Weltmeister, Champions-League-Sieger und DFB-Ehrenspielführer: Klar, dass Philipp Lahms Themen Talent, tolle Tore und Titel sind. Aber es geht ihm um sehr viel mehr. Wie schon während seiner Ausnahmekarriere beim FC Bayern und als Nationalspieler will er einiges zum Positiven bewegen, ob im Team der EM 2024, im Alltag oder in seinem neuen Buch „Das Spiel“ über die vielen Facetten der Fußballwelt. Die beleuchtet er mit Begeisterung, aber auch mit kritischem Blick. Die wichtigste Abseitsregel für Lahm: dass möglichst niemand im Abseits steht. Der Anstoß, gemeinsam das Beste zu entdecken und aus sich herauszuholen!

Fußball ist für Sie „zu einer Lebensschule geworden“, bekennen Sie. Wodurch hauptsächlich?
Meine Eltern, die beide in meinem Heimatverein FT Gern aktiv sind und waren, haben mir zwar nicht allein durch den Sport, wohl aber immer mit dem Sport einen Weg ins Leben gewiesen. In unserer Familie lebten jene Werte, für die auch der Fußball für mich steht und die mein Leben bereichern: Gemeinsamkeit, Freundschaft, Respekt, Engagement, Ausgleich, Regeln, Sicherheit.

Im Auftaktkapitel „Aufwärmen“ wird klar, dass Sie nicht nur Fußballbegeisterte ansprechen, sondern eigentlich uns alle. Was genau macht Sie so sicher, dass Fußball als Schule des Lebens ein Gewinn für jeden sein kann?
Ich brauche Gemeinschaft und nur in der Gemeinschaft mit Menschen und unter Menschen fühle ich mich gut. Und das kann nur funktionieren, wenn ich mich an Regeln halte und die Gebote der Fairness beachte. Will man diesen Gedanken an die nächste Generation von Kindheit an vermitteln, so wird das kaum besser irgendwo gelingen als in einer Mannschaftssportart wie dem Fußball.

Was würden Sie selbst zu den bedeutendsten Ereignissen und größten Erfolgen ihrer Karriere als Spitzensportler zählen?
Zweifellos waren der Triple-Sieg – Deutsche Meisterschaft, Pokalerfolg und Champions-League-Gewinn – in der Saison 2012/13 und der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien die größten sportlichen Erfolge meiner Karriere.

„Konsequente Beachtung der Spielregeln im Leben oder im Sport“

Wie lautet ihre persönliche Definition von Erfolg?
Mit Disziplin und Fairness – also unter konsequenter Beachtung der Spielregeln im Leben oder im Sport – mein Ziel erreichen.

Untrennbar mit Erfolg verbunden ist für Sie anscheinend Einkehr und das Reflektieren über die eigene Entwicklung. Was macht dieses Innehalten und Überdenken so wichtig und ertragreich?
Nur wenn ich Klarheit über mich und meine Ziele habe, kann ich frei und selbstbestimmt wählen, wofür ich mich einsetzen will. Diese Orientierung auf das Ziel hin ermöglicht dann, dass ich meinen Erfolg wahrnehme und genießen kann.

2017 haben Sie Ihre Karriere als Spitzensportler beendet. Was sprach dafür und wie hat sich Ihr Leben dadurch verändert?
Mein sportliches Ziel war es immer, auf ganz hohem Niveau meinen Beitrag zur Mannschaftsleistung zu liefern. Als ich festgestellt habe, dass das nicht mehr ohne weiteres möglich sein würde, habe ich die Konsequenz gezogen. So habe ich meine Selbstbestimmtheit bis zum Schluss meiner aktiven Karriere bewahrt. Der Abschied vom Leistungssport hat mir neue Freiräume eröffnet, die ich mit meiner Familie, mit meinen Unternehmen, aber auch mit der Vorbereitung der EURO 2024 fülle – allesamt Herausforderungen, die ich dankbar angenommen habe.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass Sie an einem Wendepunkt stehen. Wo sehen Sie aktuell Ihre Hauptaufgabe in der Welt des Fußballs? Und warum gerade diese Herausforderung?
Der Fußball ist weltweit der große Volkssport. Zugleich ist er ein digital-globales Phänomen mit großen Gewinnmöglichkeiten. Zwischen diesen beiden Seiten des Fußballs gibt es ein Spannungspotenzial, das harmonisch gestaltet werden muss: Amateure und Fans müssen sicher sein, dass es immer auch um sie und ihren Sport geht. Ich will bei der EURO 2024 meinen Beitrag dazu leisten, dass der Fußball den Kontakt zu den Menschen bewahrt. Ganz im guten Sinne von „Football is coming home.“

Bei Leipzig denken die meisten Büchermenschen als Erstes an die Buchmesse, Sie aber an Fußball – kein Wunder mit Blick auf die Europameisterschaft 2024, die „EURO 24“. Was verbinden Sie mit der sächsischen Metropole?
In Leipzig habe ich im Rahmen der Host City Tour zur EURO 2024 das Spannungsfeld im Fußball erlebt: Hier die moderne Red Bull Arena mit großen Fußball-Events, dort das bodenständige „Stadion des Friedens“ mit langer Tradition. Da zeigte sich einmal mehr, dass der Amateurfußball die Solidarität des Profifußballs braucht, denn dort teilen sehr viele Menschen miteinander die Freude am Fußball, und sie leben die Werte des Sports. Diese Gemeinschaft ist einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft.

„Lernen, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen“

Großgeschrieben wird bei Ihnen – schon in Ihrem ersten Buch „Der feine Unterschied“ und nun auch in „Das Spiel“ – der Begriff Verantwortung. Woraus leiten Sie sie ab und wie deuten Sie sie heute für sich?
Verantwortung ist die Grundlage für das Zusammenleben von Menschen. Im Fußball können Kinder und Jugendliche tatsächlich frühzeitig lernen, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen. Für mich ist dieser Gedanke zur zweiten Natur geworden. Professionell bedeutet er für mich, die Frage der Nachhaltigkeit meiner Projekte und Entscheidungen mitzubedenken.

In den Kapiteln „Anstoß“ und „Erster Einwurf“ schreiben Sie über junge Talente. Wenn Sie sich an Ihre eigenen ersten Schritte zurückerinnern: Wer oder was hat Sie selbst am meisten weitergebracht?
Ich habe das Glück gehabt, dass ich in jungen Jahren Menschen um mich hatte, die sich redlich um mich bemüht haben. Es beginnt mit der Geborgenheit in der Familie, und dann sind es die stabilen Gemeinschaften der Vereine, in denen sich viele um mich gekümmert haben, sei es beim FT Gern oder beim FC Bayern.

Was möchten Sie all den Eltern ans Herz legen, die unermüdlich ihre Kids zum Training chauffieren und am Spielfeldrand mitfiebern?
Freuen Sie sich darüber, dass Ihr Kind sich bewegt und Spaß mit seinen Freunden an einem Gemeinschaftserlebnis hat! Freuen Sie sich mit ihm, aber erwarten Sie nicht, dass der kleine Fußballer ein zweiter Lionel Messi wird.

Als Ihr Sohn Julian geboren wurde, prophezeite Jupp Heynckes laut Medienberichten, dass der Junge später mal Stürmer werden würde. Was sagen Sie als Vater?
Ich kann nachvollziehen, was Jupp Heynckes meint: dass mein Sohn Julian auch auf dem Fußballplatz seine eigenen Fußspuren hinterlassen will und deshalb im Gegensatz zu mir zum Stürmer wird. Aber Jupp Heynckes lässt dabei außer Acht, dass ich auch einmal Rechtsaußen war und Pep Guardiola mich in der Champions League auch als rechten Außenspieler eingesetzt hat. Als Vater wünsche ich mir nur eines: dass er Spaß und Freude im Leben hat.

Welche Eigenschaften und Fähigkeiten sind – neben sportlichem Talent – wichtig, um es vom Bolzplatz um die Ecke in die Bundesliga zu schaffen?
Disziplin, Trainierbarkeit, eine kontinuierlich verlaufende körperliche Entwicklung und das Glück, von ernsten Verletzungen verschont zu bleiben.

„Sich im Team selbst verwirklichen, sein Talent mit anderen teilen“

Zu Ihren vielen Auszeichnungen zählt die Bayerische Verfassungsmedaille für Verdienste um das Miteinander. Was liegt Ihnen in diesem Zusammenhang besonders am Herzen?
Sich in einem Team selbst zu verwirklichen, sein Talent mit anderen zu teilen und es für ein gemeinsames Ziel zur Verfügung zu stellen, macht den Sport aus. Das ist mir auch gesamtgesellschaftlich wichtig: in einer Gemeinschaft zusammenzukommen, sich miteinander zu entwickeln und dabei alle mitzunehmen.

Die weibliche Nationalmannschaft ist ein prominenter Beweis, dass Fußball nicht ausschließlich Männersache ist. Wie beurteilen Sie die Entwicklung?
Es ist wunderbar, dass wir in Deutschland und weltweit Topathletinnen im Fußball haben, die für Mädchen sehr gute Rollenmodelle abgeben – beispielsweise Célia Šašić, Alexandra Popp oder Marta Vieira da Silva. Aber noch haben wir zu wenig Frauen in verantwortungsvollen Positionen im Profifußball; erst wenn sich das bessert, werden wir auch Leistungszentren für Mädchen bekommen, die den Frauenfußball in wünschenswerter Weise voranbringen werden.

Sie beleuchten die Fußballwelt nicht nur vom Siegertreppchen aus, sondern auch die Schattenseiten. Wofür möchten Sie Aufmerksamkeit wecken und was bewirken?
Fußball ist ein Teil unserer Gesellschaft, er ist nicht besser und nicht schlechter. Also dürfen wir nicht die Augen schließen, wenn sich Probleme im Fußball zeigen, die uns auch sonst in der Gesellschaft Sorgen bereiten: Rassismus, Gewalt, Homophobie. Die Vereine leisten schon heute ihren Beitrag zur Prävention solcher Fehlentwicklungen; das sollte in jeder Weise unterstützt werden.

Welches Verhalten ist für Sie ein Fall für die rote Karte?
Abgesehen von typisch unsportlichem Verhalten wie einem groben Foul wäre das beispielsweise Rassismus, Gewaltverherrlichung oder jede andere Form von menschenverachtendem Verhalten – ob auf dem Rasen oder außerhalb.

Sie erwähnen den spanischen und den italienischen Stil und gehen auf die gegenwärtige Fußballsituation in Deutschland ein. Nivellieren sich nationale Unterschiede nicht allmählich, je bunter die Nationalitäten in den Mannschaften gemixt sind?
Bei den internationalen Clubs ist das sicherlich der Fall. Die Mannschaften der Top-Vereine – sei es jetzt Madrid, Turin, Manchester oder München – spielen einen Fußball auf ähnlichem Niveau. Aber eine Mannschaft wird von ihrer Zugehörigkeit zur Liga geprägt, und da gibt es doch Unterschiede in der Primera División, Serie A, Premier League oder Bundesliga. Auf nationaler Ebene sind sicher noch der spanische und italienische Stil und der Stil der deutschen Nationalmannschaft sehr ausgeprägt. Dabei lässt jeder Trainer seine eigene Handschrift erkennen, die man dann dem unterschiedlichen Stil zuschreiben kann.

Im 23. Kapitel schreiben Sie, „Europa ist zu einer Art Silicon Valley des Fußballs geworden“. Wie meinen Sie das?
Nirgendwo in der Fußballwelt sind die Nachwuchs- und Trainingsstrukturen im Laufe der Jahrzehnte so professionalisiert worden wie in Europa. Diese differenzierten und perfekten Strukturen bringen sehr zuverlässig immer wieder eine neue Exzellenz hervor. Das sind im übertragenen Sinne „Laborstrukturen“ für den Fußball – wie im Silicon Valley, wo kontinuierlich höchster technischer Fortschritt geschaffen wird.

 

„Junge Menschen in ihrer ganzheitlichen Entwicklung unterstützen“

2007 haben Sie die Philipp-Lahm-Stiftung ins Leben gerufen. Was liegt ihnen dabei am Herzen und welche Fortschritte freuen Sie besonders?
Ich bin in einer intakten Familie aufgewachsen, die mir durch Rituale und Regeln viel Sicherheit gegeben hat. Ich konnte mein Selbstbewusstsein entwickeln und mich meinem Talent widmen. Meine Karriere hat mich dann mit allen Möglichkeiten ausgestattet, dass ich mein Talent entfalten konnte. Der Sport hat mich gelehrt, was dem Einzelnen gelingen kann, wenn er sich in ein Team einfügt und sich an Regeln hält, wie wichtig Bewegung und Ernährung für die Leistungsfähigkeit sind. Meine Stiftungsprojekte, ob in Deutschland oder Südafrika, unterstützen junge Menschen in ihrer ganzheitlichen Entwicklung. Sie werden über die Jahre immer wieder überprüft und gemeinsam mit Partnern weiterentwickelt.

Ihr Schlusswort befasst sich mit Werten. Welche drei sind Ihnen im Fußball am wichtigsten?
Respekt, Disziplin und Verantwortung – diese Werte sind für mich die Grundlage, um jedem die Teilhabe an der Fußballfamilie zu ermöglichen. Und sie sind der Motor für die eigene Entwicklung.

Den Schlussakkord in Ihrem Buch widmen Sie Diego Maradona. Was hat Sie dazu bewogen?
Maradona war ein völliger Ausnahmeathlet – vielleicht der vollkommenste Spieler, den unser Sport je hervorgebracht hat. So sehr ich den unvergleichlichen Fußballer bewundere, so traurig macht es mich, dass er als Persönlichkeit nicht genug Rüstzeug mitbekommen hat, das ihn vor viel Leid hätte bewahren können. Und damit sind wir wieder bei der ersten Frage angelangt, was für mich der Sport in meinem Leben bedeutet hat: Er hat mir meinen Weg ins Leben gewiesen.