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Als großer Einzelgänger der amerikanischen Literatur brachte es Cormac McCarthy (Jahrgang 1933) zu Weltruhm. Nach seinem Millionenerfolg „Die Straße“ (2006) übertrifft sich der vielfach ausgezeichnete Autor nun selbst – mit zwei überraschenden, raffiniert verbundenen Romanen auf einen Schlag: „Der Passagier“, ins Deutsche übertragen von Nikolaus Stingl (NS), und „Stella Maris“, übertragen von Dirk van Gunsteren (DvG). Die preisgekrönten Übersetzer baten wir um Einblicke.
Welchen Status hat Cormac McCarthy für Sie?
NS: Für mich ist er eine singuläre Erscheinung. Ich kenne keinen anderen amerikanischen Autor, der Themen wie existentielle Vereinsamung des Menschen, Tod und Sterben mit solcher Intensität, solcher sprachlichen Wucht und so tiefem Pessimismus und zuweilen auch tiefschwarzem Humor gestaltet.
DvG: Ich finde den Grundton seiner Romane relativ düster. Der Tod ist darin nie weit entfernt und ohne erlösende Transzendenz. Für seine Figuren wie für die Menschheit insgesamt scheint McCarthy nicht viel zu erhoffen – das hat schon was sehr Grimmiges, Existenzialistisches.
Wie ordnen Sie „Der Passagier“ und „Stella Maris“ im Gesamtwerk von McCarthy ein?
NS: Ich empfinde die beiden Romane als eine Art Lebensfazit. McCarthy zieht so etwas wie die Summe aus seinen Erkenntnissen über die Menschen, die Welt, die Fragen, die ihn als Autor sein Leben lang beschäftigt haben. Anders als in den früheren, eher plotorientierten Romanen gewinnen die beiden neuen Bücher durch die Einbeziehung von Naturwissenschaften und Erkenntnistheorie aber zusätzliche Tiefe.
DvG: Zusammengenommen sind die beiden Romane der wuchtige Schlussstein des beeindruckenden Gesamtwerks eines der größten amerikanischen Autoren.
„Bobby Western ist eine gebrochene Figur, ein Suchender …“
Herr Stingl, wie sehen Sie die Hauptfigur Bobby Western in „Der Passagier“?
NS: Wie alle Hauptfiguren von McCarthy ist Bobby Western eine gebrochene Figur, ein Suchender, mitunter auch Getriebener. Überraschend und neu in „Der Passagier“ ist das Hinzutreten der naturwissenschaftlichen, erkenntnistheoretischen und auch sehr konkret der politischen Dimension.
Welcher Satz im Roman ist besonders typisch für Bobby Western?
NS: „Es ist nicht bloß so, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich weiß nicht mal, was ich nicht tun soll.“
„Es ist faszinierend und furchtbar, sie scheitern zu sehen.“
Was macht Alicia Western, die Hauptfigur in „Stella Maris“, zum Ausnahmephänomen?
DvG: Alicia ist meines Wissens die einzige weibliche Hauptperson in McCarthys Gesamtwerk. Zum Ausnahmephänomen wird sie durch die Kompromisslosigkeit ihres Strebens nach Erkenntnis, nach dem Absoluten, der Wirklichkeit hinter den Dingen. Sie ist überaus intelligent, ein mathematisches Wunderkind, und wählt den Weg der Ratio, der Logik, der mathematischen Abstraktion. Es ist faszinierend und furchtbar, sie scheitern zu sehen.
Welche Äußerung im Roman charakterisiert Alicia Western besonders gut?
DvG: „Die Grenzen eines Systems zu finden, heißt nicht bloß, die Grenzen zu finden, sondern auch das, was jenseits davon liegt. Nur muss man die Grenzen erst einmal finden.”
Cormac McCarthy setzt in seinen beiden neuen Romanen auf Dialog. Was ist für Sie das Spannende daran und was sind hier McCarthys Stärken?
NS: Für mich ist faszinierend, wie es McCarthy gelingt, Figuren mittels ihrer Redeweise zu charakterisieren und Figurenkonstellationen durch den Dialog auszuleuchten. Diese Dialoge sind äußerst präzise und sparsam komponiert, vieles steht zwischen den Zeilen, Nichtgesagtes und Weggelassenes ist ebenso bedeutsam wie explizit Geäußertes.
DvG: „Stella Maris” besteht ausschließlich aus Dialog. Alles, was der Leser über die Sprechenden und die Gesprächssituation erfährt, muss er dem Gesagten entnehmen. Das erzeugt eine enorme Unmittelbarkeit – „Stella Maris” ist wie ein Hörspiel ohne Geräuscheffekte. McCarthys Stärke ist sein überaus genaues Ohr für die gesprochene Sprache und ihre Zwischentöne: Er setzt seine Worte so, dass man beim Lesen den Tonfall hört.
„Einer der grandiosesten Einfälle ist der ‚Contergan-Zwerg‘.“
Woran zeigt sich für Sie die Meisterschaft von McCarthy in „Der Passagier?
NS: In dem kunstvollen Verwirr- und Vexierspiel, das McCarthy mit der Vielzahl von Motivsträngen, Seiten- und Querverzweigungen inszeniert. Einer der grandiosesten Einfälle ist der „Contergan-Zwerg“ mitsamt seiner Menagerie abgehalfterter Varieté- und Minstrel-Figuren, die Bobbys Schwester heimsuchen, Manifestationen ihrer gestörten Psyche, so glaubt man zumindest, bis er dann auch Bobby begegnet. Einer der vielen Momente in dem Buch, in dem Gewissheiten, die man als LeserIn gewonnen zu haben meint, immer wieder umgestoßen werden.
Was macht für Sie die Intensität von „Stella Maris“ aus?
DvG: Das Beeindruckende an „Stella Maris“ ist Alicias bereits erwähnte Kompromisslosigkeit, ihr Wille, mit Hilfe von Logik und Ratio an die Grenzen des Verstandes und womöglich darüber hinaus zu gehen. Die Passage, in der sie die Vorzüge und Nachteile verschiedener Suizidmethoden schildert, gehört zu den Beklemmendsten, die ich je gelesen, geschweige denn übersetzt habe. Dass Alicia in ihrem Streben nach Erkenntnis letztlich scheitert, mag tragisch erscheinen, ist aber konsequent.
Angesprochen und angedeutet werden in „Der Passagier“ individuelle und kollektive Traumata. Was ist für Sie die Quintessenz oder größte Tragödie?
NS: Eine Quintessenz zu ziehen fällt mir schwer, dazu ist der Roman einfach zu vieldeutig und vielschichtig. Die sicherlich größte Tragödie ist die – unerfüllt bleibende – Liebe zwischen den Geschwistern und für Bobby Western der Tod der Schwester, von dem er weiß, dass er ihn bis an sein Lebensende nicht wird verwinden können. Übrigens auch das eine große Stärke des Romans: wie McCarthy das Thema Geschwisterliebe behandelt, das Inzest-Motiv ohne jeden schwülen Voyeurismus bloß andeutet, den Freitod der Schwester, die an der Unüberwindbarkeit der intellektuellen Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird und auch im Spirituellen keine Erlösung findet, als letzten Endes unausweichlich darstellt.
Es gibt mehrere Lesarten von „Stella Maris“. Was steht für Sie im Zentrum?
DvG: Wissen und Erkenntnisse bringen keine Erlösung – die gibt es nur im Transzendenten.
Warum empfiehlt sich für LeserInnen die Lektüre beider Romane?
NS: Das sind Romane für sinnsuchende LeserInnen, die von Literatur –oder Kunst überhaupt – erwarten, dass sie aufs Ganze geht: Sie werden sich keine Sekunde langweilen!