TÖWERLAND, also Zauberland, nennen die Einheimischen ihre Nordseeinsel – und Juist macht dieser Bezeichnung alle Ehre. So ist ihre alte Heimat die wichtigste Inspirationsquelle und Kulisse für die literarischen Erfolge von Sandra Lüpkes. Nun lässt die vielseitige Autorin Geschichte lebendig werden: „Die Schule am Meer“ ist ein opulenter Gesellschaftsroman über ein Wagnis reformpädagogischer Idealisten.

Wenn Sie die Augen schließen und an Ihre alte Heimat Juist denken: Was kommt Ihnen spontan in den Sinn?
Kirchturmglocken, Pferdeäpfel und Rosinenstuten an der Bill.

Wie hat Sie der Alltag auf Juist geprägt?
Ich interessiere mich ungemein für das Zwischenmenschliche, wahrscheinlich ist mir das im Mikrokosmos Insel antrainiert worden.

Wie würden Sie Ihr Insel-Lebensgefühl beschreiben?
Gleichzeitig im Mittelpunkt und am Rande der Welt.

In Ihrem Lebenslauf ist für die Jahre 1996 bis 2005 vermerkt: „Gastgeberin auf Juist“: Wie dürfen wir uns das vorstellen?
Unser Haus stand mitten im Inseldorf, wir hatten einen Fahrradverleih und mehrere Ferienwohnungen. Da klopfte immer irgendjemand an unsere Tür und hatte einen dringenden Wunsch – nicht nur in der Hochsaison.

Was war das Schöne für Sie daran?
Dass man immer wieder neuen Menschen begegnet. Mit einigen habe ich noch heute Kontakt.

Was waren die wertvollen Erfahrungen dieser Zeit?
Es auszuhalten, dass die Natur den Takt vorgibt.

„Juist hat mir einen inneren Kompass eingepflanzt … “

Was verbindet Sie noch immer mit Juist?
Juist hat mir einen inneren Kompass eingepflanzt, auch in Berlin denke ich stets in Himmelsrichtungen und weiß, woher der Wind weht.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie nach Juist zurückkehren?
Der Pfarrgarten, in dem wir als Kinder spielten, war ein Paradies. Meine Brüder und ich reden oft davon und linsen immer über den Zaun, wenn wir auf der Insel sind.

Die ostfriesischen Inseln liefern Ihnen Erzählstoff für einen literarischen Erfolg nach dem anderen. Was macht Ihre alte Heimat literarisch so interessant?
Was der Insulaner alltäglich findet, ist für den Festländer total spannend: Nur einmal am Tag eine Fähre? Im Winter sechs Wochen ohne Verbindung zum Festland? Nur zehn Kinder in einer Schulklasse? Wow!

Ihr Roman beginnt 1925. Wie war die Atmosphäre damals?
Vieles war damals ganz ähnlich wie heute: keine ostfriesische Insel ist so schwer zu erreichen, deswegen hat das Leben auf Juist etwas Exklusives. Und noch etwas hat sich kaum verändert: Die Sorge der Insulaner, dass die reichen Festländer die Insel aufkaufen könnten und kein Platz mehr für die Einheimischen bleibt.

Im Roman treffen Menschen mit unterschiedlichsten Weltanschauungen aufeinander …
Wir erleben die Schule am Meer durch die Augen eines Schülers, einer jüdischen Lehrerin, eines verträumten Musikers, einer bodenständigen Insulanerin – und aus der Perspektive eines Saisonkellners, der später der erste Nazi-Bürgermeister der Insel wird. Mir war es wichtig, dass man die Beweggründe eines jeden einzelnen versteht, auch wenn er oder sie nicht unbedingt sympathisch ist.

Welche Idee stand am Anfang?
Mutige Menschen tun sich an einem besonderen Ort zusammen, um eine fortschrittliche, demokratische und kreative Gemeinschaft zu gründen – und scheitern am Ende an sich selbst.

„Es ist fast eine klassische Tragödie …“

Was macht die „Schule am Meer“, die es tatsächlich auf Juist gab, für Sie zum spannenden Romanstoff?
Es ist fast eine klassische Tragödie. Man startet voller Hoffnung und weiß doch, dass es am Ende böse ausgehen wird.

Die „Schule am Meer“ war eine „Freiluftschule“ und getragen vom Geist der Reformpädagogik. Was zeichnet diese Richtung aus?
Am leichtesten erlernt man das, wofür man sich interessiert. Die Schüler hatten Seewasseraquarien, ein Segelboot, einen Schulgarten – unter diesen Umständen hätte ich mich als Jugendliche wohl auch mehr für die Naturwissenschaften begeistern können.

Direktor der 1925 gegründeten „Schule am Meer“ ist der renommierte Reformpädagoge Martin Luserke. Was imponiert Ihnen an der historischen Gestalt?
Luserke war ein charismatischer Visionär. Solche Menschen braucht es, um neue Ideen zu verwirklichen. Gleichzeitig entdecke ich an ihm egozentrische Züge, am Ende hat er sich wenig heldenhaft verhalten.

„Was Luserke weglässt, verrät fast noch mehr über ihn …“

Und was war Ihnen wichtig, als Sie diese historische Persönlichkeit in Ihren Roman versetzten?
Luserke hat in den neun Jahren der Schule täglich Berichte geschrieben. Die Dinge, die ihm wichtig waren, liest man im Übermaß, doch wer die Geschichte der Schule kennt, dem fällt auf, was Luserke weglässt. Das verrät fast noch mehr über ihn.

Vor welchen Herausforderungen steht Ihre weibliche Hauptfigur Anni Reiner?
Anni Reiner stammt aus einer jüdischen Industriellenfamilie, hat aber einen bettelarmen Anarchisten geheiratet, vier Kinder bekommen und all ihr Geld in die Schule gesteckt. Als das Projekt scheitert, steht für sie alles auf dem Spiel.

Wie würden Sie sie charakterisieren?
Entschlossen, warmherzig und unverwüstlich.

Und was verkörpert Annis Ehemann Dr. Paul Reiner für Sie?
Er lebt für seine Vision von einer gerechteren Welt und ist sehr streng mit sich selbst und anderen.

Was ist für Sie das Besondere an dem Ehepaar Anni und Paul?
Sie können ihre Unterschiedlichkeit aushalten, weil sie ein gemeinsames Ziel haben.

So unterschiedlich wie die Erwachsenen wirken auch die Schüler. Was spiegelt diese Gruppe für Sie?
Das Abenteuer, erwachsen zu werden und den Menschen in sich zu entdecken.

Und was hat es auf sich mit den „Bären“, „Wölfen“, „Pinguinen“ etc., den „Kameradschaften“ an der Schule?
Die „Kameradschaften“ waren eine Art Ersatzfamilie, die die Kinder sich wählen durften. Also mussten sie sich früh Fragen stellen wie: Wer bin ich? Was ist meine Leidenschaft? Wer passt zu mir?

„Zuckmayer geht es nur um seine große Liebe: die Musik“

Musik spielt in der „Schule am Meer“ eine besondere Rolle – und der Lehrer Eduard Zuckmayer. Welche Bedeutung hat er für Sie?
Eduard ist meine Lieblingsfigur, er hat sich fast von selbst geschrieben.

Welche Perspektiven eröffnet er im Roman?
Eduard ist im Gegensatz zu den anderen kein Kämpfer und kein Idealist, ihm geht es nur um seine große Liebe: die Musik.

Wie bereichert er für Sie die Geschichte?
Gerade weil Eduard sich selbst zurücknimmt, halte ich ihn für den besten Lehrer an dieser Schule.

Sie selbst haben eine Ausbildung in klassischem Gesang und sind in unterschiedlichen Musikprojekten aufgetreten. Wie würden Sie das Verhältnis von Musik und Schriftstellerei in Ihrem Leben beschreiben?
Tatsächlich bin ich über das Songwriting zum belletristischen Schreiben gekommen.

Wie beflügeln sich beide Bereiche?
Romane, Gedichte und Musikstücke folgen einem ähnlichen Aufbau. Im Anfang klingt das Ende schon mit.

Im Roman lassen Sie beispielsweise Bach und auf besonders berührende Weise Brahms anklingen. Wie haben Sie die Komponisten und deren Werke ausgewählt? Welche Bedeutung schreiben Sie Ihr zu?
In den Aufzeichnungen der Schule war täglich vermerkt, welche Musikstücke geprobt und aufgeführt wurden. Danach habe ich mich gerichtet.

„Heute wäre Otte Leege bei Fridays for Future dabei.“

Als Schüler eine verletzte Graugans finden, lassen Sie Otto Leege auftauchen. Welche Verdienste des Naturwissenschaftlers und Vogelschützers würden Sie besonders hervorheben?
Otto Leege hat schon vor mehr als hundert Jahren erkannt, dass die Schönheit der Insel nur erhalten bleibt, wenn wir sie schützen. Heute wäre er bestimmt bei Fridays for Future dabei.

Welche wichtigen Spuren hat er hinterlassen, die auch heute noch entdeckt werden können?
Der Hammersee, das Wäldchen, die Insel Memmert – dies alles würde ohne Leege heute nicht so bestehen. Ein Naturlehrpfad auf Juist wurde nach ihm benannt.

Sie schildern die Höhen und Tiefen der „Schule am Meer“. Worin besteht für Sie das Vermächtnis?
Das Vermächtnis einer Schule sind immer ihre Schüler, die als Erwachsene etwas Großes leisten, weil sie das richtige Rüstzeug mit auf den Weg bekommen haben. Beate Uhse, Maria Becker, Werner Rings – dies sind nur drei solche Namen. Es wären mehr, wenn nicht der zweite Weltkrieg so vielen von ihnen den Tod gebracht hätte.

Was können wir für uns heute aus der Lektüre mitnehmen?
Selbst wenn in einer Gemeinschaft alle das selbe Ziel haben, ist der Weg dahin ein Balanceakt, zu weit links oder rechts geht’s schnell steil bergab.

Und was spricht heute für eine Reise nach Juist? Welche drei Tipps würden Sie Juist-Neuentdeckern mit auf den Weg geben?
Ein Urlaub auf Juist bedeutet absolute Entschleunigung. Man muss keine Pläne schmieden und erlebt trotzdem jeden Tag etwas Neues. Als Lesetipp empfehle ich „111 Orte auf Juist, die man gesehen haben muss“ von Bernd Flessner (Emons).