GEDICHTE SIND in unserem Leben vielleicht präsenter, als wir im ersten Augenblick vermuten. Wer auf Instagram den Hashtag #poetry aufruft, dem werden über 73,1 Millionen Beiträge angezeigt – das sind mehr als bei #books. Der Sänger, Podcaster und Dichter Max Richard Leßmann veröffentlicht seit über vier Jahren Gedichte auf seinem Instagram-Account und hat nun seinen ersten Gedichtband „Liebe in Zeiten der Follower“ herausgebracht, der einen Safe Space in der turbulenten Welt von heute bietet. ​

Warum fällt es vielen Menschen leichter, sich für Lyrik auf Instagram zu begeistern, statt für klassische Gedichte, wie wir sie aus der Schulzeit kennen?
Ich denke das liegt ganz klar am Zeitgeist. Menschen, die heute ihre Texte auf Instagram veröffentlichen, nutzen eine offene, zeitgemäße Sprache und schreiben über Themen, die uns hier und jetzt berühren. Die klare Ansprache ist mir in meinen Texten sehr wichtig. Ich glaube, es ist ein Missverständnis, dass Klarheit und Tiefe sich ausschließen müssen. Einfache Sprache kann komplexe Themen auch in wenigen Zeilen spürbar machen, genauso kann eine sehr schnörkelige Ausdrucksweise auch ein Versteck für Belanglosigkeiten sein. Mir ist es als Lesender und als Schreibender wichtig, Emotionen zu erfahren, oder eben sie zu konservieren und bei der Leserschaft zu erzeugen. Ich denke aber auch, dass AutorInnen von heute Lesenden vielleicht auch die Tür öffnen können, um sich auch mit klassischer Poesie zu beschäftigen, wo es unglaubliche Texte gibt, die leider oft durch den Schulunterricht zu Unrecht einen faden Beigeschmack haben, die aber immer noch großartig und auch aktuell sind.

Seit wann begeistert dich Lyrik?
Sprache und Reime faszinieren mich seit meiner Kindheit, angefangen mit Kinderliedern, später dann mit Popsongs, schließlich auch viel mit Rap, war Musik für mich immer ein wichtiger Träger von Lyrik. Über Musik bin ich überhaupt damit in Kontakt gekommen, insofern war es wahrscheinlich auch logisch, dass ich als Jugendlicher eine Band gegründet und Lieder geschrieben habe. Viele Menschen sagen ja, sie würden sich nicht mit Gedichten beschäftigen, aber meistens stimmt das gar nicht.

„Die Musik, die wir alle tagtäglich konsumieren, besteht zu einem riesigen Teil nämlich genau daraus: aus vertonten Gedichten.“

Warum hast du begonnen, Lyrik auf Instagram zu posten?
Seit ich schreibe, habe ich einen großen Output, ich notiere mir den ganzen Tag über Gedanken und Ideen, Satzfetzen und Überschriften. Aus jedem Austausch, jedem Gespräch, aus jeder Situation im Alltag versuche ich etwas zu ziehen, Inspiration ist immer und überall. Und ich glaube fest daran, dass Kunst raus muss. Dass es ein Publikum braucht, damit aus den Gedanken, die eine einzelne Person hat, wirklich etwas entstehen kann. Es hat mich manchmal frustriert, wie lange es dauerte, ein Lied zu schreiben, zu produzieren und zu veröffentlichen, ich wollte einen schnelleren Prozess, direkteres Feedback, einen ehrlicheren Austausch. Und ich wollte mein Glück selbst in die Hand nehmen, mich auch als Autor sichtbar machen, jeden Tag einen Schritt in Richtung Schriftstellerkarriere gehen.

Was unterscheidet Instagram-Lyrik von klassischer Lyrik?
Zunächst einmal müssen sich die beiden gar nicht voneinander unterscheiden, da es sich bei Instagram in erster Linie um ein Medium handelt. Instagram-Lyrik wird gerne wie ein Schmähwort verwendet, um die Qualität von der klassischen Lyrik abzugrenzen. Ich glaube aber, dass sich viele der klassischen DichterInnen durchaus auch der sozialen Medien bedient hätten, gerade die, mit einem so massiven Katalog wie etwa ein Goethe.

„Goethe wäre sicher der König der Instagram-Poeten gewesen, allein schon vom Output.“

Hattest du mit diesem hohen Ausmaß an Interesse für Lyrik gerechnet, als du zu posten begonnen hast?
Am Anfang war das Interesse klein, das Feedback gering. Aber ich habe weitergemacht. Ich habe natürlich manchmal gezweifelt, aber das Schreiben an sich hat mich so sehr erfüllt, dass ich nicht aufgehört habe. Und das tut es immer noch, darüber bin ich ehrlich gesagt am frohsten. Der Erfolg ist schön, aber dass meine Leidenschaft nicht kleiner, sondern nur noch größer geworden ist in den vergangenen Jahren, das ist das wirkliche Geschenk, das ich mir durch diese kontinuierliche Arbeit, über mehr als 4 Jahre jeden Tag ein Gedicht zu veröffentlichen, selbst gemacht habe.

Welche Rolle spielt die „shareability“ beim Schreiben der Gedichte?
Das sind alles Dinge, über die ich mir beim Schreiben keine Gedanken machen möchte und es meiner Meinung nach auch gar nicht darf. Ich möchte in meinen Texten aufrichtig sein und nicht gezielt irgendetwas bedienen. Ich hoffe auch andere KünstlerInnen machen so etwas nicht. Das sollte den WerbetexterInnen vorbehalten bleiben.

Wie fühlte es sich an, als du deinen ersten gedruckten Lyrik-Band in den Händen hieltest?
Auch wie ein Geschenk. Aber dieses Mal wie eines, das direkt von meinen LeserInnen kam. Ohne den unglaublichen Support von ihrer Seite, wäre es undenkbar gewesen, dass dieses Projekt jemals dort ankommt, wo es jetzt ist. Auch mein Verlag hatte zu Beginn durchaus nicht unberechtigte Zweifel daran, 2022 einen Lyrikband zu veröffentlichen. Der Erfolg, der Einstieg in die Bestsellerliste, kommt uns allen immer noch unwirklich vor. Viel wertvoller ist aber der direkte Kontakt, die Nachrichten, die ich täglich bekomme. Es ist so schön, dass durch diese Gedichte eine Gemeinschaft entstanden ist, die sich gegenseitig emotional so beflügelt und hilft.

Um was geht es in den Gedichten deines ersten Gedichtbandes?
Liebe ist wahrscheinlich das zentralste Thema, deshalb auch titelgebend, aber nicht nur romantische Liebe ist damit gemeint. Auch Freundschaft, Nächstenliebe und Liebe zu sich selbst sind in meinem Leben und in meiner Arbeit wahrscheinlich die wichtigsten Fixpunkte. Damit geht auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche für mich einher, ich leide seit meiner Kindheit an Depressionen und das Schreiben hilft auch mir, mir immer wieder Mut zu machen, mich aufzurichten und alte Glaubensätze umzutexten.

„Ich schau in meinem Handy nach /
Wie viel bin ich noch wert /
Werde ich beachtet /
Sag schon, werde ich begehrt /
Und wenn mir gerade niemand schreibt /
Dass er mich braucht und liebt /
Wie kann ich mir dann sicher sein /
Ob es mich wirklich gibt“

(Seite 115)

Das obige Gedicht ist ein starkes Beispiel, wie viele junge Leute heute denken – ein Gedanke, bei dem du dich selbst ertappt hast oder vielleicht sogar ein kritischer Blick auf unsere Gesellschaft?
Wenn ich Kritik übe, ist es mir immer wichtig, mich selbst zu hinterfragen und einzubeziehen. Gesellschaftskritik wird auch für mich als Leser dann erst interessant, wenn die Person, die sie übt, sich auch kritisch mit sich selbst und den eigenen Widersprüchen auseinandersetzt. In diesem Fall ist es also beides. Ein Gedanke, den ich ablehne, den ich aber selbst schon viel zu oft hatte.

Gedichte spiegeln oft intime Gefühle oder Gedanken wider. Fällt es dir manchmal schwer, dein Innerstes mit Tausenden von Social-Media-Followern zu teilen?
Durch die Offenheit, die mir meine LeserInnen im Gegenzug jeden Tag entgegenbringen, findet da, glaube ich, eine Art von Ausgleich statt, die es mir schwer macht, mich noch für irgendetwas zu schämen. Trotzdem gibt es natürlich Themen, bei denen ich aktuell noch nicht bereit bin, sie zu teilen. Aber ich bin mir sicher, dass ich das in Zukunft auch gerne tun möchte.

Du schreibst beruflich auch Songs. Wie unterscheidet sich hier der Schaffensprozess? Welche Parallelen zwischen Lyrik und Songexten gibt es?
Durch Melodie und Rhythmus gibt es bei Songtexten zwei Faktoren, die extremen Einfluss auf den Text und seine Struktur haben. Doch auch, wenn ich Gedichte oder Prosa schreibe, ist mir der Sound, die Komposition unglaublich wichtig. Zu schreiben hat für mich immer eine musikalische Dimension. Wenn der Text singt, weiß ich, dass er gut ist.