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Viel steht auf dem Spiel: Zwei der profiliertesten Intellektuellen Deutschlands sehen den Gefahren ins Auge, die unsere Demokratie bedrohen. Diese hochbrisante Entwicklung, die tatsächlichen Ursachen und Herausforderungen untersuchen der Philosoph Richard David Precht (RDP, links im Bild) und der Sozialpsychologe Harald Welzer (HW, rechts im Bild) in ihrem ersten gemeinsamen Buch: „Die vierte Gewalt“. Im Fokus: die Massenmedien und ihre Schlüsselrolle in der Demokratie. Eine präzise Analyse fordert zur lebendigen Diskussion heraus!
Was verbindet Sie beide?
RDP: Bevor ich Harald Welzer kannte, habe ich eine Rezension über sein großartiges Buch über künftige Klimakriege geschrieben und dann haben wir uns auf der Buchmesse getroffen und kennengelernt und festgestellt, dass wir uns in sehr vielen Punkten verblüffend einig sind und in Meinungen, Ansichten und Themen, die uns gerade beschäftigen, übereinstimmen.
Mit welcher Absicht haben Sie Ihr Buch geschrieben?
HW: Der Hauptzweck unseres Buches ist es, Veränderungen im Mediensystem nachzeichnen. In jedem gesellschaftlichen System gibt es Veränderungsprozesse. Aber das Mediensystem ist ein gesellschaftlicher Teilbereich, der eng mit der Demokratie und der Frage der demokratischen Öffentlichkeit verbunden ist. Und insofern sind Veränderungen im Mediensystem für unser Zusammenleben und die demokratische Ordnung erheblich wichtiger als beispielsweise Veränderungen von der fossilen Automobilität hin zur elektrischen Automobilität. Deshalb schien es uns sinnvoll, diese Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte zu rekonstruieren.
Was war der Auslöser?
HW: Der konkrete Auslöser ist, dass wir eigentlich seit der Flüchtlingskrise 2015/16 beobachten können – und nicht nur wir, das kann man auch wissenschaftlich sehr gut belegen, – dass es eine Entfernung der publizistischen Öffentlichkeit von der lebensweltlichen Öffentlichkeit gibt. Die veröffentlichte Meinung unterscheidet sich an vielen Stellen von der öffentlichen Meinung. Und das ist keine gute Entwicklung, weil die Medien ja auch unter anderem dafür da sind, Stimmen zur Geltung zu bringen, die in der Politik nicht hinreichend vorkommen. Medien sind dafür da, zu analysieren, Hintergrundinformationen aufzubereiten etc., um das Meinungsspektrum in der Breite abzubilden und beurteilbar zu machen. Und genau das tun sie nicht.
Woher kommt es, dass uns oft etwas als Mehrheitsmeinung erscheint, es aber offenbar keine ist?
RDP: Die Leitmedien orientieren sich in ihrer Meinungsbildung sehr selten an ihren ZuschauerInnen, HörerInnen oder LeserInnen, sondern in erster Linie an dem, was ihre KollegInnen meinen. Und dadurch, dass die Szene sich wechselseitig spiegelt und bestätigt, kann es passieren, dass in den Leitmedien Mehrheitsmeinungen entstehen, die keine Mehrheitsmeinung in der Öffentlichkeit sind.
„Wie entsteht eine solche Lücke zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung?“
Was sind für Sie die zentralen Fragen, mit denen Sie an das Thema herangegangen sind?
RDP: Ein Anlass war aktuell das Thema der Waffenlieferungen an die Ukraine. Bei dieser Frage ist die Öffentlichkeit etwa hälftig dafür bzw. dagegen. In der veröffentlichten Meinung aber ist sie in Kommentaren und Meinungsseiten beinahe zu 100 Prozent für diese Waffenlieferungen. Wir wollten uns nun erklären, wie eine solche Lücke zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung entsteht.
Was halten Sie von dem Vorwurf, die veröffentlichte Meinung würde gesteuert?
RDP: Wir wussten von Anfang an, die veröffentlichte Meinung entsteht eben nicht dadurch, dass die Regierung den Medien vorgibt, was sie zu schreiben oder zu denken haben. Wir kennen die Medien selbst viel zu gut, um ganz sicher zu wissen, dass das nicht der Fall ist. Uns haben die Prozesse interessiert, die zu den Selbstangleichungen führen, die wir beobachten können. Und genau das ist das eigentliche Thema unseres Buches! Wir untersuchen die soziologischen, sozialpsychologischen und philosophischen Motive, die dazu führen, dass die Medien sehr häufig in großen Fragen jeweils immer an einem bestimmten Punkt der gleichen Meinung sind – obwohl sich dieser Punkt auch ändern kann. Ein schönes Beispiel dafür ist, dass unsere Medien anfangs mehrheitlich gegen eine allgemeine Impfpflicht waren. Dann allerdings, als sich der Wind drehte, weil die Zahlen der Infektionen stark anstiegen, fast kollektiv für die Impfpflicht waren – um dann Monate später schon wieder absolut dagegen zu sein. Das Entscheidende ist eben: Obwohl man auf so schwankendem Boden steht und obwohl sich die Meinung so leicht und so oft verändern kann, ist es auffallend, dass so große gleiche Mehrheiten im Moment entstehen! Und das kann man mit den Analyseelementen der Sozialpsychologie erklären.
Sie beide beleuchten Medien nicht von außen, sondern haben beide praktische Erfahrungen in den Medien.
HW: Ich wollte eigentlich schon während meines Studiums Journalist werden und habe damals auch beim Hörfunk begonnen. Aber das ist vor 40 Jahren gewesen. Mit der Promotion habe ich dann aber meinen Weg in die Wissenschaft gefunden. Aufgrund der Verwicklungen, die es im Leben halt so gibt, habe ich diesen Weg weiterverfolgt. Ich habe aber parallel immer als freier Autor geschrieben, Kommentare, Essays, Kunstkritiken usw. Und ich gebe ja seit 6 Jahren mit der „taz FUTURZWEI“ selbst eine Zeitschrift heraus, bin also auch Medienmacher.
RDP: Also ich habe von Mitte der 90er Jahre an bis 2008 für fast alle großen Leitmedien geschrieben – mit Ausnahme der Süddeutschen Zeitung. Aber sehr viel für die FAZ und jahrelang als Medienjournalist für die ZEIT. Ich habe für den WDR gearbeitet, für die Sendung „TagesZeichen“ … 1997 in den USA für die Chicago Tribune …“
„Das große Zauberwort: deliberativ, d.h. beratschlagend.“
Sie fürchten um die Demokratie?
RDP: Das große Zauberwort einer gut funktionierenden Demokratie ist das Wort deliberativ. Das heißt: beratschlagend. Eine Demokratie ist folglich umso besser, je mehr Menschen die Möglichkeit haben, sich in diese Demokratie einzubringen und eine Stimme zu finden. Man kann das ganz kurz definieren: Eine gut funktionierende Öffentlichkeit besteht darin, dass möglichst viele Gleiche über Gleiches reden können, ohne die gleiche Meinung haben zu müssen. Wenn das gegeben ist, wenn es also einen hohen partizipatorischen Anteil gibt, dann können die Medien ihre Funktion erfüllen, die von MedienwissenschaftlerInnen ziemlich einheitlich so definiert wird: nämlich dass man erstens so informativ wie möglich sein sollte, zweitens so inklusiv wie möglich, also möglichst viel sehen, berücksichtigen, aufnehmen und drittens so integrativ wie möglich. Die Aufgabe der Medien besteht auch darin, die Gesellschaft nicht zu spalten, sondern die Gesellschaft zusammenzuhalten. Das sind die Funktionszuschreibungen, die wir nicht erfunden haben, sondern von vielen MedienwissenschaftlerInnen, aber auch von PolitikerInnen so geteilt werden.
Herr Welzer, würden Sie dazu gerne etwas ergänzen? Denn Demokratie kann ja auch für einen persönlich eine bestimmte Bedeutung haben.
HW: Ja, das sollte sie! Weil ja die demokratische Ordnung und unser Rechtsstaat unsere Freiheit garantieren! Das ist das Entscheidende überhaupt, zivilisatorisch betrachtet, aber natürlich auch für das Individuum. Das ist natürlich etwas, was einen ganz wichtigen Punkt bezeichnet. Tatsächlich ist es so, dass wir in einer der freiesten Gesellschaften leben, die es in der Geschichte jemals gegeben hat. Und wenn es trotzdem passiert, dass bestimmte Äußerungen, die aber im Spektrum des Grundgesetzes verbleiben, als nicht zulässig erklärt oder diffamiert werden, oder denjenigen, die sich so äußern, in irgendeiner Weise Motive unterstellt werden, die in deren Äußerung gar nicht enthalten waren, dann entspricht das überhaupt nicht dem demokratischen System. Das ist der springende Punkt! Man kann auch das sehr schön zeigen an der Art und Weise, wie mit dem wichtigsten deutschen Philosophen und Denker umgegangen wurde, mit Jürgen Habermas, als er sich am 29. April erlaubt hat, in der Süddeutschen Zeitung einen Text zum Ukrainekrieg zu schreiben. Ich habe mir gerade jetzt noch einmal die Reaktionen durchgelesen: Es gab keine Auseinandersetzung mit seiner Argumentation. Sondern die medialen Reaktionen sind voller Unterstellungen, dass hier ein alter Philosoph befürchtet, seine Wichtigkeit zu verlieren, und aus solchen persönlichen Motiven diesen Text geschrieben habe. Auf diese Weise vermeidet man, sich mit dem, was Habermas inhaltlich geschrieben hat, auseinandersetzen zu müssen, und kann ungestört beim eigenen Meinen bleiben.
Was läuft schief?
HW: Wir haben jetzt eine Entwicklung von einer sachorientierten Debatte hin zu einer personalisierenden Debatte. Immer sind sofort die Personen und ihre vermeintlichen Motive im Vordergrund und man vermeidet dadurch die Auseinandersetzung mit vielleicht auch unangenehmen Fragestellungen. Fragen wie: Sehen wir die Sache richtig? Sieht die Politik es gerade richtig? Sind wir in der richtigen Entscheidungsrichtung unterwegs? Müssten wir was korrigieren? Alles das vermeide ich, wenn ich sage, Habermas ist ein alter Mann, der oberlehrerhaft versucht, sein Lebenswerk zu verteidigen. In unserem Buch haben wir auch einen Vergleich, wie anders Debatten in den 1980ern und 90ern geführt wurden. Da gab es in der Bundesrepublik ja große Debatten, den Historikerstreit, Günter Grass in der SS, Martin Walsers Rede in der Paulskirche … Wenn man sich das noch einmal ansieht, stellt man fest, dass zu der Zeit diese Personalisierung nicht existierte. Niemand sagte, Günter Grass hat ein persönliches Problem, raucht zu viel Pfeife etc., sondern es ging mit großer Bestimmtheit und durchaus Härte um die Sachfragen in der Diskussion! Es ging um Worte, Texte, historische Sachverhalte – aber nicht um die Person. Und das ist sehr schlecht für die Demokratie, wenn wir versuchen, jede Form der Auseinandersetzung zu personalisieren. Denn das bedeutet auch immer die Möglichkeit, ein Argument zu entwerten und zu diskreditieren, weil man schlicht sagt, der Typ ist scheiße.
„Eure Aufgabe ist es, der Politik auf die Finger zu schauen.“
Warum haben Sie denn den Titel „Die vierte Gewalt“ gewählt?
RDP: Der Begriff der „vierten Gewalt“ ist relativ alt. Aber eine richtige Bedeutung hat er eigentlich erst in der Bundesrepublik bekommen. Die Vorstellung, dass die Medien die „vierte Gewalt“ (im Staat) sind, die stammt aus der Adenauerzeit. In der Adenauerzeit waren die allermeisten Medien sehr brav und sehr systemkonform. Und da haben sich eine Reihe von liberalen DenkerInnen Sorgen darum gemacht, ob so überhaupt eine richtige Öffentlichkeit in der Bundesrepublik entstehen kann. In dieser Zeit also hat man der Presse einen Status gegeben, dass man gesagt hat, eure Aufgabe ist es, der Politik auf die Finger zu schauen, ihr müsst sie kontrollieren und so eine Art „vierte Gewalt“ werden. Aus der Zeit kommt diese Selbstdefinition. Und sie legt den Schwerpunkt aufs Kontrollieren. Die vierte Gewalt soll kontrollieren.
Und wie ist heute die Praxis?
RDP: Heute haben wir die Situation, dass die vierte Gewalt sich mit dem Kontrollieren nicht mehr begnügt. Als Olaf Scholz anfangs zögerlich war, ob man wirklich schwere Waffen in die Ukraine liefern sollte, ob man damit am Ende nicht vielleicht einen Dritten Weltkrieg auslöst – da haben die Medien einhellig auf Scholz eingehackt und einen unglaublichen Druck aufgebaut. Da fragt man sich, was ist das Selbstverständnis von HerausgeberInnen, LeitartiklerInnen, ChefredakteurInnen. Es scheint ja hier nicht mehr so zu sein, dass man die Politik kontrollieren möchte, sondern der Anspruch scheint nun zu sein, die Politik vor sich her zu treiben – also selber Politik zu machen! Und in der Tat sind wir heute in einer Situation, in der die Macht der Medien viel größer ist, als sie das in den 50er, 70er oder 80er Jahren war. Die Medien treiben zunehmend Politik und die PolitikerInnen werden zunehmend zu Getriebenen der Publizistik. Und das ist eine Rolle für die vierte Gewalt, die so nie irgendwo vorgesehen war. Also eine Art freundlicher Machtübernahme – die zu weit geht! Und das ist ein hochproblematischer Prozess, denn er unterbindet bestimmte für die Demokratie sehr wichtige Formen von Politik, z.B. eine langfristige Orientierung, also eine Politik, die sich um augenblickliche Beliebtheit nicht scheren muss. Da gibt es berühmte Beispiele: Leute wie Franz Josef Strauß oder Helmut Schmidt haben sich um augenblickliche Beliebtheit nie geschert. Solche Politikertypen, das wird ja häufig bemängelt, gibt es heute nicht mehr. Es kann sie nicht mehr geben – in einer Mediokratie, in der der Einfluss der Medien so gewaltig ist und von den PolitikerInnen als so großer Druck empfunden wird, können sehr viele politische Prozesse nicht mehr so stattfinden, wie sie das früher konnten.
„Leitmedien“ und „amtierende Medien“ – was verstehen Sie darunter?
HW: Der Begriff der amtierenden Medien ist eine Erfindung von uns. Er bezieht sich einfach auf den Selbstanspruch, wie Richard gerade ausgeführt hat: Wir, die amtierenden Medien, wissen, wo der Hammer hängt, was zu tun ist und vergeben gewissermaßen die Aufträge an die Politik und die Bürgergesellschaft.
Welche Faktoren wirken denn hauptsächlich auf das Agieren der Medien ein? Wovon sind die denn getrieben?
RDP: Sie sind natürlich von einem ökonomischen Druck getrieben, der sich sehr stark verändert hat. Unter anderem durch die Konkurrenz der Direktmedien, also durch Social Media. Social Media hat in den letzten 10 Jahren die Leitmedien karnevalisiert, mit Klamauk und Dauererregung. Das hat dazu geführt, dass sich Qualitätsstandards verändert haben, sich Arten und Weisen der Berichterstattung verändert haben, dass der Aktualitätszwang sich erhöht hat, dass Personalisierung um sich gegriffen hat – also es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die Folgen des direktmedialen Einflusses sind. Gleichzeitig ist der unerbittliche Wettbewerb unter den Medien in einer unglaublichen Informationsfülle und -flut gestiegen. – Sicher auch ein wesentlicher Grund dafür, warum die Leitmedien sich so verändert haben.
An welchen Beispielen würden Sie das Defizit an Differenziertheit gerne veranschaulichen?
HW: Die Frage des Ukrainekrieges ist etwas, wo wir schon eine gesellschaftliche Sondersituation haben. Weil wir im Bundestag keine Opposition haben (jetzt mal von der AfD und der Linken abgesehen). Die Regierungsparteien und die Oppositionsparteien CDU/CSU sind völlig auf einer Linie. Was zur Folge hat, dass eigentlich keine parlamentarischen Debatten stattfinden um Fragen wie „Handelt es sich hier um eine Zeitenwende“, „Ist es sinnvoll, was der Bundeskanzler, die Außenministerin machen“ usw.“
„… so komplex, dass man gar nicht einer Meinung sein kann.“
HW: Das wäre die Stunde einer Medienlandschaft, andere Positionen – wie sie in der Bevölkerung, aber auch in der internationalen Diskussion vorhanden sind – stark zu machen und gegen die Meinungsdominanz in den Parteien zu setzen. So dass wir vitale, öffentliche Debatten über diese Fragen, die alle elementar und folgenreich für unsere Zukunft sind, führen könnten. Es ist eine katastrophale Situation, wenn so etwas geschieht, ohne dass eine ernsthafte Auseinandersetzung erfolgt, die ja durchaus auch wohlmeinend sein kann. So aber marschieren wir in eine Richtung, ohne dass die möglichen Perspektiven abgewogen werden. Und diese Richtung ist nicht zwingend besonders erfolgversprechend. In der Sozialpsychologie haben wir hierfür den Begriff des Gruppendenkens. Wir wissen, dass Entscheidungen mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch ausfallen, wenn alle derselben Meinung sind! Ich kann es persönlich sagen: Als der Bundeskanzler seine Zeitenwende-Rede im Bundestag gehalten hat, und alle, absolut alle, schon drei Stunden später völlig derselben Meinung gewesen sind – da habe ich gedacht, das ist eine Katastrophe. Das darf gar nicht passieren! Weder in einer politischen Diskussionskultur noch gesellschaftlich ist es gut, wenn alle derselben Meinung sind. Gesellschaftliche Verhältnisse und historische Prozesse sind so komplex, dass man gar nicht einer Meinung sein kann! Das ist empirisch überhaupt nicht möglich. Und man verschenkt unglaublich viele Handlungsmöglichkeiten, wenn man nicht auf gegensätzliche Auffassungen und Meinungen hört. In der Sozialpsychologie kennt man z.B. folgendes Prinzip: Wenn man 9 Personen hat, die eine bestimmte Aufgabe lösen müssen, holt man eine 10. Person dazu, die von dem Thema keine Ahnung hat. Das ist der banale Klassiker, der aber leider nicht mehr beherzigt wird. Bei solchen zukunftsentscheidenden Prozessen, in denen wir gerade drinstecken, ist es ganz fatal, dass die 10. Person systematisch ausgeschlossen wird!
RDP: Das bedeutet: Je größer die Einigkeit im Bundestag ist, um so wichtiger wäre es, dass die vierte Gewalt, die ja kontrollieren soll, diese anderen Perspektiven massiv einbringt. Also genau das zur Diskussion stellt, was nicht zur Diskussion gestellt wurde! Genau das passiert aber nicht, sondern die vierte Gewalt hat genauso eine Einheitsmeinung in den Köpfen der führenden RedakteurInnen, ChefredakteurInnen oder AuslandschefInnen usw., wie wir sie im Prinzip im Bundestag auch hören. Aus unserer Sicht ist das schon ein Medienversagen, was wir hier beobachten. Vor allem, wenn wir mal in andere Länder schauen.
„Wir wollen die Medien vor sich selbst schützen.“
Die Entwicklung, die Sie schildern, stellen Sie die ausschließlich bei uns in Deutschland fest oder auch in anderen Demokratien?
RDP: Es gibt sie relativ oft und zwar vor allem aus dem Grund, dass wir uns als kriegsführende Partei betrachten. Und immer dann ist es so, dass eine gewisse Grundsolidarität der Medien eingefordert wird. Man muss aber sagen, dass es wenige Länder gibt, in denen es so ausgeprägt ist wie in Deutschland. In Frankreich zum Beispiel ist die Anzahl der kritischen Stimmen zum Thema Waffenlieferungen viel höher, in England wird intensiv über den Sinn der Embargos diskutiert, in den USA kommt die globale Perspektive zur Geltung. Und was wirklich ein interessantes Zeichen ist: Die Spitze der wirkungsmächtigsten Zeitung der Welt, der New York Times, hat ein Editorial geschrieben, in dem man gesagt hat, Joe Biden müsste mal die Frage beantworten, wohin das alles führen soll. Und man gibt zu bedenken: „Es könnte ja passieren, dass wir, die USA, in der Ukraine mehr Unheil anrichten als wir am Ende Gutes tun.“ So einen Satz wird man von keiner ChefredakteurIn, LeitartiklerIn usw. einer deutschen Zeitung finden, die zu den klassischen Qualitätsmedien gehören. In der FAZ nicht, der ZEIT nicht, der taz nicht, der Süddeutschen nicht, der Welt nicht.
HW: Ich hatte die Frage noch etwas anders verstanden, nämlich ob die Entwicklung des Mediensystems andernorts in vergleichbarer Art und Weise stattfindet. Haben Sie das auch gemeint? Das gehört zu den Fragen, wegen denen wir das Buch verfasst haben! Wir haben in den USA eine weitgehend zerstörte Medienlandschaft im Sinne der demokratischen Funktion von Medien. Da hat es ein großes Sterben von Zeitungen über Jahre hinweg gegeben. Es gibt und gab ohnehin nicht das System der öffentlich-rechtlichen Medien im Vergleich zu dem, wie wir es haben, insofern gibt es kein vernünftiges Korrektiv gegenüber den Privatmedien und den in wenigen Händen befindlichen Medienhäusern. Wir sehen zudem in den USA eine zerstörte Demokratie. Wir haben vergleichbare Prozesse wie in den USA mit der Politik von Rupert Murdoch in England und Australien, wir haben in Italien das Berlusconi-Phänomen gesehen. Und wir sehen immer, wenn es Monopolisierung und Entdemokratisierung in der Medienlandschaft gibt, dann ist das extrem schlecht für die Entwicklungen der Gesellschaften. Und das hat damit zu tun, dass Medien im heutigen Sinn ja auch erst mit der Entstehung unserer modernen Gesellschaften entstanden sind. Öffentliche Kommunikation ist ja ein jüngeres Produkt, das hat es so früher nicht gegeben. Und deshalb muss man realisieren, dass Veränderungen im Mediensystem folgenreich sind für das, was die umgebende Gesellschaft betrifft. Und wir sehen eben an den Entwicklungen in den USA und anderen Ländern, wie verhängnisvoll das tatsächlich sein kann. Wir haben ja schon einmal in einem Interview gesagt, dass wir die Medien vor sich selber schützen wollen. Es liegt uns völlig fern, den Medien irgendetwas zu unterstellen. Es geht uns vielmehr darum, dass ihre eminent wichtige gesellschaftliche Funktion in angemessener Weise ausgeübt wird.
Welche Leserschaft wünschen Sie sich für Ihr Buch?
HW: Alle, die an dem Wohlergehen unserer Gesellschaft interessiert sind! Schlicht und ergreifend. Das, was wir beschreiben, halten wir für so wichtig, dass wir dies als Buch für ein breites Publikum geschrieben haben.
RDP: Und ich würde mir wünschen, dass das Buch eine Diskussion lostritt, wir eine Debatte über ein Thema bekommen, das bisher viel zu wenig debattiert wird. Und ich glaube fest: Wenn wir eine frische, kritische, meinungsvielfältige Debatte hinbekommen, dann wäre das schon sehr viel besser als die Situation, die wir bisher haben.