Beseelt von Büchern: Nina George teilt ihre Leidenschaft und schreibt sich so in die Herzen von Millionen LeserInnen, ob bei uns oder international von Island über Israel bis Indien. Sogar die „New York Times“-Bestsellerliste eroberte sie mit ihrem Roman „Das Lavendelzimmer“. An ihren Welterfolg von 2013 knüpft die Berliner Autorin nun zum 10-jährigen Jubiläum an – mit der ersehnten Fortsetzung: „Das Bücherschiff des Monsieur Perdu“. Kleine und große Wunder des literarischen Apothekers und seiner Alchemie der Bücher!

Herzlichen Glückwunsch zum 10-jährigen „Lavendelzimmer“-Jubiläum! Was freut Sie an der Erfolgsgeschichte am meisten?
Erstens: Die dadurch entstandenen Konversationen mit Menschen aus völlig anderen Kulturkreisen, die über alle Unterschiedlichkeiten hinweg etwas Elementares verbindet – Lesedurst. Und die Frage: Wie weiter leben mit einem Verlust? Zweitens: Durch 36 Übersetzungen schreiben mir Lesende aus Island, Brasilien oder Indien, Jugendliche, Greise, Menschen, die nach Liebeskummer allein auf Inseln wohnen, junge Frauen, die sich zum Schreiben motiviert fühlten (und mir Jahre später ihre Debüts schicken – wow!). Das Buch ist ein Katalysator für die Lebenswege anderer, und Menschen erzählen mir davon. Ich fühle mich dadurch inniger mit der Welt verbunden.

Wie hat „Das Lavendelzimmer“ in Ihnen selbst nachgeklungen?
Ich bedauere oft, dass mein Vater es nicht hat erleben können. Andererseits wäre es ohne seinen Tod nicht entstanden. Ihn zu verlieren hat in mir die Angst ausgelöscht, mit meinem Schreiben jemanden gefallen zu müssen. Die Erschütterung, ohne ihn zu sein, war ultimativ und ist es immer noch. Das Buch ist so eng mit ihm und dem Vermissen verbunden. Pardon, vielleicht nicht die leichteste aller Antworten …

Einen Schatz aus dem „Lavendelzimmer“ haben Sie 2019 gehoben: „Südlichter“. Was hat Sie dazu beflügelt?
Alle reden über die Liebe – aber wie redet die Liebe über uns? Darüber wollte ich schreibend nachdenken.

„Ich wollte trösten.“

Nun haben Sie die von vielen LeserInnen ersehnte Fortsetzung geschrieben. Was hat Sie hauptsächlich dazu bewogen?
Ich wollte trösten. Mich, und die tief durchgeschüttelte Gesellschaft, die in den Jahren 2020 bis 2022 etwas gemeinsam durchlitten hat, von dem wir noch gar nicht wissen, wie sehr es uns prägen und verändern wird. Ich sah so viel Härte, soviel innere Not. Ich wollte einen „comfort read“ schreiben, daran erinnern, wie zart und liebevoll das Leben auch sein kann – und mir selbst einen Ort der Freiheit bauen. In meinem Ehrenamt als Präsidentin des European Writers’ Council, das 46 SchriftstellerInnen-Verbände aus 31 Ländern vertritt, habe ich die Pandemiejahre durchgearbeitet, manchmal 7/7 – als Krisenmanagerin, als politische Stimme gegenüber Parlament und Kommission, mit hochgekrempelten Ärmeln, um Förderprogramme mitzuentwerfen oder Hilfen für ukrainische und belarussische AutorInnen mittels #freeallwords auf stabile Füße zu stellen. Ich war zutiefst erschöpft von zuviel Gegenwart. Ich brauchte unbedingt das Bücherschiff, um dort Kraft zu sammeln.

Offenbar lässt Sie Ihr Protagonist Jean Perdu nicht los. Warum musste sein Schicksal einfach weitererzählt werden?
Monsieur Perdu ist rastlos in mir herumgetigert. Irgendwann hörte ich ihn murmeln: „Ich bin noch nicht fertig. Ich bin noch nicht angekommen. Ich habe nur die Zwischenzeit zwischen Loslassen und Neuanfang beendet. Willst du mich hier ewig auf dem Berg hocken lassen? Wo ist deine Bücherliebe, Nina? War’s das etwa? Nur ein Buch über Bücher? Ernsthaft? Wo bist du?“ Ich habe sicher zwei Jahre lang nur im Kopf mit ihm gesprochen, bis mir klar wurde, dass die Antwort offensichtlich ist: zurück aufs Schiff. Menschen und Bücher zusammenbringen. Menschen mit sich selbst wieder in ein Zwiegespräch bringen – denn das tun Bücher, und nur Bücher. Die Alchemie der Bücher und ihrer SchöpferInnen feiern.

„Lesen ist Freiheit mit Flügeln aus Papier.“

Monsieur Perdu bleibt seiner großen Leidenschaft treu: Bücher. Was ist seine Mission?
Lesen ist Freiheit mit Flügeln aus Papier. Er will Menschen zur Freiheit im Kopf verführen. Um dort einen Ort zu erschaffen, der unantastbar ist. In jeder Krise.

Durch seine einzigartige Begabung wird Jean Perdu zum Retter aus unterschiedlichsten Seelennöten. Inwiefern spricht er Ihnen aus dem Herzen? Welche Überzeugung teilen Sie mit ihm? Und welche Schlüsselerfahrung(en)?
Wir teilen die Ansicht, dass man eine Chance, freundlich oder liebevoll zu sein, nicht ungenutzt verstreichen lassen sollte. Wir teilen, dass wir lesend besser atmen, und dass wir gütiger, mitfühlender, neugieriger auf Menschen sind.

Nun ist Monsieur Perdu auch als „diskreter Makler“ aktiv. Worin sieht er dabei seine Aufgabe und was ist ihm dabei Bedürfnis oder sogar Berufung?
Unfertige oder Erstmanuskripte sind so geschrieben, wie Bücher verfasst werden sollten: als ob sie nie jemand lesen wird. Nur dann sagt man die Wahrheit, bevor man sie dramaturgisch beschönigt. Darin liegt eine literarische Kraft, die nie das Licht des Marktes erblicken wird: die Essenz des Schreibens, die sich nicht um Verkäuflichkeit, Kritiken oder Lob kümmert. Wer solch einen intimen Schatz besitzen will, muss so gut ausgesucht werden, als trüge er den Ring Tolkiens.

Angenommen, Sie könnten sich bei Monsieur Perdu eines der kostbaren Manuskripte aussuchen: Welches würden Sie sich wünschen? Und warum diese Wahl?
Alle zerknüllten Schreibmaschinenseiten des jungen Stephen King. Um diesen Ausnahmeautor auf dem Weg zu sich selbst zu beobachten.

Manchmal führt Jean Perdu eine „Herzensprüfung“ durch, bei der er unter anderem fragt, wie die Menschen ihre Bücher sortieren. Was bewährt sich bei Ihnen?
Oh weia. Meine Ordnung ist eine, die nur ich verstehe. Sie ist chronologisch nach Erwerb und entlang meiner Lebensjahre. Es finden sich die Bücher aus den Teenagerjahren zusammen – viel Irving, King und saftige amerikanische Gesellschaftsromane – , junge und erwachsenwerdende Frau, die Phase, in der ich den Feminismus aufrollte und mich in französische Literatur warf, danach die Zeit, in der mir Krimis meine Wut auf gesellschaftliche Drifts erklärten. Sie zieht sich an einer Wand lang durch hunderte Sachbücher, als ich meine Zeit der tiefen Recherchen hatte, um die Welt lesend zu begreifen. In den letzten Jahren sind dutzende Romane mit herausragender Sprache dazu gekommen, übrigens deutlich mehr von Autorinnen als Autoren. Meine Sortierung ist der Spiegel meiner Biografie.

„Manchmal verlieren wir das Eigene aus dem Blick.“

Würden Sie eigentlich sagen, Jean Perdu führt nun ein neues Leben?
Er knüpft an sein Leben an, dass durch den Verlust seines Herzensmenschen unterbrochen wurde und zum inneren Stillstand führte. Jeder und jede von uns hat ein eigenes – und ein mit anderen geteiltes Leben. Manchmal verlieren wir das Eigene aus dem Blick. Es muss jedoch seinen Platz haben. Um diese Verhandlung geht es im Grunde: wie kann ich meins leben – mit dir? Und umgekehrt? Das ist die vermutlich größte unsichtbare Herausforderung für jedwede Liebesbeziehung. Nicht das Leben des anderen nur mitzuleben, sondern auch das eigene.

Sitzt tief in Jean Perdu der Melancholiker als Untermieter? Was für ein Charakter ist er für Sie?
Wer ist kein Melancholiker? Wer verspürt nicht mitunter den wehmütigen Schmerz, dass das Leben zu kurz ist, um herauszufinden, wie es geht?

Mitte 40 zu sein nennt Jean Perdu im Rückblick „Bilanzverdrussalter“. Was meint er damit? Und was zeigt sein aktuelles Stimmungsbarometer nun mit Mitte 50 an?
Mitte 40 bedeutet rein rechnerisch: Bergfest. Was hat man bisher erreicht, wie steht man vor sich selbst da, wie viele Prinzipien und Wünsche sind auf dem Opferhügel der Anpassung verbrannt? Er steht vor sich selbst, in seinen ungeduldigen Augen, nicht gut da. Mit Mitte 50 – ich schau mir diese Zahl grad noch von unten an – steht im besten Fall das „jetzt erst recht“-Alter an.

Sie selbst sind Jahrgang 1973. Welches Schlagwort fällt Ihnen für Ihre gegenwärtige Dekade oder Phase ein?
Kaliber 50. Bisschen langsamer, aber mit enormer Durchschlagskraft.

Sie bringen den portugiesischen Literatur-Nobelpreisträger José Saramago ins Spiel. Was macht ihn für Sie besonders bedeutsam?
Ich habe kurz vor der Pandemie das Saramago-Haus in Lissabon besucht. Meine Schwester und ich waren, da Februar, allein mit seinen Schriften, seinem nachgebauten Schreibtisch, Manuskripten, Berichten. José war so innig mit sich und seinem Schreiben verbunden, das Leben zu beobachten und über Menschen, Gesellschaften, Macht und Ohnmacht zu erzählen. Er war mit seinem Tun und seinem Denken eine Einheit. Mir wurde klar: Ich hatte durch die politische Arbeit den Kontakt zu meinem schreibenden Raum in mir verloren, meine Einheit Denken/Tun/Schreiben war weg, und es tat sehr weh, dies zu begreifen. Je länger ich dort stand, in schwerer Stille und Bewegungslosigkeit, desto mehr begehrte ich genau das, was er lebte. In der Rückschau – es ist genau drei Jahre her – war diese Verletzung, die Scham, der Beginn der Heilung. Ich habe mittlerweile vier Manuskripte begonnen, und mein Raum hat seine Tür wieder für mich geöffnet. Ich hoffe, meine Einheit Denken/Tun/Schreiben im Laufe der kommenden Jahre wieder repariert zu haben. Um die Anerkennung der Leistung von Schreibenden politisch zu kämpfen, entfernt einen vom Schreiben und der Ausdrucksmöglichkeit des Werkes.

„Antworten auf eine nicht erkannte Frage.“

Der Auftritt von José Saramago in Ihrem Buch ist zwar kurz, aber intensiv und unvergesslich. Inwiefern hat er eine Schlüsselrolle?
Schlüssel ist das Stichwort: Es gibt im Leben jedes Menschen Schlüsselbegegnungen. Und das sind nicht die großen Lieben oder die lukrativen Jobchancen. Es ist ein kurzes Gespräch mit einem Fremden zur richtigen Zeit, mit Antworten auf eine nicht erkannte Frage. Warum es ausgerechnet Saramago wurde und kein Bücherschiffkunde? Ich brauchte ihn für den Spannungsstrang, was denn nun in dem verflixten Manuskript „Die Stadt der Träumer“ steht. Man verzeihe mir den Taschenspielertrick, er war mir eine große, große Freude und Hommage.

Monsieur Perdu wagt einen Aufbruch. Was treibt ihn an? Was ist der Plan?
Kein Plan ist der Plan. In die Antworten hineinleben. Er weiß, dass er noch nicht angekommen ist. Und er will es planlos erkunden. Erkenntnisse kann man nicht planen, das ist das Großartige an ihnen. Und das Nervige.

Mit an Bord und an der Seite von Jean Perdu ist Max Jordan, einst ein gefeierter Literaturstar. Wie ist sein aktueller Status und wie sein Befinden?
Wenn wir chronologisch denken, so dürfte er gerade, im Jahr 2023, sich völlig verheddern, während er seiner Tochter Rose bei den Hausaufgaben hilft … In der Erzählung sind wir jedoch in den Jahren 2016 und 2017, Max ist Mitte zwanzig und völlig verstört durch die Aussicht, Vater zu werden. Die Art und Weise, wie er erst in Panik verfällt und dann sein Rückgrat wieder findet, hat mich besonders entzückt zu erzählen. Eine winzige kleine Liebeserklärung an die beherzten Väter der Welt.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Bücherschiff-Route abgesteckt und die Stationen der Reise ausgewählt? Welchen Bezug haben Sie selbst zu den Orten?
Ich habe mich der Software bedient, die auch Binnenschiffer benutzen, um mir verschiedene Routen berechnen lassen. Wie viele Schleusen, wie schnell darf man fahren … Ich wollte unbedingt die Champagne streifen, um von dem geheimen Untergrund der Kalkhöhlen zu erzählen. Die Geschichte kam dann allerdings nur in drei Nebensätzen vor. Ich fand es faszinierend, dass in den Champagnerkellern um Reims in Kriegszeiten unterirdische Städte und Fluchtorte der Résistance entstanden, in Kalkstein, der sich bildete, als die Champagne und Paris noch eine Meeresbucht unter Wasser waren. Das gehört aber in ein anderes Buch …

Haben Sie die Reise des Bücherschiffs eigentlich auch selbst unternommen?
Per Vierrad, ja, um einige wesentliche Orte abzufahren und zu schauen, wie es da riecht.

„Die ‚Literarische Apotheke‘ ist gleichsam eine Arche.“

Schon Ihr Romantitel verrät, dass das Bücherschiff eine tragende Rolle spielt. Welche, und wie ändert oder erweitert sie sich?
Mir gefiel das Bild, dass sich Bücher auf den Weg zu den Menschen machen anstatt umgekehrt. Die „Literarische Apotheke“ ist gleichsam eine Arche, ein Abenteuerschiff, es ist Rettungsboot, es ist Aufbruch. Es ist auch verwundbar, durch die Elemente, durch eine Crew, die sich in die Wolle kriegt, weil ihre alten Wunden in der Enge aufeinanderstoßen.

Was gefällt Ihnen an der Idee einer Arche? Welchen Wunsch oder welche Idealvorstellung verbinden Sie damit?
Ich muss kurz in die Beschreibung des Unbeschreibbaren abdriften, eine ganz, ganz doofe Situation, die vermutlich viele Schreibende kennen: Als ich das Bücherschiff in sechs Wochen und 250 noch nötigen Seiten verdächtig nah am Rausch fertig schrieb, folgte ich den strömenden Bildern, die ich in mir sah. Mein Schreiben ist oft weniger rational oder konstruierend oder gar sonderlich durchdacht (das ist es beim Überarbeiten dagegen ausschließlich), sondern der Melange folgend, die sich in mir aufschäumt: Bilder, Filme, ich höre Satzfetzen, Stimmen, es stapeln sich Erinnerungen, Wehmut, Schmerzen, sie potenzieren sich durch Ungeduld, durch: und was wäre wenn …?, durch die Entscheidung: Was lasse ich weg, was nehme ich auf? – es ist ein körperliches Nachempfinden dessen, was man denkt/sieht/fühlt –, und der Begriff der Arche war in diesem Moment alles gleichzeitig und doch unbeschreibbar. Erst jetzt kann ich es auseinandernehmen: Der Schutz vor der Flut des unbekannten Lebens, das vor einem liegt. Alle Bücher an Bord! Und wo sind eigentlich die Katzen?

„Die Erkenntnis, nicht unendlich viel Zeit zu haben.“

Wie wichtig war es Ihnen, auch dem Älterwerden und Abschiednehmen nachzuspüren? Was wollten Sie erkunden oder bewusstmachen?
Sich den eigenen Tod bewusst zu machen, kann außerordentlich dienlich sein, um sich dem „Eigentlichen“ zu widmen. Was will man „eigentlich“? Die Erkenntnis, dafür nicht unendlich viel Zeit zu haben, könnte helfen, es zu tun. Beispiel: „Eigentlich“ wollten mein Mann, der Schriftsteller Jens J. Kramer und ich, „irgendwann mal, wenn es passt“ Kinderbücher schreiben. Dann kam das Leben dazwischen. Aber inzwischen haben wir es getan, und werden es weiter tun – was für eine große Erleichterung, nicht mehr länger auf das „Wenn ich erst mal … dann …“ zu warten.

Verstehen Sie all die unterschiedlichen Bücher, die Sie in Ihrem Roman erwähnen, als Leseempfehlungen?
Maximal Anleseempfehlungen. Ich halte es da mit Pauline Lahbibi und dem Grundgesetz der Lesenden: Kein Buch muss gelesen werden. Jedes Buch darf gelesen werden.

Ihr Roman enthält ein Extra: „Die große Enzyklopädie der kleinen Gefühle“. Was hat es damit auf sich, welchen Ursprung hat es und welche besondere Bedeutung für Jean Perdu?
Eigentlich (haha, da ist es ja wieder) wollte ich sogar ein eigenes Buch aus der Enzyklopädie machen – für angehende literarische PharmazeutInnen, für Menschen im Buchhandel, für Lesende. Für mich. Einmal gründlich um die Alchemie der Bücher kreiseln, von A bis Z und satte 300 Seiten, mindestens. Im Bücherschiff sind nur ausgewählte Notizen von Perdu eingeflochten, um auf diese Weise etwas über das Lesen, das Schreiben, das Leben mit Büchern und die Vermittlung von Medizin und Maladie zu erzählen oder eine Szene zu reflektieren – ohne Perdu ständig in der Geschichte selbst zum dozierenden Booksplainer zu machen.

Die Enzyklopädie fragt: Herz oder Kopf? Wozu tendieren Sie?
Herz. Das Kopflesen hebe ich mir für Politik auf.