Die Weltpresse verkündete ein „großes Ereignis“ – eine Untertreibung, denn die Nürnberger Prozesse waren ohnegleichen. Nie zuvor hatte es ein solches Tribunal von Siegermächten gegeben wie 1945/46, als die NS-Hauptkriegsverbrecher zur Verantwortung gezogen wurden. Und nie zuvor waren so viele bedeutende KorrespondentInnen unter einem Dach vereint wie im Press Camp, dem „Schloss der Schriftsteller“. Uwe Neumahr lässt das einzigartige Szenario lebendig werden und die interessantesten Stimmen zu Wort kommen.

Literarisch scheinen Sie mit allen Wassern gewaschen zu sein. Wie würden Sie sich vorstellen?
Tatsächlich trifft der Begriff „Büchermensch“ gut auf mich zu. Ich kenne die Buchbranche aus verschiedenen Blickwinkeln und bin seit zwanzig Jahren beruflich mit ihr verbunden. Anfangs war ich Lektor. Heute arbeite ich hauptberuflich als Literaturagent für eine internationale Literaturagentur. Für meine Autoren bin ich als Ansprechpartner und „book doctor“ tätig, außerdem schreibe ich leidenschaftlich gerne selbst Bücher. Ich weiß also, wie der Buchhase läuft.

Was war Ihr bisher abenteuerlichstes Arbeitsprojekt? Und was war für Sie selbst das Spannende und Bereichernde daran?
Das abenteuerlichste Projekt war „Das Schloss der Schriftsteller“. Ich schrieb das Buch größtenteils während der Corona-Pandemie. Bibliotheken, Archive und Schloss Faber-Castell waren monatelang geschlossen, es gab Zulassungsbeschränkungen. Man musste buchstäblich um einen der Sitzplätze in den Archiven kämpfen, da nur wenigen Besuchern Einlass gewährt wurde. Es war mit großen Mühen verbunden, an US-Quellen heranzukommen, vor allem, weil ich an einen Manuskriptabgabetermin gebunden war und unter Zeitdruck stand. Dass es am Ende doch geklappt hat, war ein sehr schönes Gefühl.

„Gebrochene Persönlichkeiten faszinieren mich.“

Einen Namen als Autor haben Sie sich mit Biografien gemacht. Welche Persönlichkeiten oder Charaktere interessieren und / oder faszinieren Sie am meisten?
Gebrochene Persönlichkeiten faszinieren mich. Menschen, die in ihrem Leben an einem Wendepunkt standen und sich neu erfinden mussten. Der Nürnberger Prozess war für viele ein Wendepunkt. Man hatte von den in den Konzentrationslagern begangenen Gräueltaten gehört. Nur die wenigsten aber hatten die Zustände in den Lagern gesehen – bis sie im Nürnberger Gerichtssaal mit Filmaufnahmen und den Aussagen von Opferzeugen konfrontiert wurden. Es gab Korrespondenten, die darum baten, nach Hause geschickt zu werden, weil sie es nicht mehr aushielten. Der Prozess veränderte die Menschen.

Was veranlasste Sie nach Büchern z.B. über den Barockkomponisten Georg Friedrich Händel, den Renaissancefürsten Cesare Borgia und den spanischen Nationaldichter Cervantes nun zum Ihrem großen historischen Sprung an deutsche Abgründe des 20. Jahrhunderts?
Alle diese Bücher haben etwas mit meiner eigenen Biografie zu tun. Sie spiegeln Interessen während gewisser Lebensphasen wider. Ursprünglich wollte ich Geiger werden und war schon immer ein großer Liebhaber der Musik Händels. An der Universität spezialisierte ich mich auf die Literatur der Renaissance und begann als Postdoktorand schließlich eine Habilitation über einen Roman von Cervantes. Heute vertrete ich als Literaturagent u.a. das Werk von John Dos Passos für den deutschen Markt, einem der Hauptprotagonisten meines Buches.

Wie kamen Sie auf „Das Schloss der Schriftsteller“? Was war der Auslöser oder Ausgangspunkt?
Das Unternehmen Faber-Castell unterhält eine Kunstakademie in Stein. Dort war ich als Dozent im Fachbereich „kreatives Schreiben“ tätig. Eines Tages machte mich der Leiter der Akademie beiläufig darauf aufmerksam, dass „drüben im Schloss“ während der Nürnberger Prozesse zahlreiche berühmte Schriftsteller als Korrespondenten untergebracht waren. John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann … Ich wusste nichts davon, wurde aber sofort hellhörig. Meine Recherchen ergaben, dass es noch kein Buch zu diesem Thema gab; ich fing Feuer, schrieb ein Exposé und konnte schließlich den Beck Verlag für das Thema begeistern.

„Das Einmalige: Damals traf Weltliteratur auf Weltgeschichte.“

Tauschen Sie mal bitte kurz in Gedanken Ihre Rolle vom Autor zum Literaturagenten: Wie würden Sie die Quintessenz und das Besondere an Ihrem neuen Buch zusammenfassen?
Das Einmalige war, dass damals Weltliteratur auf Weltgeschichte traf. Es war eine einzigartige Versammlung von Schriftstellern und ein Gipfeltreffen, das auf Schloss Faber-Castell stattfand.

Warum war es für Sie keine Verlockung, über das Grand Hotel in der Nürnberger Innenstadt zu schreiben, das noch berühmtere Gäste beherbergte und als glamouröser galt?
Das eigentliche Presselager war Schloss Faber-Castell. Das Grand Hotel diente offiziellen Besuchern als Quartier, die nur kurz in der Stadt waren, darunter Politiker, Militärs, aber auch Spitzenvertreter aus der Welt der Medien. Als Literaturwissenschaftler interessierte mich vor allem die schreibende Zunft, und die logierte größtenteils in der Steiner Schaltzentrale der Presse, teils monatelang. Aber Sie haben Recht. Ein Buch über die berühmten Gäste des Grand Hotel muss noch geschrieben werden.

Am Schloss schieden sich 1945/46 die Geister. Für die einen war es „German Schrecklichkeit“, für die anderen „ein Ort mit besonderer Atmosphäre“. Wie haben Sie es selbst bei Ihren Besuchen erlebt? Was hat Sie beeindruckt? Was fanden Sie beklemmend oder ernüchternd?
Geschmäcker gibt es ja bekanntlich so viele wie Sterne am Himmel. Meinen Geschmack trifft Schloss Faber-Castell nicht, ich finde es aber unter kunstgeschichtlichen Gesichtspunkten ein faszinierendes Gebäude. Es ist eine individuelle Schöpfung, die künstlerische Aufgeschlossenheit und internationalen Anspruch verrät. Beeindruckt haben mich die gräflichen Badezimmer, die auf dem neuesten Stand der Technik und für die damalige Zeit geradezu luxuriös waren. Nicht von ungefähr sollen dort einer Legende nach Ernest Hemingway, John Steinbeck und John Dos Passos gemeinsam in der Badewanne geplanscht haben.

„Im Press Camp traf sich ein bunter Kosmos.“

Das Press Camp in Schloss Stein bezeichnen Sie als „Ort der Gegensätze“. Was waren die gravierendsten Unterschiede und wer verkörperte sie?
Es war ein Mikrokosmos, in dem Menschen der unterschiedlichsten Couleur auf engem Raum zusammenlebten. Kommunisten trafen auf Vertreter westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter auf extravagante Starreporter, Feministinnen auf Machos. Erika Mann, offiziell Angehörige des US-Militärs, lebte im Presselager mit ihrer Geliebten zusammen, obwohl homosexuelle Beziehungen im US-Militär verboten waren. Hitlers ehemaliger Hausintendant wurde nach seiner Entnazifizierung auf Schloss Faber-Castell angestellt und bediente jüdische Korrespondenten.

Was macht den im November 1945 eröffneten Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess für Sie zum Ausnahmeereignis der Weltgeschichte und was war Ihnen beim Vergegenwärtigen wichtig?
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurden hier die politisch und militärisch Verantwortlichen eines verbrecherischen Regimes zur Rechenschaft gezogen. Trotz der unfassbaren Verbrechen der Nazis sollte Rechtsstaatlichkeit über Rachegelüste siegen, obwohl Stalin anfangs einen Schauprozess und Churchill ein Standgericht gefordert hatten. Auch wenn sicher nicht alles perfekt war, wurde der Prozess ein ethisch fundierter Gegenentwurf zu der von den Nazis praktizierten Skrupellosigkeit.

Wie sehen Sie die Rolle der Medien beim Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und speziell bei den Nürnberger Prozessen?
Das Press Camp war das Inbild einer freien und demokratischen Presse, eine Oase guten internationalen Einvernehmens. Es hatte Vorbildfunktion für Deutschland. Deutsche Medienvertreter lernten, dass es im Gegensatz zur politischen und kulturellen Indoktrination während des Nationalsozialismus Meinungsfreiheit geben konnte.

Seine große Stunde als Journalist hatte damals der Schriftsteller Erich Kästner. Was ist für Sie das Spannende an seiner neuen Aufgabe und an dem US-Zeitungsprojekt, in dessen Dienst er stand?
Die von den Amerikanern begründete Neue Zeitung, deren Kulturteil Erich Kästner leitete, sollte der neuen deutschen Presse durch objektive Berichterstattung, bedingungslose Wahrheitsliebe und durch ein hohes journalistisches Niveau als Beispiel dienen. Kästner wurde diesem Anspruch in den von ihm verantworteten Seiten voll gerecht. Er veröffentlichte Beiträge von Schriftstellern, die während der NS-Zeit verboten waren, räumte dem literarischen Nachwuchs Platz ein, ließ in der Kunstbeilage Werke von Künstlern abbilden, die zuvor noch als „entartet“ galten. Kästners Feuilleton stand für geistige Freiheit.

Über den Nürnberger Prozess berichteten auch deutsche JournalistInnen – unter besonderen Bedingungen. Wie würden Sie deren Situation und Status beschreiben?
Deutsche Journalisten wurden anfangs geradezu physisch ausgegrenzt. Einlass bei Gericht erhielten sie nur über einen gesonderten Eingang mit gelbem Presseausweis, während die ausländischen Pressevertreter einen blauen Ausweis hatten. Um eine Bleibe in Nürnberg mussten sie sich selbst kümmern, während ihren Kollegen das Press Camp zur Verfügung stand. Dort war der Zutritt für Deutsche verboten. Aufgrund des Fraternisierungsverbots ging man ihnen aus dem Weg. Im Lauf der Zeit verbesserte sich ihre Situation, von Gleichberechtigung konnte aber nie die Rede sein.

„Der Schnappschuss symbolisiert die enorme Konkurrenz …“

Sie zeigen auf einem Prozess-Schnappschuss einen sprintenden US-Reporter. Was ist an dem Bild symptomatisch?
Das Foto zeigt den Journalisten Wes Gallagher, wie er nach der Urteilsverkündung zu einem der wenigen Überseetelefone im Gerichtsgebäude rennt, um vor seinen Kollegen in die USA berichten zu können. Der Schnappschuss symbolisiert die enorme Konkurrenz, die unter US-Journalisten herrschte. Sie alle waren auf der Jagd nach einem Scoop und mussten Auflage machen. Die Konkurrenz hatte leider auch zur Folge, dass einige übertrieben, sensationsheischend schrieben und sogar Fake News verbreiteten.

Wie schwer fielen Ihnen die Entscheidungen, unter all den Edelfedern herauszufiltern, wessen Perspektive Sie hervorheben? Was war Ihre Leitlinie?
Ich habe mich um die literarisch hochwertigsten Prozessbeiträge bemüht und natürlich stehen „große“ Namen im Vordergrund. John Dos Passos, Erich Kästner, Martha Gellhorn. Wer waren sie, als sie nach Nürnberg kamen? Wie veränderte sie der Prozess? Bei Willy Brandt war es nicht unbedingt dessen literarische Qualität als Berichterstatter, die mich faszinierte. Bei ihm war politisch interessant, wie er zur Sowjetunion stand und biografisch, dass er im Press Camp monatelang Markus Wolf über den Weg lief, jenem Mann, der ihn später als Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes über einen Kanzleramtsspion stürzte.

Gleich doppelt ist in Ihrem Buch die Schriftstellerdynastie der Manns vertreten. Was spricht dafür und warum Erika und Golo Mann?
Die Manns waren nicht nur in literarischer Hinsicht eine der bedeutendsten deutschen Familien des 20. Jahrhunderts, sie erlangten moralische Vorbildfunktion, indem sie den Nazis auf mutige Weise entgegentraten, insbesondere Erika, die, wie Golo, vom Prozess berichtete. Faszinierend ist ihre ganz unterschiedliche Sicht auf den Fall Rudolf Heß. Golo Mann trat später vehement für die Freilassung von Rudolf Heß aus dem Spandauer Militärgefängnis ein, Erika war strikt dagegen. Tatsächlich hatte Rudolf Heß seine schützende Hand über Alfred Pringsheim gehalten, beider Großvater, der als Jude durch Heß’ Einfluss weitgehend von Nachstellungen verschont blieb. Golo Mann war Heß in gewisser Weise dankbar dafür, Erika Mann aber verachtete ihn zeitlebens. Erikas unversöhnlicher Hass und Golos Plädoyer für Milde sollten in ihrer Beurteilung der Kriegsverbrecher symptomatisch werden für Teile der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

„Auch ein Buch über Sprachlosigkeit und Sprachwandel.“

Was wollten Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch ergründen? Welchen Phänomenen haben Sie besonders intensiv nachgespürt?
Der Nürnberger Prozess und die darin verhandelten Gräuel wirkten auf viele Berichterstatter traumatisch. Menschen veränderten sich in Nürnberg und damit auch ihre Schreibweise. Diese Wandlung wollte ich biografisch, aber auch anhand der darin beschriebenen Texte ergründen. Mein Buch ist auch ein Buch über Sprachlosigkeit und Sprachwandel im Angesicht des Grauens.

Nicht zuletzt beleuchten Sie die Geschichte der gräflichen Schlossbesitzerfamilie Faber-Castell. Was fanden Sie dabei am interessantesten?
Schloss Faber-Castell wurde 1945 von amerikanischen Besatzungsoffizieren beschlagnahmt und die Grafenfamilie kurzerhand vor die Tür gesetzt. Die Familie zog in ihr Jagdhaus im nahen Dürrenhembach, das bald zu einem exklusiven Erholungsort für Prozessbeteiligte wurde. Dort fanden beliebte Abendgesellschaften statt, an denen amerikanische Anklagevertreter wie Robert Kempner, aber auch Verteidiger der Angeklagten teilnahmen. In Dürrenhembach sprach man in geselliger Runde off the record über das Prozessgeschehen, wie es in Nürnberg so nicht möglich gewesen wäre. Gräfin Katharina, die Gastgeberin, hatte während des Prozesses eine Liebesaffäre mit dem ehemaligen Chef der Gestapo Rudolf Diels, der im Nürnberger Zeugenhaus wohnte. Sie war aber auch mit Drexel Sprecher verwandt, der die US-Anklage gegen Baldur von Schirach leitete.

Oft ist die Rede von der „Stunde Null“, eine Bezeichnung, die nicht unumstritten ist. Wie ist Ihre Sicht?
Dass die Stunde Null, also die Zerschlagung des NS-Staates, einen radikalen und vollständigen Umbruch in der deutschen Gesellschaft bewirkt hätte, halte ich für falsch. Natürlich gab es Kontinuitäten. Eine Tabula-rasa-Situation gab es nicht, auch nicht in der Literatur. Der Wandel vollzog sich erst langsam.

„Im Frauenhaus gab es jede Menge Urinale …“

Wen hätten Sie gern mal an der Steiner Schloss-Bar getroffen? Welche Drinks hätten Sie bei Cocktail-Alchimist David bestellt und was zur Sprache gebracht?
Zur Sprache gebracht hätte ich die Zustände im sogenannten Frauenhaus, der Villa im Schlosspark, in der die Korrespondentinnen untergebracht waren. Dort gab es zwar jede Menge Urinale, aber kaum Toiletten. Dass die Damen deshalb auf die Barrikaden gingen, ist nur zu verständlich. Zwei der am lautesten Protestierenden waren Erika Mann und ihre Geliebte Betty Knox, eine ehemalige Burlesque-Tänzerin, die laut Erika Mann „wild und ausgeflippt“ war. Mit beiden hätte ich zu gerne einen „Zombie“ getrunken. David hätte dafür Verständnis gehabt.

Und wem hätten Sie gern einen „Sir Winny“ ausgeben und warum?
„Sir Winny“ war ja eine Art Versöhnungsgetränk für die Russen, nachdem Winston Churchill seine stalinkritische Fulton-Rede gehalten hatte, die den kalten Krieg eröffnete. Churchill hatte damit auch einen Keil in die Gesellschaft des Press Camp getrieben und die Sowjets von den anderen Korrespondenten isoliert. Barkeeper David war das gar nicht recht, er kreierte kurzerhand einen Cocktail namens „Sir Winny“ in Anlehnung an Churchill. Der schmeckte zwar niemandem, aber genau das scheint Davids Absicht gewesen zu sein. Weil er so schlecht war, hätte ich ihn nur ungern jemandem ausgegeben.

Was war für Sie der größte Gewinn bei Ihrer Recherche über die Steiner Schlossgesellschaft und die mitunter wilde WG-Zeit?
In Coronazeiten ein wunderbares Buchprojekt verfolgen zu dürfen und zu wissen, dass die von mir beschriebenen Schriftsteller in ihrem Leben so viel Schlimmeres erleben mussten.