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Kein Wunder, dass Rainer Maria Schießler als großer Hoffnungsträger und unkonventionellster Geistlicher hierzulande gilt. Münchens dienstältester Pfarrer stemmte – als erster und einziger seines Amtes – als Wiesn-Bedienung auf dem Oktoberfest Maßkrüge: ein „Crashkurs in Sachen Menschenkenntnis“. Und typisch für sein Selbstverständnis als Seelsorger. Seine Sehnsucht: eine Kirche, die nicht ausgrenzt, sondern einlädt und eine Heimat bietet – für alle. Dafür macht er sich unermüdlich stark, ob in seinen legendären Klartext-Predigten, im Alltag oder als Autor von Bestsellern, die auch kirchenfernen Gläubigen und Sinnsuchenden aus dem Herzen sprechen.
Herr Pfarrer Schießler, Ihre Eltern haben sich bei der Wahl Ihrer Vornamen anscheinend nicht am Heiligenkalender orientiert, sondern an literarischen Vorlieben. Wer oder was war da ausschlaggebend?
In erster Ehe war meine Mutter mit einem Mann verheiratet, der aus einer Literatenfamilie aus Dortmund stammte. Von ihm lernte sie die Leidenschaft für die hohe Lyrik, insbesondere Rainer Maria Rilke kennen. Der Krieg nahm meiner Mutter alles: Mann (1948, Nowosibirsk), Kind (1948, 3 Jahre alt), ihre Familie, ihre unbeschwerte Jugend. Mit meinem Vater begann sie ein neues, anderes Leben, ohne das alte einfach abzugeben. Sie nahm es mit, schlug eine Brücke zur Vergangenheit, gründete eine neue Familie und bewahrte die Erinnerung. Dafür steht mein wunderschöner Name! Ich bin ihr so unendlich dankbar dafür, jeden Tag!
In welcher Weise haben sich die Hoffnungen Ihrer Mutter erfüllt? Welche Bedeutung hat Poesie – oder Literatur allgemein – für Sie?
Lesen geht natürlich vor allem im Urlaub. Ich brauche dringend Ruhe um mich herum zum Lesen. Am besten gelingt es zu Hause oder auch am Schreibtisch. Im Bett keine Chance, der Schlaf ist stärker, das Fleisch und der Geist zu schwach! Ich beschränke mich nicht auf bestimmte Autoren, sondern auf tolle Bücher, auch Geschichte und Politik, aber sehr gerne Biographien. Ich lese am liebsten vom Leben der Menschen! Die letzten Highlights waren „Augenblicke“ und „Spätlese“ des verstorbenen Altbischofs Reinhold Stecher aus Innsbruck.
Aufgewachsen sind Sie in München-Laim. Später im Studium und bei Ihren beruflichen Stationen als Geistlicher sind Sie immer in Bayern geblieben – beziehungsweise in München und Umgebung. Was macht es hier so lebens- und liebenswert für Sie?
Das ist natürlich die bayerische Prägung durch meine Eltern und die Sprache. Das macht einen Ort zur Heimat, so entsteht Lebensgefühl. Heimat ist nicht nur eine Adresse, Heimat ist ein großer Mix aus Gefühl, Geschichte und Bestimmung. Oder wie es einmal jemand wunderschön sagte: Heimat ist ein von Liebe durchwehter Raum. Ich durfte ihn erfahren, bis heute!
„Ich wollte etwas ganz Verrücktes machen.“
Weltberühmt ist München nicht zuletzt für das Oktoberfest. Auf der Wiesn haben Sie immer kräftig mitgemischt – in Doppelfunktion als Seelsorger und im Service. Was hat Ihnen Ihren Einsatz so wichtig gemacht?
Eine Wiesn-Bedienung ist von morgens bis abends auf dem Rummel! Gäste bedienen, Essen und Trinken bringen, manchmal im Akkord, 14 Maß auf einmal und 20 Hendl auf einem Schlitten, also einem großen Tablett, ist da Normalmaß – und es hat zehn Jahre lang so Spaß gemacht!! Ich wollte es einfach ausprobieren! Wollte was ganz Verrücktes machen – und habe es zehn Jahre genossen, inmitten feiernder Menschen das Leben zu zelebrieren! War eine ganz tolle Zeit und das als einer von vielen Kollegen/innen, alles wunderbare, anständige und fleißige Menschen. Wenn Du da als Pfarrer anrückst, bist Du sofort Seelsorger. Da braucht’s keinen Auftrag mehr von der Amtskirche.
Als Wiesn-Bedienung hat man nicht nur ein Namensschild, sondern anscheinend auch einen Hinweis auf den Beziehungsstatus – in Ihrem Fall notgedrungen Single. Haben Sie sich das mit Ironie angesteckt? Welche Reaktionen hat Ihr Schildchen ausgelöst? Auch Debatten über den Zölibat?
Natürlich wars ein Gag! Und auch eine zölibatäre Bedienung flirtet gerne mal. Wenn ich dann erklärte, dass der Single sogar ein Berufssingle ist, und der Gast irgendwie erfuhr, wer ich wirklich bin, dann kanns auch mal zu Gesprächen über den Zölibat kommen. Aber der Biertisch ist ein ungutes Podium für dieses Thema. Da habe ich lieber mit den Gästen gescherzt und gelacht.
„Feiernde Menschen haben Gott und ihr Leben verstanden.“
Wie typisch sind Ihre Wiesn-Einsätze für Ihre Lebensphilosophie? Und was sagt uns das über Ihren Aktionsradius, den Sie ja anscheinend ganz bewusst nicht auf die Kirche und Bibelkreise begrenzen?
Im Johannesevangelium tut Jesus sein erstes Wunder – ein Zeichen – bei der Hochzeit von Kana. Das ist doch eine Ansage: Dieses Leben gehört gefeiert, so die Vorstellung unseres Schöpfers. Wenn wir es anders machen, sind wir selber schuld und dürfen die Verantwortung nicht immer auf ihn schieben. Es gibt nichts Schöneres anzusehen als feiernde Menschen – die haben Gott und ihr Leben verstanden. Ein jüdischer Rabbiner drückte es mal so aus, kurz und bündig: „Wer genießt, ehrt Gott!“ Mit dieser Grundhaltung gehe ich grundsätzlich an meine Seelsorgsarbeit heran.
Für Sie schließt es sich nicht aus, ein „barocker Genussmensch“ zu sein und hin und wieder zu fasten. Ein Jegliches hat seine Zeit, wie es im Alten Testament heißt? Oder welche Überzeugung steckt bei Ihnen dahinter?
Wenn ich essen und trinken würde, wie ich wirklich wollte, na ja. Ich bin ein guter Futterverwerter. Ich danke Gott jeden Tag, weils mir schmeckt und reduziere mich gerade deswegen auch immer wieder. Man müsste die Fastenzeit erfinden, hätten wir sie nicht schon. Sich zurücknehmen, immer wieder erleben, wie reich es macht zu spüren, was man alles nicht braucht, und dann wieder den großen Vorgeschmack bei einem wunderbaren Festschmaus erleben: Das ist die Fülle, in der ich christlichen Glauben leibhaftig erfahre.
Inwiefern ist denn der Titel Ihres neuen Buches eine Hommage an Ihre Muttersprache?
Bayerisch, deutsch und dann noch so manche Fremdsprache. Bis man sich versieht, ist man multilingual. Sprache gibt ja auch einen Zustand wieder. Wenn meine Eltern Hochdeutsch sprachen, war die Lage ernst. Bayerisch war immer das entspanntere, emotionalere Klima. Ich würde nie derb bayerisch beten, mag ich auch in Gottesdiensten nicht. Nur das „Jessas, Maria und Josef“ ist möglich und so wie in vielen bayerischen Ausdrücken eine Vielzahl von Eindrücken drinstecken, so auch in diesen drei Worten: Hoffnung, Sehnsucht, Dankbarkeit, Erstaunen, Zweifel – da passt alles rein.
Der „Bund Bairische Sprache“ verlieh Ihnen die „Bairische Sprachwurzel“ und würdigte Sie damit als „dialektalen Menschenfischer“. Inwiefern fühlen Sie sich durch diese Ehrung verstanden?
Das ist meine schönste und höchste Auszeichnung, denn ohne die Menschen um mich herum gäbe es sie nicht. Das geht hin bis zu meinen Lehrpfarrern, die mich ermutigten, auch im Gottesdienst authentisch zu sein, glaubhaft, und dort bayerisch zu reden, wo ich für mich spreche und überzeugen möchte. Das hast Du an der Uni oder im Priesterseminar nie gelernt: Das lernen Dir solche tollen Pfarrer! Gerade weil wir oft übersehen, dass eine gute Predigt nicht eine Vorlesung sein soll und die Leute, die uns zuhören, sehr einfache Menschen sind. Wir müssen ihnen doch sprachlich nahekommen! Aber das kannst Du einfach oder nicht. Konstruieren geht nicht.
Zu Ihren Vorgängern unter den „Sprachwurzel“-Preisträgern zählt unter anderem Papst Benedikt. Trotz gemeinsamer Muttersprache kann man nicht gerade sagen, dass er und Sie wie aus einem Mund reden … Was ruft Ihren Widerspruch hervor?
Na ja, ich schätze ihn sehr hoch ein. Er ist ein so blitzgescheiter Mann, unglaublich beeindruckend. Sein philosophisch-theologischer – vor allem augustinisch geprägter – Ansatz, mit dem er Welt, Mensch und Gott erklärt, ist beeindruckend, aber für mich in so manchen Punkten nicht überzeugend und einleuchtend. Muss ja nicht sein. Wir könnten sicher auch auf Bayerisch darüber streiten, aber eine Lösung bekämen wir so schnell keine. Außerdem gehts nicht um einen Mund, sondern um den einen Gott, den wir in verschiedenen Mündern – Sprachen – verkünden wollen.
„Begleiten, nicht gängeln!“
Dem Hochwürden-Klischee entsprechen Sie nicht gerade. Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Geistlicher auf den Punkt bringen?
Begleiten, nicht gängeln! Wir Priester sind an die Seite der Menschen gestellt, um mit ihnen zu gehen, auch von ihnen zu lernen, aber nie, um sie zu beherrschen oder gar zu bestimmen.
Bekannt sind Sie nicht zuletzt für Klartext, ob in Ihren Predigten oder in Ihren Büchern. Was ermutigt Sie dazu? Oder können Sie vielleicht gar nicht anders?
Ich kann nicht anders, ich bin kein Grammophon, kein Plattenspieler oder Vorbeter. Ich bin Zeugnisgeber und dafür verantwortlich, dass mein Zeugnis trägt und hält. Dazu muss ich zuerst mir treu sein können, bevor ich zu anderen Menschen rede. Man nennt das dann gerne Authentizität, aber ich vermeide Fremdworte, wenns nur irgendwie geht.
In Ihrem Buch finden sich eine Reihe von Ermutigungen, beispielsweise „mit der Zeit gehen!“ Wie kann der Balanceakt gelingen, sich selbst treu zu bleiben und andererseits offen zu sein?
Ich finde, da braucht’s keine Handlungsanweisungen. Das machen wir schon selber. Ich schau mir die Kinder und Jugendlichen um mich herum an. Tolle junge Menschen, ganz anders als wir damals und trotzdem irgendwie gleich. Liebe, Sehnsucht, Schmerz, das ist die gemeinsame Schnittmenge unter uns, das ist immer gleich. Heute rede ich mit den Jugendlichen anders über Sexualität, als man mit uns damals sprach. Das ist gut so, Gott sei Dank. Dem aber muss auch die offizielle Position der Kirche sich anpassen, sonst haben wir das, was wir heute schon so oft erleben: zwei Welten, die sich nichts mehr zu sagen haben.
Es kann einen ziemlich in Gewissensnöte bringen, zugleich katholisch, gläubig und geschieden zu sein. Die Bredouille? Und Ihre Position und deren Gründe? Ihre Hoffnung?
Finde ich nicht! Ich erlebe Trennungen, über denen auch ein ganz eigener guter Segen liegt. Die Achtung voreinander auch im Auseinandergehen ist eine große Kunst, die die Kirche viel zu wenig honoriert. Abschiede tun immer weh, auch denen, die sich trennen müssen. Manchmal fehlt eben auch das Quäntchen Glück, das Du Dir nicht erarbeiten kannst. Gefühle sind oft unberechenbar. Diese Menschen trennen sich doch nicht aus Jux und Tollerei. Darum brauchen sie ja auch uns dabei und wir dürfen sie nicht alleine lassen.
Was halten Sie für die wichtigsten Konfliktthemen, an die sich die Kirche wagen muss?
Wer ist Kirche? Weg von der Priesterkirche und hin zur Gemeindekirche! Hirten können nicht das Gras der Herde fressen! Öffnung des Amtes für alle. Eine Kirche, die Frauen zweitrangig und unmündig behandelt, kann nicht attraktiv sein. Eine prophetische Lebensform wie die Ehelosigkeit braucht keinen Pflichtstatus (Pflichtzölibat). Mahlgemeinschaft in der Eucharistie: Wenn wir nicht aufhören, uns als bestimmende Hüter und Wächter und letztlich Herren der Eucharistie zu benehmen, verlieren wir das Gespür für unsere je eigene Würde, dass wir doch alle selber liebenswerte Gäste sind bei diesem Mahl!
„Eine Kirche, die Mut hat, neue Wege zu gehen …“
Was macht für Sie eine lebendige, zeitgemäße Kirche aus?
Eine Kirche, die einfach anpackt! „Gebt ihr ihnen zu essen“, heißt es bei der Speisung der 5000. Eine Kirche, die den Mut hat, neue Wege zu gehen. Die loslässt, was liegen bleiben darf, und neue Dinge anpackt. Die ausprobiert und sich gegenseitig zuhört. Die gestaltet und nicht nur verwaltet, usw. usw.
Sie nehmen Austritte persönlich und reagieren mit individuellen Briefen. Warum liegt Ihnen das am Herzen?
Zur Kirche zu gehören ist ein Geschenk, das mir andere in der Taufe gemacht haben. Das ist auch meine Geschichte. Das kann doch niemand einfach so ablegen, als gäbe es das jetzt nicht mehr. Davonlaufen gilt nicht, hieß es bei uns zu Hause. Ich brauche Mitstreiter, Veränderer, Umgestalter, nicht beleidigte Leberwürste! Kirche wird es niemals perfekt geben auf einem Silbertablett. Perfektion ist keine Vokabel Jesu, dafür aber Vollkommenheit und die meint den ganzen Menschen.
Viele Menschen unterscheiden zwischen Glauben und Kirche. Warum halten Sie es dennoch für wichtig, einer Kirchengemeinde anzugehören?
Glauben kann und muss ich alleine, so wie sterben auch. Jeder bekennt seinen Glauben mit „Ich“, nicht mit „Wir“! Aber in der Gemeinschaft wird er sicht- und feierbar! Niemand kann alleine feiern, das geht nur gemeinsam! Nur in dieser feiernden Gemeinde spüre ich, dass es immer um uns alle geht, wenn wir von den Verheißungen Gottes sprechen. Und wir erleben nur den Vorgeschmack hier, das Beste kommt ja noch, heißt es.
Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Geistlicher auf den Punkt bringen?
Mein Primizspruch steht dafür, aus dem 1. Johannesbrief: „Was wir von Gott gehört und erfahren haben, das verkünden wir euch: Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm!“
Schon während Ihres Theologiestudiums haben Sie als Taxifahrer gejobbt. Wie wichtig war und ist das, um a) Lebenserfahrung zu sammeln und b) möglichst unabhängig zu sein und zu bleiben?
Es ist wie mit der Wiesn: Es war ein so herrlicher Spaß und immer bist du mit Menschen zusammen, verdienst Geld dabei, kannst tolle Autos fahren – im Gegensatz zu klapprigen Studentenwracks. Du bist unabhängig und spürst das Leben. Es kommt auf dich zu, völlig unerwartet, eine einzige Überraschung, so wie jeder Fahrgast, der bei Dir einsteigt. Dann ist auch jede Fahrt mal zu Ende, so wie das Leben. Hauptsache aber ist, wir haben das Ziel im Blick und gehen darauf zu, manchmal gerne auch über Um- und Schleichwege!
„Jetzt leben, für später ist gesorgt!“
Ihre wichtigste Botschaft in einem Satz?
Jetzt leben, für später ist gesorgt!
Wofür waren Sie zuletzt von Herzen dankbar?
Meine „Löwen“ vom TSV 1860 haben den Aufstieg aus der Regionalliga in die 3. Liga aus eigener Kraft geschafft – und ganz Giesing hat friedlich gefeiert! Und: Die guten Nachrichten aus Korea! Dass dort ein Friedensvertrag wirklich möglich ist!! In beiden Fällen gilt: Na also, geht doch!