EIN VERWILDERTER GARTEN statt Kirschblüten, Spaghetti statt Teezeremonie, Turbulenzen statt Zen: Jenseits der Nippon-Klischees erschafft Japans Weltstar Haruki Murakami rätselhafte Traumwelten. Kein Kinderspiel für Übersetzer – und ein Glück für uns, dass die großartige Ursula Gräfe Murakamis Werke ins Deutsche überträgt. Ihre druckfrische Glanzleistung: „Die Chroniken des Aufziehvogels“, nun erstmals ungekürzt und direkt nach Murakamis japanischem Originaltext übersetzt.

Das Goethe-Institut definiert die Quintessenz des Übersetzens kompakt als „Kulturaustausch“. Wie würden Sie Ihren Anspruch formulieren?
Ich möchte so übersetzen, dass ein Werk aus einer anderen Kultur – im wahrsten musikalischen Sinne des Wortes – Anklang in meiner eigenen findet.

Was fasziniert Sie an Murakami und seinem Werk?
Die Art, wie er die Wirklichkeit und die normative Kraft des Faktischen infrage stellt. So sinniert der Ich-Erzähler in „Die Chroniken des Aufziehvogels“: „Aber ich wusste ja, dass die Wahrheit nicht unbedingt aus Fakten bestand und Fakten nicht unbedingt wahr sein mussten.“ Dieser Satz veranschaulicht eine der Kernaussagen von Murakamis Werk.

„Schritt für Schritt zum Gipfel“

Welche Vorgehensweise bewährt sich beim Übersetzen von Murakamis Romanen?
Die des Bergsteigens: früh aufstehen und Schritt für Schritt zum Gipfel, auch wenn ab 1.000 Seiten die Luft mitunter etwas knapp wird …

Würden Sie Murakami als typisch japanisch bezeichnen?
Für mich ist Haruki Murakami in mindestens zweifacher Hinsicht ein sehr japanischer Autor. Zum einen ist seine besondere Wirklichkeitsauffassung traditionell ein Merkmal japanischer Literatur. Seine Helden gehen nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich durch Wände. Zweitens stehen sich scheinbare Gegensätze wie Vergangenheit und Gegenwart, Gut und Böse oder innere und äußere Welt nicht als solche gegenüber, sondern fließen ineinander, bilden ein Kontinuum.

„Einem neuen Erzählstil zur Anerkennung verholfen“

Worin besteht Murakamis Verdienst in der japanischen Literaturgeschichte?
Sein Beitrag zur japanischen Literaturgeschichte liegt m. E. darin, dass er einem neuen Erzählstil zu Anerkennung verholfen hat. Er hat die Vorgaben der akademisch-elitären japanischen Literatursprache ganz bewusst in Frage gestellt und damit vielen jüngeren AutorInnen einen Weg geebnet.

Murakami ist in mehrfacher Hinsicht ein Pendler zwischen den Kulturen. Welche Erfahrungen und Einflüsse erscheinen Ihnen am relevantesten?
Ich glaube, den größten Einfluss auf sein Schreiben haben seine Leistungen als Übersetzer angelsächsischer Literatur. Einige LeserInnen werden überrascht sein: Haruki Murakami hat seit 1981 über siebzig Werke aus dem Englischen ins Japanische übertragen, darunter weltberühmte Autoren wie Raymond Chandler oder Scott Fitzgerald. Gerade ist eine Neuübersetzung von Carson McCullers von ihm erschienen.

Bei Ihrem neuesten Übersetzungsprojekt hat sich der „Aufziehvogel“ gemausert. Was sprach literarisch dafür?
Bisher lag nur eine Übersetzung vor, die auf einer gekürzten amerikanischen Vorlage beruhte. Damit waren „Die Chroniken des Aufziehvogels“ das einzige Werk Murakamis auf Deutsch, das nicht direkt aus dem Japanischen übersetzt war. Zudem gaben die der amerikanischen Ausgabe folgenden Kürzungen dem Roman eine Gestalt, die sich deutlich vom Original unterschied.

„Erstmals eine ungekürzte deutsche Ausgabe“

Ihre druckfrische Übersetzung von Murakamis „Die Chroniken des Aufziehvogels“ mit rund 1.000 Seiten unterscheidet sich von der früheren Ausgabe des „Mister Aufziehvogel“ mit nur 684 Seiten. Worin besteht der Mehrwert?
Der literarische Unterschied besteht in einem Ton, der, wie ich hoffe, dem des Originals atmosphärisch näherkommt. Der Mehrwert liegt eindeutig darin, dass uns nun eine ungekürzte deutsche Ausgabe vorliegt.

Wie würden Sie zusammenfassen, was die Leser in den „Chroniken des Aufziehvogels“ erwartet?
„Die Chroniken des Aufziehvogels“ gehören zu Murakamis komplexesten Werken. Sie sind historischer und fantastischer, Abenteuer- und Familienroman zugleich. Die Handlung setzt sich aus realistischen und magischen Strängen zusammen und spielt in verschiedenen historischen Epochen an den jeweiligen Schauplätzen. Erzählt wird aus der Perspektive von mindestens drei Hauptfiguren, die alle durch das Motiv des rätselhaften „Aufziehvogels“ miteinander verknüpft sind.

Die FAZ hat den Helden Toru Okada einst als „Wilhelm Meister der reinen Zufälligkeit“ bezeichnet. Wie sehen Sie ihn?
Vielleicht als Josef im tiefen „Brunnen der Vergangenheit“?

„Menschen, die ein Ohr für die Mechanik der Welt haben“

„Aufziehvogel“ bringt einen auf alle möglichen Gedanken. Was steht für Sie im Vordergrund?
Im Begriff „Aufziehvogel“ überlappen sich zwei Bilder. Einmal erinnert er an das mechanische Spielzeug, das beim Aufziehen schnarrt, zum anderen ist er ein Wesen oder besser eine Kraft, die die Welt in Gang hält, indem sie deren Federwerk immer wieder aufzieht. Doch nur bestimmte Personen sind in der Lage, dieses Schnarren zu vernehmen. Menschen, die ein Ohr für die Mechanik der Welt haben? Übrigens fehlen in der alten Übersetzung auch einige Stellen, die den Aufziehvogel als „Weltaufzieher“ ausführlicher beschreiben.

Neben dem Aufziehvogel im Titel tauchen noch weitere Vögel auf, etwa in den Überschriften der drei Hauptteile des Romans. Welche symbolische Bedeutung von Vögeln klingt hier für Sie an?
Vögel schweben über allem und besitzen deshalb einen weiten und distanzierten Überblick. Im Allgemeinen stehen sie auch für den freien Flug der Gedanken oder gelten als Unglücksboten – diese ganze Symbolik ist auch im Aufziehvogel enthalten.

„Es gibt mehrere musikalische Leitmotive.“

Dass Murakami Musik liebt, macht sich auch in den „Chroniken des Aufziehvogels“ bemerkbar. Welche Bedeutung hat Musik in diesem Roman?
Wie in beinahe allen Romanen von Haruki Murakami gibt es auch hier mehrere musikalische Leitmotive. Die Ouvertüre zu Rossinis „Die diebische Elster“, ein unbeschwerter Komödienstoff, deutet zunächst auf heitere Verwicklungen hin, die jedoch – wie in der Oper – bald eine gefährliche Wendung nehmen. Weitere musikalische Hinweise gibt das Stück „Vogel als Prophet“ von Schumann, denn auch Prophezeiungen spielen eine entscheidende Rolle im Roman. Auch Mozarts „Zauberflöte“ gibt dem Leser gewisse Hinweise.

Murakami selbst sieht seine besondere Fähigkeit darin, „Träume zu erschaffen“. Was ist für Sie das Faszinierende an seiner Aufziehvogel-Traumwelt?
Das verschlungene Geflecht von Vergangenheit und Gegenwart und die Ausflüge in ebenso untrennbar miteinander verknüpfte persönliche, historische und unterirdische Welten.

Was hat Ihnen bei diesem Übersetzungsprojekt und den Recherchen am meisten Freude gemacht?
Die Recherchen zu Mandschukuo, dem 1932 von Japan in der besetzten Mandschurei errichteten Marionettenstaat, einem Schauplatz, der den meisten Lesern sicher aus dem Film „Der letzte Kaiser“ bekannt ist. Charaktere wie Leutnant Mamiya, der schwer verwundet wird und als Kriegsgefangener in einem sibirischen Kohlebergwerk landet, der japanische Tierarzt im Zoo der Hauptstaat von Mandschukuo und seine Tochter Muskat, die auf einem Flüchtlingsschiff nach Japan zurückkehrt, zeichnen ein Bild von Ereignissen im Zweiten Weltkrieg, das mir so nicht bekannt war und auch viel mit japanischer Vergangenheitsbewältigung zu tun hat. „All diese Menschen bildeten einen Kreis“, überlegt Ich-Erzähler Toru Okada an einer Stelle, „in dessen Mitte sich die Mandschurei, das ostasiatische Festland und die Schlacht bei Nomonhan im Jahr 1939 befanden. Aber ich konnte mir nicht erklären, warum Kumiko und ich in diese Verkettung historischer Ereignisse hineingezogen worden waren. All das war lange vor unserer Geburt geschehen.“