VORHANG AUF FÜR ERZÄHLMAGIE! Jim Knopf, das Urmel, der kleine Prinz und all die anderen Stars der Augsburger Puppen­kiste sowie deren Schöpferin Hannelore Marschall-Oehmichen haben ihren großen Auftritt im neuen Roman von Thomas Hettche. Als Autor historischer Stoffe durch „Der Fall Arbogast“ und „Die Pfauen­insel“ bereits bestens bekannt, brilliert er nun mit einer literarischen Entdeckungs­reise zu den Anfängen des legendären Marionetten­theaters. Beim Blick hinter die Kulissen rückt er auch die Gründer­familie und deren Weggefährten ins Licht. Ein Abenteuer zwischen Wirklich­keit und zauberhafter Traumwelt.

Wie haben Sie Ihr erstes Erlebnis im Marionettentheater in Erinnerung, Herr Hettche? Was war Ihre eindrucksvollste Erfahrung als Kind?
Als Kind habe ich leider kein Marionettentheater gesehen und das war vielleicht der Grund, weshalb mich dann die Augsburger Puppenkiste im Fernsehen so in ihren Bann geschlagen hat. Ich erinnere mich noch genau, dass mich sofort diese besondere Faszination erfasste: Obwohl man die Fäden der Marionetten sieht, ist man trotzdem sofort gebannt, als wären sie lebendig.

Was ist für Sie das Besondere, vielleicht sogar Einmalige an der Augsburger Puppenkiste?
Einzigartig an der Augsburger Puppenkiste ist sicherlich, dass sie die Chance ergriff, die ihr das Fernsehen bot. Schon wenige Woche nach dessen Start ging eine Aufführung der Puppenkiste über den Äther! Vor allem aber entwickelte sie für das Fernsehen eine neue Form. „Jim Knopf“ war nicht nur die erste deutsche Fernsehserie, es war auch kein abgefilmtes Theater mehr. Effekte wie das Meer aus Plastikfolie im „Urmel“ waren nur durch große Bühnensets möglich, die von allen Seiten gefilmt wurden. Das hatte es zuvor noch nie gegeben. Dazu kommt, dass die „Puppenkiste“ begann, für ihre Fernsehproduktionen ganz aktuelle Stoffe zu bearbeiten. Michael Endes „Jim Knopf“ war gerade erst erschienen, als die „Puppenkiste“ den Roman adaptierte. Und da muss man sehen: Einerseits sind das natürlich Märchengeschichten, andererseits bilden sie aber auch die Gegenwart ab. Und ich glaube, das haben die Kinder gespürt.

Wie haben Sie dieses traditionsreiche Theater als Erzählstoff entdeckt? Und was war zuerst da?
Es ist immer so, dass die Stoffe mich finden, durch irgendwelche Zufälle plötzlich da sind und mich nicht mehr loslassen. Irgendetwas an einer ganz bestimmten Konstellation von Personen und Themen elektrisiert mich dann. Als ob sich darin ein Geheimnis verbirgt, das ich aufdecken möchte. So war es auch bei „Herzfaden“. Ich war sofort fasziniert, als ich von der Puppenschnitzerin Hannelore Oehmichen hörte, die als junges Mädchen zusammen mit ihren Freunden in den Trümmern Augsburgs nach dem Krieg die „Puppenkiste“ gründete.

Apropos Fäden ziehen: Haben Sie es selbst mal ausprobiert?
Ja, natürlich! Es ist ziemlich schwer, die Marionette natürlich gehen zu lassen. Immerzu will sie davonschweben. Magisch aber ist, wie lebendig die Bewegungen der Marionette sofort wirken, wenn man das Spielkreuz bewegt. Das liegt daran, wie die Fäden befestigt sind. Man hat tatsächlich das Gefühl, als habe die Puppe ein Eigenleben. Ich lasse meine Heldin die Zuschauer bedauern, weil sie das nicht erleben können.

Die Welt der Augsburger Puppenkiste erkunden Sie aus der Perspektive eines 12-jährigen Mädchens. Welche Rolle oder Funktion haben Sie ihr zugedacht? Und warum haben Sie ihr lieber keinen Namen gegeben?
Ehrlich gesagt stand am Beginn die Idee, diesen Roman für meine kleine Tochter zu schreiben, die so klein inzwischen gar nicht mehr ist, nämlich dreizehn. Für sie habe ich mir dieses Mädchen ausgedacht, und weil ich ihm nicht den Namen meiner Tochter geben wollte, ist es eben namenlos geblieben. Die Idee dabei war natürlich, auch von der Distanz zu erzählen, die heutige Kinder zur Augsburger Puppenkiste haben. Wobei es mir aber gar nicht darum ging, ein Kinderbuch zu schreiben, sondern einfach so zu erzählen, dass meine Tochter es spannend finden würde. Und beim Schreiben ist mir dann etwas klargeworden, was ich meine Heldin im Roman auch sagen lasse: dass es nämlich Geschichten für Kinder oder Erwachsene gar nicht gibt.

Sind wir auf dem Holzweg, wenn wir beim Einstieg an „Alice im Wunderland“ denken, die in eine wundersame Welt stolpert und schrumpft?
Nein.

„Vom Zauber erzählen …“

Auf dem Dachboden der Augsburger Puppenkiste gerät das Mädchen in ein geheimnisvolles Szenario. Was schwebte Ihnen vor? Eine Märchenwelt? Eine Anmutung von Magie? Anspielungen auf das Dunkel der Vergangenheit, aus dem etwas ans Licht gebracht wird?
Einerseits wollte ich erzählen, aus welchen Zeitumständen die Augsburger Puppenkiste entstanden ist, die ja prägend für mehrere Generationen von Kindern in diesem Land war, aber ich wollte auch von dem Zauber erzählen, der Marionetten innewohnt. Zu diesem Zauber gehört natürlich das Märchenhafte, aber vor allem auch das Geheimnis, wie ein totes Stück Holz an Fäden lebendig werden kann.

Allmählich erkennt das Mädchen immer mehr Marionetten – ein Großaufgebot an Helden der Kinderliteratur und des Puppentheaters. Welche davon sind für Sie als 1964 geborenes Kind Ihre eigenen Favoriten gewesen? Welche Bücher haben Sie einst als Kind am liebsten gelesen?
Wenn man sich mit Menschen über ihre Erinnerungen an die Augsburger Puppenkiste unterhält, stellt man interessanterweise fest, dass ein Altersunterschied von zwei oder drei Jahren bedeutet, mit einer anderen Geschichte der „Puppenkiste“ im Fernsehen aufgewachsen zu sein. Es gab ja früher keine DVDs und kein Streaming. So hat jeder seine prägenden Marionetten. Bei mir zum Beispiel waren es das Urmel und der kleine König Kalle Wirsch. Heute ist das natürlich anders. Als meine Töchter klein waren, habe ich dann vieles zum ersten Mal gesehen und mich dabei an meine kindliche Faszination erinnert. Die sicher auch deshalb so groß war, weil es in meinem Elternhaus wenig Kinderbücher gab. Ich erinnere mich nur an einen alten Band mit Grimmschen Märchen und einen mit den Märchen von Hauff, die ich sehr geliebt habe: „Mutabor!“

Und nach welchen Kriterien haben Sie die Marionetten ausgewählt, die in Ihrem Roman auftauchen? Warum z.B. der Storch, Prinzessin Li Si und der verloren wirkende kleine Prinz?
Das hat ganz verschiedene Gründe. Der Storch zum Beispiel ist eine der ältesten Marionetten der „Puppenkiste“, der kleine Prinz für mich die schönste.

Auf dem Theater-Dachboden begegnet das Mädchen auch einer geheimnisvollen Frauengestalt, die sich – passend zu ihrer Erscheinung – mit einem eigenartigen Namen vorstellt: Hatü. Was hat es mit ihr auf sich?
Hatü, wie sie ihr Leben lang genannt wurde, ist Hannelore Oehmichen. Für sie und ihre Schwester Ulla hat der Vater Walter Oehmichen, der Schauspieler und Regisseur am Augsburger Theater war, im Krieg sein erstes eher privates Marionettentheater gebaut. Als die Augsburger Puppenkiste dann 1948 öffentliche Premiere hatte, war sie zunächst ein Familienunternehmen: Die Mutter Rose war für die Kostüme zuständig, der Vater hat die Stücke ausgesucht und gespielt haben alle. Bei Hatü aber wurde schnell deutlich, dass sie eine besondere Begabung zum Marionettenschnitzen hatte. Ihr verdanken wir fast alle Figuren, die wir von der „Puppenkiste“ kennen, sie hat in ihrem Leben über 5.000 geschnitzt. Man kann sagen, dass die „Puppenkiste“ ihr Leben war. Sie hat sie nach dem Tod des Vaters weitergeführt, heute leitet sie ihr Sohn.

Was prädestiniert Hatü für die Haupt- oder Schlüsselrolle in Ihrem Roman?
Sie gehört zur Generation meiner Eltern, die um 1930 geboren sind und ihre Kindheit im Faschismus erlebt haben. Mich interessiert, auf welche Weise diese Generation nach dem Krieg mit ihren Erlebnissen umgegangen ist, denn diese Menschen sind es, die uns Heutige mit dem Nazi-Regime noch verbinden. Ihre Wunden und Traumata, ihre zerstörten Träume und ihre Orientierungslosigkeit haben sie an uns weitergegeben.

„Das Geheimnis ergründen …“

Inwieweit entspringt die Roman-Hatü dem historischen Vorbild der echten Hannelore Marschall-Oehmichen? Und inwieweit Ihrer Imagination?
Mein Roman folgt Hatüs Biografie: Der Urlaub mit den Eltern 1939, die Schule, die Bombennacht, die Kinderlandverschickung, ihre Freundschaft und Ehe mit Hanns. Auch die Namen sind, mit wenigen Ausnahmen, reale Namen. Ich habe natürlich viel recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen, etwa Hatüs Schwester. Aber „Herzfaden“ ist ein Roman. Die Weise, wie Hatü in der Rahmenhandlung erscheint, sähe seiner Mutter überhaupt nicht ähnlich, hat mir ihr Sohn einmal gesagt. Aber das ist in Ordnung. In der Fiktion beginnt meine eigentliche Arbeit als Schriftsteller. Schreibend und erfindend mache ich mich auf die Suche nach einer Geschichte, die gerade in der Abweichung von der Historie das Geheimnis zu ergründen sucht, von dem ich vorhin sprach.

Ihre Rückblenden führen zurück in eine Zeit, in der man den Erholungsurlaub noch Sommerfrische nannte, aber die unbeschwerten Tage gezählt waren. Was war Ihnen wichtig, als Sie den historischen Rahmen feststeckten?
Die Marionetten, die wir mit der Augsburger Puppenkiste verbinden, stammen alle aus den 60er und 70er Jahren. Ich wollte wissen, aus welchem Geist sie entstanden sind. Daher beginne ich am 1. September 1939, dem Tag des Kriegsausbruchs, als Hatüs Vater eingezogen wird, und lasse den Roman im Mai 1961 enden, am Vorabend der Filmaufnahmen von „Jim Knopf“. In diesen zwanzig Jahren entsteht nicht nur die „Puppenkiste“, deren Weg von einfachen Märchenstücken zur Inszenierung moderner Kinderliteratur für das Fernsehen führt. Es ist auch der Weg aus dem Faschismus ins Wirtschaftswunderdeutschland. Diese zwanzig Jahre waren prägend für unser Land und die „Puppenkiste“ gehört seitdem zu seiner DNA.

„Marionetten lügen nicht …“

Nicht zuletzt könnte man „Herzfaden“ als Künstlerroman lesen, denn schließlich geht es um die Geburt eines Theaters und kreative Entwicklungen. Wie wichtig war Ihnen als Thema oder Problematik das Hinundhergerissensein zwischen Freiheit der Kunst und Abhängigkeiten, z.B. von den politischen Machthabern?
Sehr wichtig! Der Vater von Hannelore Oehmichen war als Oberspielleiter des Augsburger Theaters einerseits Landesleiter der Reichstheaterkammer, andererseits hat er von den Nazis verbotene Autoren gespielt. Seine Entscheidung, nach dem Krieg nicht mehr mit Menschen arbeiten zu wollen, hat er selbst damit begründet, Marionetten würden nicht lügen. Das ist der Hintergrund der „Puppenkiste“.

„Ich war elektrisiert …“

Und was ist Ihr roter Faden, an dem Sie entlangerzählen?
Ich war elektrisiert, als mir bei der Beschäftigung mit dem Stoff auffiel, wie oft die Stücke der „Puppenkiste“ von verlorenen Kindern erzählen: Das Urmel schlüpft elternlos aus einem Ei, Jim Knopf kommt in einem Postpaket nach Lummerland. Wenn man nun weiß, dass das Gründungsteam der „Puppenkiste“ neben der Familie Oehmichen vor allem aus Freunden der Töchter bestand, aus jungen Menschen, die 1948 siebzehn oder zwanzig waren, begreift man plötzlich, dass diese Generation – die man ja die vaterlose nennt – in den Stoffen, für die sie sich interessierten, etwas verhandelt haben, was sie selbst betraf. Es geht um Patchwork-Familien, in denen vorurteilsfreie Freundschaft die zerstörten Familien ersetzt. Es geht, lange vor ´68, um gesellschaftliche Utopie in Märchenform.

Worum geht es Ihnen bei der Dachbodenbegegnung zwischen Hatü und dem Mädchen? Was spiegelt sich da für Sie? Was haben beide gemeinsam, obwohl sie aus verschiedenen Zeiten kommen?
Der Dachboden ist eine Märchenwelt, in der ein Zauber herrscht, den das Mädchen lösen muss, um in die reale Welt zurückkehren zu können. Ein Geheimnis muss gelüftet werden, das die beiden miteinander verbindet. Das Mädchen spiegelt sich in der Lebensgeschichte Hatüs und Hatü erkennt sich in dem Mädchen wieder.

Beim Stelldichein auf dem Dachboden wirkt der „kreisrunde Mondscheinteppich“ fast wie das Lagerfeuer eines Geschichtenerzählers in einer Oase … Was schwebte Ihnen vor?
Wie gesagt, dieser Dachboden ist kein realer Ort. Es ist ein Ort, der nach allen Seiten ins Dunkel führt. Nur an einer Stelle, wo das Mondlicht in ihn hineinscheint, kann man einander erkennen. Hier treffen Hatü, das Mädchen und all die Marionetten der „Puppenkiste“ aufeinander. Geschichten sind immer dafür da, die Angst vor dem Dunkel zu vertreiben.

 

„Es hat mir viel Spaß gemacht …“

Ziemlich am Schluss Ihres Romans hat ein besonderer Erzählkünstler seinen Auftritt: Michael Ende. Welche Bedeutung hat er in Ihrer Biografie als Leser und welchen Stellenwert in Ihrem Roman?
Zunächst einmal ist Ende für den Roman natürlich wichtig, weil er „Jim Knopf“ geschrieben hat, mit dessen Dramatisierung fürs Fernsehen der Roman schließt. Darüber hinaus aber ist „Die unendliche Geschichte“ für mich selbst ein wichtiges Buch gewesen, weil von dem Wunder erzählt, in einer Buchwelt sich zu verlieren. Und auch, weil es so schön zweifarbig gestaltet ist. Vielleicht, weil ich selbst als Kind leider gar keine schönen Bücher hatte, lege ich viel Wert darauf, wie meine eigenen aussehen. Ich mag es, wie Leineneinbände sich anfühlen, ich mag schönes Papier und wie die Schrift auf der Buchseite steht. Es hat mir viel Spaß gemacht, in „Herzfaden“ auch einmal mit zwei Farben spielen zu können. Und dazu kommen noch die wunderbaren Zeichnungen von Matthias Beckmann.