Buch des Jahres in den USA, Nummer 1 auf den wichtigen Bestsellerlisten, Lobeshymnen der renommiertesten LiteraturkritikerInnen und Schriftsteller­Innen, Hollywood-Verfilmung: Die an Millionenerfolge gewöhnte Gabrielle Zevin übertrifft sich selbst mit ihrem neuen Meisterwerk: „Morgen, morgen und wieder morgen“ ist ein faszinierend facettenreicher Roman über die Kreativität der Computerspiel-Szene, über Wagnis und Scheitern, Popkultur und Freundschaft. Und es ist eine berührende Liebesgeschichte, die offiziell gar keine ist.

Ihr neuer Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ ist ein Feuerwerk an erzählerischen Einfällen. Was hatten Sie im Sinn?
Die erste Generation von Menschen, die als Kinder Videospiele spielten, wurde in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren geboren. Diese Leute konsumierten Videospiele auf die gleiche Weise wie frühere Generationen Bücher lasen oder Filme ansahen. Ich betrachtete das Buch als Künstlerroman mit dem Thema „Videospiele“.

Welche Idee oder Frage, Sehnsucht oder Entdeckung stand für Sie ganz am Anfang Ihres Romanprojekts?
Die Videospiele, die ich seit meiner Kindheit spiele, formten mich teilweise als Künstlerin, und doch sprach ich nie davon, dass mich Videospiele faszinieren. Ich dachte nie, dass es etwas Interessantes an mir sei. Das Erste, was mir durch den Kopf ging, war: Warum gibt es keinen Roman, in dem Videospiele so beschrieben werden, wie ich sie erlebt habe?

Inwiefern schwebte Ihnen eine Hommage an kreative Köpfe und Erfindungsgeist vor?
Das große Thema meines Romans ist der kreative Prozess und die Art und Weise, wie Ideen zu Dingen werden.

Was begeistert Sie an der Atmosphäre damals in den 1990er Jahren?
Die Leute sprechen von „Videospielen“ und denken dabei vielleicht an Pac-Man mit seinem Arcade-Spielautomaten. Was aber wirklich cool ist, ist, wie viele verschiedene Arten von Spielen zwischen 1980 und 1990 erfunden wurden. Alles von ,King’s Quest‘ über ,Tetris‘ bis hin zu ,Sim City‘, ,Civilization‘ und ,Final Fantasy‘. Was mich begeisterte, waren z. B. die Schöpfer von ,Doom‘ oder ,Myst‘, denn es handelte sich dabei um relativ junge Leute mit relativ kleinen Teams, und dennoch wurden ihre Spiele zu beachtlichen Rennern.

„Computerspiele waren eine Lösung für meine Einsamkeit.“

Wie Ihre Protagonisten Sadie und Sam sind Sie Mitte der 1970er Jahre geboren. Wann und wie hat Ihre eigene Geschichte als Gamerin begonnen?
Ich bin ein Einzelkind, und das hieß, dass Computerspiele eine Lösung für meine Einsamkeit waren. Mein Vater war Computerprogrammierer, und die ersten Spiele, die ich spielte, waren die, die auf dem PC vorinstalliert waren, den er von der Arbeit nach Hause mitbrachte.

Welchen Einfluss hatten eigentlich ihre Eltern, die beide in der IT-Branche tätig waren? Welche Interessen haben die beiden bei Ihnen hauptsächlich geweckt und gefördert?
Ich habe Technologie nicht als etwas Fremdes erlebt, sondern als Teil meines Lebens, und ich denke, das kann man in meiner Arbeit sehen. Meine Eltern sind beide begeisterte Leser! Mein Vater hätte mir als Kind nie eine Videospielkonsole geschenkt, weil er dachte, die Spiele darauf seien eine Zeitverschwendung. Ich spielte nur das, was sich bereits auf dem PC unserer Familie befand. Eine Konsole kaufte ich mir erst, als ich erwachsen war.

Ihre Romanheldin Sadie kann sich bei einem Wohnungswechsel kaum entscheiden, welche Bücher sie mitnimmt. Welche Gemeinsamkeiten hat sie in punkto Leseleidenschaft mit Ihnen und verstehen Sie die in Ihrem Roman genannten Titel als Empfehlungen?
Alle Bücher, die Sadie liest, habe ich auch gelesen, aber deswegen sind sie nicht automatisch Lektüreempfehlungen meinerseits. Wenn ich erwähne, was eine Romanfigur liest, denke ich erstmal nach: Was würde diese Person lesen? Lesevorlieben spiegeln den Charakter in der Fiktion und im Leben wider.

Was zeichnet für Sie ein gutes Computerspiel aus?
Spiele können so viele Bedürfnisse abdecken. Manchmal möchte ich mich in einem einfachen Spiel mit fallenden Bausteinen wie ,Tetris‘ verlieren. Manchmal möchte ich in eine Geschichte mit Charakteren wie bei ,The Last of Us‘ eintauchen. Manchmal möchte ich Essen in einem Diner servieren, oder einen Flughafen bauen, oder magische Pflanzen pflegen, oder Rennwagen fahren, oder ein Familienbrettspiel spielen, oder Drachenfliegen, oder den Wilden Westen überleben …

„… auf Figuren basierende Geschichten.“

Was verbindet für Sie das Romanschreiben mit der Entwicklung von Computerspielen? Was ist die Gemeinsamkeit?
Ich denke, das Geschichtenerzählen in einem Action-Adventure-Spiel wie ,The Last of Us‘ hat viel gemeinsam mit dem Schreiben von Romanen. Die Autoren erzählen auf Figuren basierende Geschichten, die Spieler-/LeserInnen auffordern, sich tief in jemanden einzufühlen, der ganz anders als man selbst ist.

Angenommen, man wollte Ihren Roman zu einem Computerspiel umfunktionieren: Mit welchen Stichworten würden Sie die verschiedenen Levels überschreiben?
Vielleicht würde jedes der Levels mit den Spielen übereinstimmen, die Sam und Sadie kreieren: ,Solution‘, ,Ichigo‘, ,Both Sides‘, etc.

Ein großes Thema bei der Spielentwicklung ist das Charakterdesign – genau wie beim Schreiben die Erschaffung der Romanfiguren. Wie gehen Sie vor?
Charaktere beginnen mit der Recherche. Ich möchte Dinge herausfinden wie: Wer sind die Leute, die Videospiele machen? Wie alt sind sie? Woher kommen sie und wo leben sie und wo gingen sie zur Schule? Wie sehen sie aus? Welche Spiele spielen sie? Bücher? Filme? Wie sind sie mir ähnlich? Inwiefern sind sie anders als ich? Was ist der Unterschied zwischen dem Job, den ich tue und dem Job, den sie tun? Und dann, nachdem ich ein Gefühl für sie entwickelt habe, beginnt die Erfindung.

Wie sehen Sie Sadie und Sam? Wie würden Sie die beiden charakterisieren?
Auf der grundlegendsten Ebene sehe ich Sadie als brillante Person in einer Branche, in der es sehr wenige Frauen gibt und in der Frauen nicht immer ernst genommen werden. Ich sehe Sam als jemand, der Schwierigkeiten hat, auf Menschen zuzugehen und in seinem Körper zu leben: Videospiele bieten ihm eine Möglichkeit, beides zu tun. Eine Sache, die sowohl Sadie als auch Sam anspricht, ist die offensichtliche Unsterblichkeit von Videospielcharakteren.

„Ein Gefühl von tiefer Sympathie und Sicherheit.“

Die allererste Begegnung von Sadie (11) und Sam (12) hat etwas von einem kleinen Wunder. Was entfaltet da fast eine Art Zauberkraft? Was stiftet die spontane Verbundenheit?
Sadie kommt aus der Oberschicht; Sam aus der unteren Mittelschicht. Sie leben in verschiedenen Stadtteilen und besuchen unterschiedliche Schularten. Einer der wenigen Orte, an denen sich diese beiden begegnen könnten, ist ein Krankenhaus. Das Gesundheitswesen, obwohl es immer noch die Reichen in den USA begünstigt, vermag es, Unterschiede auszugleichen.

Was heißt das in Bezug auf ihre spontane Verbindung?
Ich denke, Sam und Sadie erleben ein Gefühl von tiefer Sympathie und auch von Sicherheit: Ich kann dir seltsame Dinge sagen, und du wirst sie akzeptieren und auf sie bauen. Ich wollte die Magie der Begegnung mit einer neuen Person einfangen, mit der man für immer und zu einer Vielzahl verschiedener Themen sprechen möchte.

Und was verkörpert für Sie Marx Watanabe, Sams Zimmergenosse und bester Freund in Harvard, der – wie einst Sie selbst – Englisch studiert? Was macht ihn für Sie interessant?
Zuerst studiert Marx Englisch (weil er so am besten ans Theater in Harvard kommen kann), aber dann wird er Wirtschaftswissenschaftler. – Mein Name steht zwar auf der Titelseite des Romans, aber es gibt viele Leute, die zu einem Buch beitragen, deren Namen nicht auf dem Cover stehen. Marx war eine Hommage an alle meine geschätzten Mitarbeiter: Redakteure, Agenten, Buchhändler, Publizisten, Designer usw.

Sadie, Sam und Marx kommen aus grundverschiedenen Familien, finanziellen Verhältnissen und Kulturen etc. Welche Bedeutung messen Sie der Herkunft generell bei und wie wirken sich die Unterschiede bei Ihrem Trio im Roman aus?
Ich denke, Herkunft beeinflusst alles, aber meine Antwort wird besonders auf die finanziellen Umstände eingehen. Marx und Sadie sind wohlhabend. Sam nicht. So viele von Sams Entscheidungen (z. B. wenn sie ,Ichigo‘ verkaufen) werden von der Tatsache getrieben, dass er gesundheitliche Probleme und kein finanzielles Sicherheitsnetz hat. Ich wollte darüber schreiben, wie die finanziellen Umstände die Art von Kunst bestimmen, die man macht und ob man überhaupt Kunst machen kann.

„Perioden scheinbaren Ruhezustands können lebenswichtig sein.“

Das Studium in Harvard haben Sie gemeinsam mit Ihren Hauptfiguren. Welche Lektionen haben Sie für das Leben gelernt?
Während meiner Harvard-Jahre habe ich viel gelesen, aber sehr wenig geschrieben. Ich habe gelernt, dass nicht jede Lebensphase produktiv sein muss. Bei einer ansonsten ehrgeizigen Person können Perioden scheinbaren Ruhezustands lebenswichtig sein.

Warum musste es für Sadie einfach das legendäre MIT sein, also das Massachusetts Institute of Technology? Was ist für Sie das Einzigartige an dieser Institution?
Historisch gesehen war es einer der wenigen Orte mit einem elitären Spieldesign-Programm in den 1990er Jahren.

Was macht es Mitte der 1990er Jahre zur besonderen Herausforderung für Sadie, sich am MIT zu behaupten? Was hat Sie an der Situation und den Strategien von Frauen und speziell von Sadie und ihrer Kommilitonin Hannah besonders interessiert?
Frauen waren am MIT in der Unterzahl, und es gab, wie Sadie erwähnt, den Glauben, dass es zu dieser Zeit für Frauen leichter war, in das MIT einzusteigen, als für Männer. Ich denke, Frauen haben sich in den 1990er Jahren nicht so sehr als gegenseitige Verbündete gesehen, und die Beziehung zwischen Sadie und Hannah spiegelt das wider. Spät im Buch gibt es einen kurzen Hinweis darauf, dass Sadie und Hannah in ihren Dreißigern eng zusammenarbeiteten.

Beim Lesen hat man das Gefühl, dabei zu sein am MIT im „Fortgeschrittenenseminar für Spieleentwickler“. Wie haben Sie so genaue Einblicke gewonnen und was war Ihnen am wichtigsten für Ihren Roman?
Recherche: Ich habe mir alte MIT-Kurskataloge angeschaut, Lehrpläne gelesen usw. – und mir dann viele Freiheiten genommen. Eine Sache, die man nicht vergessen darf: Auch Klassenzimmer haben einen gewissen Charakter. Und der des Seminars wird zum großen Teil durch Dovs Charakter bestimmt.

Für die Laufbahnen von Sadie und Sam mussten Sie als Autorin Spiele erfinden und entwickeln. Was war dabei Ihr Anspruch? Was hat Ihnen dabei das größte Kopfzerbrechen bereitet und was das größte Vergnügen?
Ich wollte zeigen, wie das Leben eines Künstlers in seine Arbeit einfließt. Das Schwierigste war, den Pionier-Teil des Buches richtig hinzukriegen – es ist sowohl „Spiel“ als auch „nicht Spiel“. Es soll sich lesen, als sei es ein altmodischer Roman über die „American Frontier“, aber gleichzeitig ist es ein Videospiel, das im 21. Jahrhundert gespielt wird. Mein größtes Vergnügen? Ich liebte es, mir alle Spiele vorzustellen. ,Both Sides‘, ,Master of the Revels‘, ,Our Infinite Days‘. Aber ich habe nicht die Last eines echten Videospiel-Designers. Für mich ist es viel Spaß und wenig Arbeit.

„Der Titel stammt von einer der düstersten Reden Shakespeares …“

Der Titel „Morgen, morgen und wieder morgen“ ist eine Anspielung auf Shakespeare. Welchen Status hat er für Sie und was macht ihn bedeutsam für Ihren Roman?
Der Titel stammt von einer der düstersten Reden, die Shakespeare je geschrieben hat. Die Figur jedoch, die ihn in meinem Roman anführt, findet darin große Hoffnung: Die Idee, dass jeder Tag, an dem wir leben, eine Chance ist, neu zu beginnen. Er ist auch eine Metapher für Videospiele, mit ihren unendlichen Neustarts und Chancen auf Erlösung. Ich wollte einen Titel, der die poetische Größe von Videospielen suggeriert.

Welche Computerspiel-Möglichkeiten und Prinzipien faszinieren Sie am meisten? Und welche sind Ihnen am wichtigsten in ihrem Roman und als Lebensphilosophie?
Ich nenne Ihnen drei: 1) Es gibt das Potenzial, Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft in virtuellen Räumen anzusprechen. 2) Unser virtuelles Leben kann auf einer gewissen Ebene als reales Leben verstanden werden, und so müssen wir uns ethisch verhalten, wenn wir online sind oder Avatare als gegeben annehmen. 3) Spielen ist eine zutiefst menschliche Handlung; Spielen hat das Potenzial, Menschen zu verbinden. In Bezug auf das Buch würde ich sagen, das dritte Prinzip ist wahrscheinlich das wichtigste.

Ihr Roman umreißt ein grandioses Universum der Vielfalt, z.B. an Kulturen, gesellschaftlichen Milieus und Lebensentwürfen. Was ist Ihnen bei diesem Spektrum wichtig? Ist es für Sie ein Experiment, Welten zusammenzubringen und über Grenzen zu springen?
Ich schreibe die Welt, wie ich sie kenne und wie ich in ihr lebe. Ich denke, es gibt zwei Arten von AutorInnen: AutorInnen, deren Bücher außerhalb der realen Welt existieren, und AutorInnen, die sich dafür entscheiden, sich mit der Welt zu beschäftigen. Ich verstehe, warum die Leute die erste Art von SchriftstellerInnen genießen, aber ich wusste immer, dass ich die zweite Art sein würde.

„Sie sind sowohl brillant als auch kreativ.“

Was macht Sadie und Sam zum Dreamteam? Und was macht die beiden zum Katastrophenpaar?
Ein gemeinsamer Bezugs- und Geschmacksrahmen, und dass sie sowohl brillant als auch kreativ sind. Ich denke nicht, dass Konflikte von Natur aus eine schlechte Sache in einer kreativen Partnerschaft sind. Das Einzige, was „katastrophal“ an ihnen ist, ist, dass die Welt sie unfair behandelt und sie zumindest in einem Großteil des Buches noch sehr jung sind.

Worin besteht die größte Zerreißprobe zwischen Sadie und Sam?
Ich glaube, sie werden ständig getestet. Aber zu verraten, was ihr größter Stresstest ist, würde den Spoiler-Alarm auslösen.

Auf die Frage nach seinem Antrieb als Spielentwickler antwortet Sam, dass er Menschen glücklich machen möchte. Wie würde Ihre Antwort als Autorin lauten?
Sam sagt das, aber ist es völlig wahr? Der Wahrheit entspricht, dass er alles daran setzt, Menschen glücklich zu machen und erfolgreich zu sein.

Was sind Ihre Hauptmotive und Beweggründe beim Schreiben?
Ich schreibe, um die Welt zu verstehen. Je älter ich werde, desto weniger denke ich über das Publikum nach. Früher glaubte ich an den Roman als Vehikel für sozialen Wandel, aber ich sehe das nicht mehr so. Es ist weniger Zynismus als vielmehr die Einsicht bezüglich der Grenzen des Romans. Vielleicht kann ich einem Leser eine Person zeigen, die völlig anders als er ist, und vielleicht wird er am Ende ein wenig empathischer sein?

„Variationen über ein Thema.“

Für die Verfilmung von „Morgen, morgen und wieder morgen“ schreiben Sie das Drehbuch. Was sind die wesentlichen Unterschiede zum Romanschreiben und was macht es für Sie spannend als kreativer Prozess?
Der Hauptunterschied ist, wie weit man sich in eine Figur des Romans hineinversetzen kann. Es ist, als wäre man ein Komponist, der Variationen über ein Thema schreibt.

„Morgen, morgen und wieder morgen“ ist in den USA zum „Buch des Jahres“ gekürt worden und hat Ihnen wahre Lobeshymnen eingebracht. Welches Kompliment hat Sie am meisten gefreut und warum?
Das Kompliment, das mich am meisten freute, war wahrscheinlich, was Neil Druckmann (der Autor/Regisseur von ,The Last of Us‘), über das Buch postete, weil er im Grunde seines Wesens Sam und Sadie ist. Ich bin ein großer Fan seiner Arbeit, aber darüber hinaus fühlte ich mich, als hätte ich seine Welt richtig getroffen.

Ihren Roman widmen Sie H.C.: Kein Geheimnis, dass die Initialen für Hans Canossa stehen. Was verbindet Sie mit ihm und wodurch verdient er diese Widmung? Ist er eine Art Sam für Sie?
Wir machen seit 25 Jahren zusammen Filme und Theater, und er ist mein engster Mitarbeiter und erster Leser. Und ja, vieles, was ich über die Höhen und Tiefen der Zusammenarbeit weiß, kommt aus unserer Beziehung. Es versteht sich aber von selbst, dass Sam vor allem eine Romanfigur ist.