Das Geschichtenerzählen ist essenziell – für den Autor Martin Kordić genau wie für die Helden seiner Romane. In seinem preisgekrönten Debüt „Wie ich mir das Glück vorstelle“ hält der junge Viktor im Schreibheft seine Welt fest, die im Krieg zerfällt. Und nun erzählt in Kordićs neuem Roman „Jahre mit Martha“ der Einwanderersohn Željko die Geschichte seines Weges in eine für ihn neue Welt – unsere ungleiche Gesellschaft. Ein Meisterwerk!

Wird durch Ihre Erfahrung als Lektor das Romanschreiben leichter oder womöglich komplizierter?
Was ich am Schreiben mag, ist die Konzentration. Das ist für mich vergleichbar mit Erfahrungen beim Sport. Ich bin so drin, dass alles andere sehr weit weg ist. Auch das Lektorsein ist dann höchstens noch unterbewusst da.

Auf den ersten Blick könnte man Ihr neues Buch für eine Liebesgeschichte halten, aber Sie ziehen viel größere Kreise. Was ist für Sie die Hauptsache? Und was das Herzstück?
Wichtig war mir beim Schreiben immer die Entwicklung von Željko. Es geht auch um Begehren und Einsamkeit, um Klassismus und Herkunft, aber das Zentrum ist Željko. Es ist seine Geschichte.

Wie würden Sie Ihren Romanhelden Željko Draženko Kovačević alias Jimmy vorstellen?
Željko ist ein Junge aus Ludwigshafen, der in seinem Leben von klein auf immer wieder konfrontiert ist mit der Botschaft: „Da gehörst du nicht hin.“ Für ihn geht es darum, sich gegen diese Zuschreibung zu wehren, Welten zusammenzuführen und dabei inneren Frieden zu finden.

Was macht den 15-jährigen Željko zum typischen Teenager und was unterscheidet ihn von seinen Altersgenossen?
Er will das beste Abitur in ganz Rheinland-Pfalz machen – aus reiner Notwehr. In Bildung sieht er die Möglichkeit, seinem Leben einen anderen Lauf zu geben. Das Wort „Teenager“ ist für ihn sehr weit weg.

„Ich glaube, wir teilen die Ruhelosigkeit.“

Wie Ihre eigene Familie stammen auch die Eltern von Željko aus Bosnien-Herzegowina. Wieviel (vom 15-jährigen) Martin Kordić steckt in Željko alias Jimmy? Was haben Sie ihm von sich mitgegeben?
Ich glaube, wir teilen die Ruhelosigkeit. Ich habe auch immer irgendetwas gemacht, gelesen, geschrieben, gearbeitet. Ansonsten gibt es zwischen Željko und mir sehr viele Unterschiede. Bei mir stammen beispielsweise nicht beide Elternteile aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ich habe auch nie einen Wellensittich besessen, den ich nach Lothar Matthäus hätte benennen können.

Was hat es Ihnen wichtig gemacht, die Geschichte(n) von Željko, seinen Eltern und Geschwistern zu erzählen?
In Bezug auf die Familie war es mir vor allem wichtig, unterschiedliche Lebenswege zu erzählen, weil man mit seiner Herkunft ja ganz unterschiedlich umgehen kann. Die Eltern von Željko sind sehr demütig und arbeiten sich kaputt, wollen um keinen Preis negativ auffallen. Und die Geschwister sind überhaupt nicht so rastlos und wütend wie Željko.

In der Schule hat Željko zwar beste Noten, aber keine guten Karten. Was ist das Problem?
An einer Stelle im Roman streiten sich Željko und sein älterer Bruder, weil Željko an einer Universität studieren möchte. Der Bruder schüttelt ihn und sagt: „Das ist nichts für Kinder wie uns.“ – Für Željko ist das eine schmerzhafte Erfahrung. Dass sogar sein eigener Bruder glaubt, was andere ihm sein Leben lang gespiegelt haben. Das ist das Problem.

„Er will es sich selbst und anderen beweisen.“

Željko entwickelt unermüdliche Eigeninitiative. Was treibt ihn an und was ist das Imponierende an seinem persönlichen Lehrplan und seinen Lernmethoden?
Željko traut sich selbst viel mehr zu als andere ihm zutrauen. Daraus entsteht eine Wut, die ihn antreibt. Er will es sich selbst und anderen beweisen. Ein Anfang ist, dass er durch die Stadt zieht und Zeitungen aus Altpapiertonnen fischt. Er schreibt sich Wörter, die er nicht kennt, aus diesen Zeitungen heraus und schlägt nach, was sie bedeuten. Er erarbeitet sich zuallererst eine andere Sprache, die Sprache der Bildungsbürger.

Željko verliebt sich nicht etwa in ein gleichaltriges Mädchen, sondern in Martha – für ihn erst einmal Frau Gruber. Was zieht ihn so unwiderstehlich an?
Martha verkörpert alles, was Željko sich wünscht. Sie ist blond, vermögend und gebildet. Sie hat ein Haus und eine Bibliothek. Sie führt genau das Leben, das er sich für sich erträumt. Und Martha nimmt ihn wahr.

Was macht für Željko und Martha den Zauber der ersten Male aus, die beide miteinander erleben?
Den Zauber aller ersten Male: Aufregung.

Zwischen Željko und Martha entwickelt sich ganz behutsam immer mehr Nähe. Welchen Fragen spüren Sie bei dieser unkonventionellen Beziehung nach?
Es sind Fragen von Macht und Hingabe, Liebe und Ausbeutung. Man kann sich vorstellen, dass für beide auch eine große Unsicherheit mitschwingt, ob sie sich überhaupt füreinander interessieren dürfen.

„Meinen sie es gut miteinander oder nicht?“

Worin besteht die Gratwanderung der Beziehung zwischen Martha und Željko?
Die große Gratwanderung besteht im krassen Gefälle zueinander. Bei den beiden kann alles sehr schnell kippen zu etwas Ungutem. Die Frage, die über vielen Szenen steht, ist deshalb: Meinen sie es gut miteinander oder nicht?

Željko bezeichnet die Liebe als „durch und durch paradoxe Angelegenheit“. Wie würden Sie es nennen?
Das Wort „Liebe“ lässt sich sowieso kaum in einen Satz bringen, der nicht gleich auch etwas banal klingt. Darum gehe ich aufs Ganze: Liebe ist groß.

Die Bibliothek von Martha Gruber wirkt auf Željko wie eine Offenbarung. Was entfaltet hier so intensive Wirkung auf ihn und was verändert dieses Schlüsselerlebnis für ihn?
In dieser Bibliothek zu stehen, fühlt sich für Željko an, als würde ihn jemand in ein Geheimnis einweihen. Erst in diesem Raum wird ihm bewusst, dass, egal wie viel Geld seine Eltern noch verdienen würden, sie ihm den Zugang zu einem Raum voller Bücher niemals bieten könnten.

„ … bei den Büchern die Träume und die Ruhe.“

Wie gestaltete sich bei Ihnen selbst die Initiation in die Welt der Bücher?
Bei mir war es die Stadtbücherei. Da bin ich als Kind gern hingegangen, weil es dort so schön ruhig war. Draußen das Leben und die Unruhe, bei den Büchern die Träume und die Ruhe.

Bei einem Lektor und Autor wie Ihnen hat sich vermutlich auch einiges an Büchern angesammelt. Können Sie einschätzen, wie viele es sind? Wie behalten Sie den Überblick?
Was Bücher betrifft, bevorzuge ich das Chaos. Die Anordnung in Bücherregalen gefällt mir nicht wirklich. Sobald ich sie in ein Regal stelle, nehmen sie kaum mehr an meinem Leben teil. Die Bücher hingegen, die jahrelang wild durch die Wohnung wandern und sich hier und da zu Büchertürmen stapeln, das sind die, die mich wirklich beschäftigen. Das Wachstum ist allerdings beschränkt, weil ich aus Platzgründen immer wieder aussortieren muss.

Womit haben Sie selbst Ihr erstes Geld verdient und welche Wünsche haben Sie sich damit erfüllt?
Ich habe in den Sommerferien in Bosnien-Herzegowina Haare aufgekehrt. Einer meiner Onkel war Friseur und nach jedem Kunden habe ich den Boden gefegt. Das gab ein paar Mark am Tag und meine Wünsche waren klein: Coca-Cola und Reisschokolade.

„Die Texte sind oft voller Sehnsucht und Verzweiflung.“

Typisch für Željko, dass er sich von seinem Ferienjob-Verdienst Bücher kauft. Was macht die nahezu vergessene Autorin Hertha Kräftner und ihr Werk zum „Fund von Bedeutung“ und zum Lebensbuch für Željko und womöglich auch für Sie?
Hertha Kräftner ist eine Autorin, die tatsächlich nicht nur Željko, sondern auch mich selbst schon lange begleitet. „Kühle Sterne“ ist eines der Bücher, das ich seit Jahren immer wieder irgendwo aufschlage, um ein paar Seiten darin zu lesen. Es ist eine Sammlung von nachgelassenen Gedichten, Prosastücken und Briefen. Die Texte sind oft voller Sehnsucht und Verzweiflung, sie haben etwas Unmittelbares, Direktes, Schutzloses, das mich immer wieder neu in ihren Bann zieht.

Welches Buch war für Sie eine so besondere Entdeckung und was macht es Ihnen bedeutsam?
„Das große Heft“ von Ágota Kristóf. Ihre Sprache ist so dicht und reduziert, es beeindruckt mich immer wieder aufs Neue, was für eine große Geschichte auf nur 160 Seiten passt.

Die Schriftstellerin Lena Gorelik bewundert, dass Sie in „Jahre mit Martha“ alles erzählen, „was es über das Einwanderungsland Deutschland zu sagen gäbe“. Worauf kommt es Ihnen dabei am meisten an?
Ich habe versucht, abzubilden, dass die Dinge auf diesem Gebiet überhaupt nicht einfach zu fassen und zu pauschalisieren sind.

Željko, seine Eltern und Geschwister ringen auf ganz unterschiedliche Weise, aber alle mit großem Einsatz um einen Platz in der deutschen Gesellschaft. Was interessiert Sie und bewegt Sie an den einzelnen Lebensstrategien?
Wenn die Mutter von Željko eine tiefgefrorene Schwarzwälder Kirschtorte aus dem Supermarkt kauft, um sie Martha Gruber anzubieten, macht sie das aus Scham, aus Selbstverleugnung, in letzter Konsequenz vielleicht sogar aus Angst. Die vielen Nuancen der darin verborgenen Tragik zu erzählen, das habe ich versucht.

Die Träume der Familie Kovačević treffen auf deutsche Wirklichkeiten wie die NSU-Mordanschläge. Was macht Ihnen das Spiegeln der Zeitgeschichte wichtig?
Alles geschieht ja immer in einem Kontext und nicht einfach so. Die Geschichte, die ich geschrieben habe, ist in der Realität verhaftet. Zeitgeschichtliche Ereignisse sind Teil der Romanhandlung, wenn sie Einfluss auf das Leben der Figuren nehmen. Dann kann ich sie nicht ignorieren.

Welche Hoffnung verbinden Sie mit Ihrem Roman?
Dass es Menschen gibt, denen er etwas bedeutet.