, der damals,1992, in den Kulissen der gerade ehemaligen DDR gedreht wurde. Einem Land, das sich vor der Kamera langsam auflöste. An diesem Abend entstand die Idee, noch einmal dorthin zu fahren. In den Osten, in die neuen Bundesländer. Joachim hatte diese Reise nie gemacht. Es mussten dann allerdings einige Jahre in ein wiedervereintes Land gehen, bis wir wirklich losfahren konnten.

Welche Bedeutung hat für Sie das Jubiläum des Mauerfalls von 1989?
Es ist ein durch und durch deutsches Datum, weil die Erzählungen aus dieser Zeit noch immer tief in die Identität dieses Landes deuten. Teilung und Wiedervereinigung haben die Menschen, die damals dabei waren, nachhaltig geprägt. Und jene Dinge, die damals passiert sind, die Freude, aber auch die Traumata, können dann auch das Fremdeln erklären, die Kluft, die es durchaus noch gibt. Die Mauer, die in den Köpfen mitunter noch steht.

Ihr Blick auf unsere Geschichte?
Ich schaue vor allem auf Geschichten, der Rest ergibt sich dann von selbst. Es geht darum, die Erinnerungen der Menschen, die wir getroffen haben, begehbar zu machen. Das erleichtert am Ende auch den Zugang zur Historie.

Welches gemeinsame Ziel hat Sie zum Ausbruch beflügelt?
Wir wollten genau das, diese Zeit, dieses Damals, erfahrbar machen. Uns an der Wende und an den Biografien entlang einem historischen Moment annähern. Im Grunde ist aus den Geschichten, die wir gesammelt haben, jetzt ein Kaleidoskop entstanden, durch das der Leser noch einmal auf den Mauerfall, auf BRD und DDR schauen kann. Viele Blicke für ein vielleicht besseres Verständnis.

Mit welcher Rollenverteilung haben Sie sich auf den Weg gemacht?
Joachim sollte der Suchende sein. Als Schauspieler in die Rolle des Reporters rutschen. Und ich wollte ihm dabei als Beobachter über die Schulter schauen, einfach alles mitschreiben. Dieser eine Schritt zurück hat es mir ermöglicht, noch genauer hinzuhören, während Joachim mit seinen eigenen Anekdoten, seiner Zeitzeugenschaft wiederum als Katalysator für die Erzählungen der anderen wirken konnte. Wir haben uns da, denke ich, ganz gut ergänzt.

„Die A2 – ein roter Faden oder auch ein Biografiebeschleuniger.“

Joachim Król ist kein Fan von Navis. Auf welche Alternative haben Sie sich geeinigt? Hätten Sie beide sich für die Aufnahme bei den Pfadfindern qualifiziert?
Wir haben zu Beginn unsere Route ganz analog auf einer alten Straßenkarte geplant. Und ansonsten sind wir der A2 gefolgt, da kann man zwischen Bochum und Berlin nicht viel falsch machen.

Waren Sie beide immer einer Meinung, wo’s langgeht?
Das hat sich von selbst ergeben. Wir folgen auf dieser Route, von Bochum bis nach Boltenhagen, ja immer wieder auch den ehemaligen Reisen Joachims, der als Hippie aus Herne in den 70ern mit dem Daumen raus nach West-Berlin getrampt ist. Dann geht es eben über die A2, die irgendwann selbst zum Protagonisten wird, weil sie sich wunderbar eignet, als roter Faden, aber eben auch als Biografiebeschleuniger.

Als Geschichtensucher werden Sie da fündig, wo andere gar nicht erst mal etwas Besonderes vermuten würden. Spürsinn? Bauchgefühl? Menschenkenntnis? Was leitet Sie?
Es ist vor allem Handwerk und die Überzeugung, dass in jedem Menschen ein Roman steckt. Dann geht es darum, dem Instinkt zu folgen und die Menschen für sich und das Buch zu gewinnen. Ich weiß vorher nie genau, was mich erwartet und bin auch immer davon abhängig, auf gute Erzähler zu treffen. Ohne die innere Bereitschaft der Menschen, ihre Leben und Erinnerungen mit mir zu teilen, habe ich keine Chance.

Für Sie scheint es keine langweiligen Menschen zu geben, oder? Wie schaffen Sie es, Ihrem jeweiligen Gegenüber etwas Spannendes / Interessantes zu entlocken? Wie gewinnen Sie das Vertrauen?
Gay Talese hat es mal „The Fine Art Of Hanging Around“ genannt, die große Kunst des Rumhängens. Ich denke, das trifft es gut. Man muss sich Zeit nehmen, dableiben, zuhören. Einen Raum schaffen, in dem sich alle Beteiligten wohlfühlen. Und vor allem darf man eben nicht nur Kamera sein, nicht nur die Geschichten der anderen absaugen, sondern sich selbst auch sichtbar machen. Gespräche führen, nicht nur Fragen stellen.

„Diamanten am Wegesrand.“

Wo haben Sie am meisten gestaunt? Bei welcher Begegnung? Und über sich selbst?
Es gibt auf einer solchen Reise immer wieder Geschichten, die man findet, ohne vorher zu wissen, dass man sie gesucht hat. Sie liegen dann dort, Diamanten am Wegesrand und wenn man sie aufliest, merkt man schnell, wie schwer sie wiegen. So etwas gab es auch in diesem Buch. Das DKP-Mitglied aus Bochum, das immer in die DDR ausreisen wollte und dann mit uns und durch uns einer Frau begegnet, die vor 30 Jahren den genau umgekehrten Weg genommen hat, weil sie es eben in jener DDR nicht mehr ausgehalten hat. In diesen Begegnungen steckt dann für einen Moment die ganze Geschichte, der ganze Wahnwitz der einstigen Teilung.

Was hat die gesamtdeutsche Tour und DDR-Spurensuche bei Ihnen bewegt und bewirkt? Was haben Sie als schönstes persönliches Souvenir mitgenommen?
Die Menschen sind bei uns geblieben. Mit den meisten besteht nach wie vor Kontakt, auch das gehört dazu. Ich denke, dass man eine solche Reise nicht einfach abschütteln kann. Und ganz banal gesprochen, haben wir auf der A2, auf den Um- und Abwegen, eine Menge gelernt. Dinge, die wir vorher nicht wussten. Da haben uns die Menschen durch ihre Erinnerungen allein schon bereichert. Am Ende war diese Fahrt dann auch eine Deutschstunde im besten Sinne.

Auf die Frage, was Heimat für Sie ausmacht, war vor einiger Zeit Ihre spontane Antwort: Kumpels. Ihr momentanes Heimatgefühl?
Vielleicht ist es jetzt eher die Autobahn. Heimat bedeutet auch, sie zu durchfahren.

Unterscheiden Sie eigentlich zwischen Heimat und Zuhause?
Ja. Zuhause kann vieles sein. Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt. Heimat fühlt sich anders an. Das ist nicht immer eine Frage der Gemütlichkeit.

Grenzgänger Steckbrief:

Ihr Selbstporträt in drei Worten …
… Schreib es auf!
Ihr Psychogramm von Joachim Król in drei Worten …
… Lässt Geschichten zu.
Ihr Currywurst-Bekenntnis …
… Mittlerweile fahre ich dafür bis nach Witten.
Die abenteuerlichste kulinarische Entdeckung …
… In Brandenburg ist ein Cappuccino immer noch ein Filterkaffee mit Sprühsahne.
Das Existenzielle am Fußball …
… Er bewegt die Leute, nach wie vor.

Ihr ultimativer Verein … 
… Den gibt es nicht mehr. Ich leide mit Hertha und freue mich mit dem BVB.
Zelten oder Sternehotel …
… Unter Sternen schlafen.
Die drei Basics, die unterwegs unverzichtbar sind …
… Neugierde, Stift und Zettel.
Ihr Traumort für eine Datscha …
… Ich hatte schon eine. In Brandenburg, unweit der Berliner Stadtgrenze, gleich an einem See. Da würde ich immer wieder hinfahren.
Der Soundtrack zu Ihrem neuen Buch …
… „Passenger“ von Iggy Pop, in der Joachim-Król-Endlosschleife.