Goodbye, Mauern in den Köpfen! Gut 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 sorgt nun Katja Hoyer für eine längst fällige Wende – in der Geschichtsschreibung zur DDR. 1984 im brandenburgischen Guben geboren, studierte sie in Jena Geschichte und etablierte sich in ihrer englischen Wahlheimat mit ihrem Buchdebüt „Blood and Iron“ als „eine der besten jungen HistorikerInnen“ (Financial Times). Ein Status, den sie eindrucksvoll bestätigt mit „Diesseits der Mauer“. Ein bahnbrechend neuer Blick auf die DDR.​

In Ihren Kurzporträts steht nicht etwa Ihr Geburtsort, sondern: geboren in der DDR. Ein Statement? Welche Überzeugung oder welches Bekenntnis steht dahinter?
Nein, das ist kein Statement, sondern einfach eine Tatsache. Wenn ich nur „Deutschland“ ansage, werde ich immer wieder gefragt: „Ost oder West“? Mein Geburtsort Guben (damals und heute noch in meinem Ausweis: Wilhelm-Pieck-Stadt Guben) wirft meist mehr Fragen auf als Antworten. Es sind also weitgehend pragmatische Beweggründe. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch meinen LeserInnen gegenüber transparent sein. Niemand kann sich völlig seinem Hintergrund entziehen und das gilt umso mehr, wenn man ein Buch über das Land schreibt, in dem man geboren wurde.

Groß gefeiert wurden Sie in Ihrer englischen Wahlheimat für Ihr Buch „Blood and Iron“ über das Deutsche Reich 1871 bis 1918 – die Zeit von Kaiser Wilhelm I., den Sie auch im Epilog Ihres neuen Buchs zitieren. Stichwort: Deutsche Einheit und Deutschland als Nation. Was genau interessiert Sie daran?
Die deutsche Nationalgeschichte, wenn es denn überhaupt eine gibt, fasziniert mich seit meiner Kindheit, gerade weil sie partout nicht nahtlos zusammenpassen will. Ich wurde von Lehrern unterrichtet, deren eigenes Geschichtsbild 1990 auf den Kopf gestellt worden ist. Wie konnten dieselben Fakten, die eben noch als Befreiungsgeschichte der deutschen Arbeiterschaft zusammengeknüpft wurden, nun als Geschichte deutscher Diktaturen, mit 1990 als Happy End, erzählt werden? Wie trennt man sich von heute auf morgen von Marx als deutschem Helden und wendet sich stattdessen Adenauer zu? Gleichzeitig sorgten Urlaubsreisen, in meinem jungen Kopf für Verwirrung. Während andere Kinder mit ihren Eltern in den Inklusiv-Urlaub flogen, grübelte ich im Teutoburger Wald über Arminius, suchte in der Gedenkstätte Walhalla nach einem freien Sims oder wunderte mich in Österreich warum, wenn man in einem benachbarten Land auch deutsch spricht, man die beiden Länder nicht einfach zu einem macht. „Blood and Iron“ war mein Versuch, den Ursprung des deutschen Nationalstaates zu verstehen und in die deutsche Geschichte einzuordnen, ohne der Versuchung zu verfallen, ihn in ein festes Narrativ zu drücken.

„Ich lernte auf einer Simson S 51 Moped fahren.“

Sie sind 1985 geboren, also vier Jahre vor dem Ende der DDR. Wer oder was hat Ihr Bild von der DDR geprägt?
Durch die Wiedervereinigung veränderte sich zwar vieles, aber die Menschen und die Umgebung brauchen eine Weile länger. Zu Weihnachten lief bei uns noch lange Frank-Schöbel-Schallplatte, ich lernte auf einer Simson S 51 Moped fahren und meine Oma hat bis heute ihre DDR-Schrankwand im Wohnzimmer. Ich selbst bin auch durch meine DDR-Kindergartenzeit geprägt worden, wo man mich wegen meiner körperlichen Eignung für Geräteturnen als Leistungssportlerin ausgewählt hatte, was ich noch lange nach der Wende weiter ausübte. Alle Personen um mich herum waren in der DDR aufgewachsen und kannten nichts anderes: Lehrer, Nachbarn, Eltern usw. Die gesellschaftlichen Strukturen der DDR hinterließen auch Spuren. Meine Eltern sind sehr jung im Vergleich mit dem deutschen Durchschnitt. Meine Mutter arbeitete immer Vollzeit, auch nach der Wende und obwohl meine jüngere Schwester und ich noch klein waren. Wir lebten in einer Plattenbauwohnung und ich bin auch zum Studium in Jena wieder in eine gezogen. Spuren der DDR-Vergangenheit finden sich überall in meinem Leben und das wirkt sicher nach.

Was hat Ihr Interesse an Geschichte geweckt und Sie dann zum Studium bewegt?
Hauptsächlich die Fragen, die mir niemand beantworten konnte oder wollte. Ich bin sogar mal aus dem Politikunterricht geschickt worden, weil ich die Lehrerin gefragt hatte, ob es einfach ist, uns heute zu erklären, warum der Sozialismus niemals wirtschaftlich funktionieren kann, wenn sie doch sicherlich ihren Schülern ein paar Jahre zuvor das Gegenteil beibrachte. Meine Eltern waren und sind ebenfalls sehr geschichtsinteressiert und wir hatten viele spannende Bücher zu Hause. Jena schien mir ein idealer Ort, um der komplizierten Geschichte Deutschlands auf den Grund zu gehen.

Die Deutsche Demokratische Republik ist seit über 30 Jahren Geschichte. Was hat Sie bewogen, die DDR nun in Ihrem neuen Buch zu beleuchten?
Genau die Tatsache, dass sie nun seit über 30 Jahren Geschichte ist. Wir haben nun eine ganze Generation, die im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen ist und die bitteren ideologischen Fronten des Kalten Krieges nicht selbst miterlebt hat. Das andere Deutschland gibt es nicht mehr und damit auch das Konkurrenzmodell nicht. Ich hoffe, dass das genug Abstand ist, um die DDR als Ganzes zu betrachten, nicht mehr nur ausschließlich durch das Prisma der Mauer. Es gab ja ein Leben jenseits der Mauer, und das möchte ich in meinem Buch umreißen in allen Facetten, die es hatte und aus Sicht derjenigen, die dort gelebt haben.

„41 Jahre Trennung haben Spuren hinterlassen.“​

Legendär sind Willy Brandts Worte zum Mauerfall 1989: „Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“ Wie erfüllte sich diese Hoffnung aus Ihrer Sicht?
Im Großen und Ganzen erfüllte sie sich, trotz aller „Abers“, die man dazufügen muss. Schon während der Teilung hatten sich die Sowjets immer wieder Sorgen gemacht, dass die Deutschen eigene Kanäle finden könnten, miteinander zu kommunizieren, weil die Teilung eben politisch bedingt und nicht historisch gewachsen war. Die Beziehung zwischen Helmut Kohl und Erich Honecker zum Beispiel war trotz aller politischen Gegensätze auch vom gemeinsamen Deutsch-sein geprägt. Bei einem Treffen in Moskau soll Kohl mal zu Honecker gewitzelt haben, dass sie doch einfach im Dialekt sprechen könnten, dann würde sie niemand verstehen können. Ihre Geburtsorte lagen ja nur rund 100 km auseinander. Die Wende hat also schon zusammengeführt, was zusammengehört. Woran ich und viele andere ehemalige Ostdeutsche sich stoßen, ist die Erwartung, dass das Zusammenwachsen sofort und einseitig geschehen sollte, ohne dass viel darüber nachgedacht wurde, dass 41 Jahre Trennung auch Spuren hinterlassen.

Sie diagnostizieren eine Schieflage vom „Stabilitätsstaat“ BRD und der „Anomalie“ DDR. Welche Hauptirrtümer möchten Sie korrigieren? Worauf sollte man die DDR nicht reduzieren?
Ich möchte, dass die DDR nicht als Fußnote oder Nebenstrang in die deutsche Geschichte eingeht und auch nicht als Gegenentwurf zur Bundesrepublik. Beide deutschen Staaten entstanden als eine Nachfolge der NS-Zeit und des zweiten Weltkriegs. Die vier Dekaden, die folgten, versuchten ein neues Deutschland aufzubauen, allerdings mit zwei unterschiedlichen Modellen. Egal wie man das politisch bewertet, diese Phase in der deutschen Geschichte war lang und prägend – zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war es ein Drittel der Jahre, in der Deutschland als Nationalstaat existierte. Die DDR hat in dieser Zeit ihre Bürger genauso stark geprägt wie die BRD ihre. Wenn man die Erfahrungen und Ereignisse, die in dieser Zeit im Osten entstanden sind, einfach als Fehler abschreibt, tut man dies für einen substantiellen Teil deutscher Lebenserfahrungen und das erscheint mir falsch.

Könnte man sagen, Sie entwerfen ein neues Narrativ für Deutschland?
Ich möchte zumindest weiter an dem Konzept der „Vergangenheitsbewältigung“ rütteln, wie es auch schon andere vor mir getan haben. Auch „Aufarbeitung“ erscheint mir ein ungeeigneter Begriff, weil er DDR noch immer als eine Art Trauma der Nation behandelt. Es wird oft nur der Diktatur-Aspekt der DDR als würdig empfunden, in die deutsche Erinnerungskultur einzugehen und in den Einheitsprozess einzufließen. Dabei klammert der Fokus auf Partei und Politik viele Aspekte (ost-)deutscher Lebensgeschichten aus. Das führt nicht nur heute zu Unmut, sondern verengt das Geschichtsbild Deutschlands insgesamt.

„Offener über beide deutschen Staaten reden.“

Als Auftakt wählen Sie einen „historischen Moment“. Was macht den 3. Oktober 2021 für Sie dazu? Und wofür ist hier die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel typisch oder symbolisch?
Die langjährige Kanzlerin des wiedervereinigten Deutschlands sprach zum ersten Mal deutlich darüber, dass selbst sie, die die Wende als Ostdeutsche enorm erfolgreich bewältigte und rasch an die Spitze der Politik aufstieg, kulturelle Unterschiede wahrnahm und Schwierigkeiten dabei hatte und noch heute hat. Sie sprach davon, sich noch immer als Bundesdeutsche beweisen zu müssen und unter dem Druck zu stehen, den „Ballast“ ihrer DDR-Biografie abzuwerfen. Sie sprach, wie sie es ausdrückte, „als Bürgerin aus dem Osten […], als eine von mehr als sechzehn Millionen Menschen, die ein Leben in der DDR gelebt haben und die immer wieder solche Urteile erleben […], als ob dieses Leben vor der deutschen Wiedervereinigung nicht wirklich zählte […], egal welche guten und schlechten Erfahrungen man gemacht hat.“ Das war für mich ein Zeichen, dass vielleicht nun die Zeit gekommen ist, offener über beide deutschen Staaten zu reden, die ganze Generationen prägten und noch immer prägen.

Angela Merkel ist die erste von vielen Personen, an deren Geschichte Sie entlangerzählen. Worum geht es Ihnen bei diesen persönlichen Beispielen? Inwiefern haben sie Methode?
Ich wollte die Geschichte der DDR aus der Sicht derer schreiben, die sie erlebt haben. Es ist oft schwer nachzuvollziehen, welchen Einfluss politische Entscheidungen und Ereignisse auf die Menschen hatten. So zoomt mein Buch hin und her zwischen der großen Politik und Einzelschicksalen.

„Ich wollte auch normale Alltagsgeschichten hören.“

Worauf haben Sie Wert gelegt bei der Auswahl der Beispiele von ZeitzeugInnen?
Ich wollte die Bevölkerung der DDR in ihrer ganzen Bandbreite in meine Geschichte der DDR einbinden. Ich wollte auch normale Alltagsgeschichten hören. Wie war es, in der DDR zu leben und zu arbeiten? Was waren die Probleme und woran hat man sich erfreut? Das Spektrum meiner Zeitzeugen ist daher sehr weit. Ich habe mit Politikern gesprochen, aber auch mit Lehrerinnen, Grenzern, Klempnern, Buchhalterinnen und Soldatinnen, um nur ein paar zu nennen. Es war mir wichtig, allen zuzuhören.

Sie beginnen nicht erst mit der offiziellen Gründung der DDR 1949, sondern schon früher. Was macht es Ihnen so wichtig, die Vorgeschichte zu erzählen und warum beginnen Sie ausgerechnet in Sibirien?
Ich finde, es ist wichtig, die Umstände zu verstehen, unter denen die DDR entstanden ist, und die psychischen Spuren, die die Vorgeschichte in den Köpfen derer hinterlassen hat, die für Politik verantwortlich waren. Was den deutschen Kommunisten, die vor Hitlers Regime in die Sowjetunion geflohen waren, dort widerfuhr, ist unglaublich wichtig, wenn man verstehen will, welche Denkweisen, Hoffnungen und Ängste sie nach Deutschland mitbrachten, wo sie den Sozialismus unter diesen Eindrücken aufbauten.

Die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird oft als „Stunde Null“ beschworen. Wie zutreffend finden Sie diese Bezeichnung – speziell für den Osten Deutschlands, also die damalige sowjetische Besatzungszone?
Es hat sich schon viel getan, um diesen Begriff auch für die Bundesrepublik zu relativieren. Für die DDR ist er interessant, weil er andeutet, dass viele damals die Idee, den Sozialismus auf deutschem Boden zu realisieren, anziehend fanden. Man kann sich heute schwer vorstellen, welchen Eindruck zwei Weltkriege, ständige Wirtschaftskrisen, Genozid und Militarismus auf die Deutschen gehabt haben müssen. Viele schöpften Hoffnung aus der Idee, nun ein besseres Deutschland zu schaffen und 1945 damit zur Stunde Null zu machen. Gerade viele junge Leute, deren ganze Lebenswelt mit Hitlers Regime zusammenbrach, wollten ihre Ärmel hochkrempeln und ein neues Deutschland aufbauen.

Welche Chance blitzte nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten Deutschlands auf?
Der Idealismus vieler Ostdeutscher war real, aber die politischen Realitäten ließen ihnen kaum Handlungsspielraum. Nach den Verbrechen, die von Deutschland im zweiten Weltkrieg ausgegangen waren, war es vor allem für die Sowjetunion vorrangig, aus Deutschland Reparationen und Ressourcen abzuschöpfen, um das eigene Land wieder auf die Beine zu bekommen. Der Kalte Krieg brachte ebenfalls neue Prioritäten für die Besatzungsmächte. Dabei waren die Wünsche und Ambitionen der Bevölkerung Deutschlands erst einmal zweitrangig. Sie waren auch zweitrangig für diejenigen, die in der Sowjetischen Zone den Auftrag hatten, nach dem Krieg neue Verhältnisse zu schaffen und das oftmals mehr nach ihrem eigenen ideologischen Gutdünken taten, auch wenn dies wirtschaftlich und politisch verheerende Folgen mit sich brachte.

Die Errichtung der Mauer 1961 ist als gewaltige Zäsur in die Weltgeschichte eingegangen – um nicht zu sagen: als Schock. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Menschen in der DDR ein?
Die Auswirkungen auf die Menschen in der DDR waren völlig unterschiedlich, je nachdem, wer man war und was man vom Leben in der DDR wollte, aber sie beeinflussten das Leben jedes Einzelnen. Der Mauerbau machte den Staat zum Gefängnis für die, die ihn verlassen wollten und trennte viele von Freunden, Familie und Beruf. Aber er bedeutete auch, dass Fachkräfte wie Handwerker, Ingenieure und Bauern nun im Land bleiben mussten und ihm weiter zur Verfügung standen. Außerdem musste sich die Regierung nun bemühen, das Leben in der DDR lebenswert zu machen, was die Bedingungen graduell verbesserte. Es war für mich augenöffnend, so viele verschiedene Meinungen zum Thema zu hören von denjenigen, die sich gut an diese Zeit erinnern können. Einige waren empört und noch heute sichtlich wütend darüber. Andere konnten sich nicht einmal erinnern, wann und wo sie erfuhren, dass die Mauer gebaut wurde, weil es für sie vollkommen irrelevant schien. Wieder andere waren froh, dass nun die Ärztin im Ort bleiben musste.

„Ende der 1960er Jahre entstand ein Fortschrittsoptimismus“

Das Kapitel „Es geht voran“ widmen Sie dem Fortschritt in der DDR. Was ist symbolisch dafür? Welche Hauptbeispiele würden Sie nennen?
Gegen Ende der 1960er Jahre entstand ein weit verbreiteter Fortschrittsoptimismus in der DDR, der sich auch bei vielen der Menschen, die ich für mein Buch befragte, als solcher in den Erinnerungen einprägte. Symbolisch dafür steht vielleicht der Fernsehturm am Alexanderplatz in Berlin, der noch heute das höchste Gebäude Deutschlands ist. Auch die Jugendweltfestspiele von 1973, die acht Millionen Menschen nach Ostberlin lockten (darunter auch Tausende Westdeutsche), kann man in diesem Zusammenhang nennen. Das auch als „Woodstock des Ostens“ bekannte Festival beeindruckte selbst westdeutsche Journalisten wie Manfred Rexin, der erstaunt war über „das Erlebnis einer DDR, die nicht so muffig war, wie wir sie in den 1950er-Jahren erlebt hatten und noch schlimmer nach dem Mauerbau. Sondern es war – so schien es – eine DDR im Aufbruch und Umbruch, und darauf hat man Hoffnungen gesetzt.“

Einen Abstecher unternehmen Sie mit dem Ersten Sekretär Walter Ulbricht und seiner Ehefrau Lotte nach Ägypten. Von solchen Sehnsuchtszielen konnten die Normalbürger der DDR nur träumen. Ein Debakel, oder?
Das wurde von vielen Bürgern nicht so empfunden und es war auch kein Abstecher. Die Ulbrichts waren ja nicht in den Urlaub gefahren, sondern auf einer politischen Reise, die den diplomatischen Durchbruch der DDR bedeuten sollte. Seit die Hallstein-Doktrin der BRD von 1955 den Alleinvertretungsanspruch Bonns für alle Deutschen – in Ost und West – formuliert hatte, war die DDR diplomatisch und wirtschaftlich isoliert gewesen. Der Besuch in Ägypten, bei dem Ulbricht die Spannungen zwischen Kairo und Bonn ausnutzen konnte, wurde als diplomatischer Triumph gefeiert. Dem westdeutschen Botschafter wurde mitgeteilt, dass Kairo erwäge, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen. Viele DDR-Bürger empfanden Lotte Ulbrichts Stolz nach, als diese später schrieb: „Unser Arbeiter- und Bauern-Staat gilt also etwas in der Welt!“

Wie beurteilen Sie die Bedeutung des Sports in der DDR?
Sport in der DDR ist und bleibt ein schwieriges Thema. Ich möchte in meinem Buch weder die Auswirkungen des systematischen Dopings unter Sportfunktionär Manfred Ewald noch die sportlichen Errungenschaften derer, die hart dafür trainierten, beiseiteschieben. Die Wahrheit liegt dazwischen, darin, dass die Schattenseiten und die enormen Erfolge des staatlich geförderten Sports zur Geschichte der DDR gehören. Man macht es sich zu leicht, wenn man die immensen Erfolge des kleinen Staates ausschließlich auf die weit verbreiteten Dopingpraktiken zurückführt. Die Kugelstoßerin Margitta Gummel, eines der bekanntesten Beispiele des staatlichen Dopingprogramms, war schon eine herausragende Athletin, bevor sie ihre ersten Steroide bekam. Die 20-Meter-Marke, die sie dabei knackte, wurde später auch von anderen Leichtathletinnen erreicht, darunter drei aus Westdeutschland. Wenngleich es unwahrscheinlich ist, dass die DDR ohne Doping so wundersam erfolgreich gewesen wäre, lassen sich ihre Erfolge damit nicht allein erklären. Es wurde eben auch viel Geld, Zeit und Anerkennung investiert, um den Sport zum Teil des Alltagslebens in der DDR zu machen.

„Ich wünsche mir mehr Verständnis, Empathie und Interesse.“

Was wünschen Sie sich für das Zusammenwachsen Deutschlands? Wie würden Sie Ihre persönliche Version auf den Punkt bringen?
Ich wünsche mir vor allem mehr Verständnis, Empathie und Interesse dafür, wie die Ostdeutschen zwischen 1949 und 1990 gelebt haben. Natürlich waren Mauer, Stasi und Stacheldraht ein Teil ihrer Geschichte, aber eben auch Arbeit, Zugehörigkeit und Idealismus. Wenn man immer nur davon ausgeht, dass es die Aufgabe der Ostdeutschen sei, alles, was sie erlebt haben, zu vergessen oder zumindest neu zu bewerten und sich dabei so schnell wie möglich in ein Land einzugliedern, dass sich ohne ihren Beitrag entwickelt hat, perpetuieren sich alte und neue Bilder des „Anderen“.