KEIN ZWEIFEL, Japans bekanntester Schriftsteller hat es durch seine geniale Erzählkunst zum Weltstar gebracht. In östlichen und westlichen Kulturen gleichermaßen zu Hause, erschafft Haruki Murakami Romanhelden, die überall ver­standen werden. Ganz allein sein eigenes Verdienst ist das jedoch nicht. Murakami, der Werke von Fitzgerald, Capote und Salinger ins Japanische übertragen hat, weiß um die große Bedeutung von Übersetzungen – und um die Heraus­­forderung, den richtigen Ton zu treffen. Ein absoluter Glücks­fall ist seine deutsche Stimme: Ursula Gräfe übersetzt seit 2001 Murakamis Bücher.

Seit wann übersetzen Sie aus dem Japanischen? Wie kamen Sie dazu?
Als Kenzaburo Oe 1994 den Literaturnobelpreis erhielt, suchte der Insel Verlag – für den ich zuvor schon aus dem Englischen übersetzt hatte – dringend eine Übersetzerin für die zweite Hälfte des Romans „Stille Tage“.

Was war das erste Werk, das Sie aus dem Japanischen übersetzt haben?
Die Erzählung „Im Bad“ von Yuko Tsushima für den Band „Zeit der Zikaden“, den mein früherer Professor Ekkehard May herausgegeben hat.

Was lieben Sie am meisten an Ihrer Arbeit als Übersetzerin?
Mich intensiv mit Belletristik zu beschäftigen und vielleicht ein bisschen zur Verschönerung der Welt durch sprachliche Maßnahmen beizutragen.

Das Goethe-Institut bezeichnet Übersetzen als „Kulturaustausch“. Wie lautet Ihr Anspruch?
Deutschen Lesern Autoren aus fernen Kulturen wie Japan oder Indien so nahe zu bringen, dass sie gefesselt sind. Noch besser, wenn sie genügend Interesse und Sympathie entwickeln, um weitere ähnliche Werke zu lesen.

Was fasziniert Sie an Murakami?
Seine Fähigkeit zu fabulieren und sich Mythen anzuverwandeln sowie die Erkenntnis, dass alles auf der Welt Perspektive ist.

Wie ergründen Sie das Wesen eines Autors, den Sie übersetzen?
Ich finde es hilfreich, das Gesamtwerk des Autors, seine Vorbilder und Einflüsse zu kennen. Zu viel Einblick in seine Biografie dagegen schränkt ein und weckt Vorurteile, die vielleicht hinderlich sind. Die Beschäftigung mit inhaltlichen Themen – wie in seinem neuen Roman „Die Ermordung des Commendatore“ u.a. Malerei und Oper – ist ein zusätzlicher Genuss.

Murakami bezeichnet sich als „langsamen Denker“, der sich gern Muße gönnt, um sich die Welt zu erklären. Und Sie?
Ein Übersetzer kann sich niemals in dem Maß der Inspiration überlassen wie ein Autor. Meine Aufgabe ist es, einen schon erdachten Text und seinen Tonfall in meine Muttersprache zu bringen. Aber diese Umwandlung findet bei mir, glaube ich, vorwiegend intuitiv statt. Konkret: Die Rohübersetzung mache ich spontan und wie der Wind. So komme ich in Fluss. Für den Feinschliff – Korrektheit plus klingende und schöne Sprache – brauche ich dann ewig. 

Wie lange arbeiten Sie an der Übersetzung eines Werks wie Murakamis „Commendatore“?
Das lässt sich nur sehr vage in Stunden ausdrücken: vielleicht 12.000?

Welche Bedeutung hatte es für Sie, Murakami persönlich zu treffen?
Eine ideelle Bedeutung. Die Begegnungen fanden bei sehr feierlichen Anlässen statt, die für mich an sich schon ein wenig irreal wirkten. „Murakami Moments“ eben. Als fast märchenhaft habe ich die Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises im dänischen Odense in Erinnerung. Kronprinzessin Mary – im schmalen dunkelblauen Rock mit cremefarbener Bluse gekleidet wie ein Murakami-Mädchen – überreichte den Preis. „Die Chinesische Nachtigall“ wurde vorgetragen und nach einem Diner im Wasserschloss Egeskov wurde Kaffee im Salon gereicht, während der Schlossherr Schellack-Platten auf einem alten Grammophon auflegte. Besonders eingeprägt hat sich mir dabei die selbstverständliche Nähe und Vertrautheit zwischen Haruki Murakami und seiner Frau Yoko.

Nicht selten wird Murakamis Stil als magischer Realismus bezeichnet. Ist diese Zuordnung richtig?
Sie ist nicht falsch. Aber sie führt insofern in die Irre, dass sie die Einbettung des Wunderbaren in den Alltag, die ein ständiger und integraler Bestandteil in Murakamis Werk ist, nicht als japanische Eigenart des Autors würdigt. Obwohl die japanische Literatur diese magische Wirklichkeitsauffassung schon seit Anbeginn ihrer Tradition kennt.

Und was ist für Sie das Charakteristische an Murakamis Stil?
Er schreibt tiefgründig und populär zugleich und erzeugt – vielleicht dadurch? – eine starke Nähe zu seinen Lesern.

Halten Sie Murakamis Stil für typisch japanisch?
Ja und nein. Vor allem ist er ein japanischer Schriftsteller, der in Japan lebt und auf Japanisch schreibt. Also ja. Dennoch entzieht er sich durch seinen besonderen „unprätenziösen“ Stil der in Japan üblichen, ja sogar geforderten Zuordnung zu entweder Hoch- oder Unterhaltungsliteratur. In dieser Hinsicht also nein.

Murakamis Werke werden in Europa und den USA, aber auch in Asien und in der arabischen Welt mit Begeisterung gelesen. Was macht ihn universell so ansprechend und faszinierend?
Offenbar gelingt ihm eine außergewöhnliche Synthese: Die Frische für asiatische und arabische Leser besteht wohl vor allem im unkonventionellen Lebensstil seiner aus allen stabilen Beziehungen gefallenen Helden und ihrer Unabhängigkeit. Für westliche Leser besitzt der fließende Übergang zwischen verschiedenen Welten und Anderwelten, der unbefangene Umgang mit dem Irrealen und einem Leben, das ständig am Rande des Verlusts stattfindet, offenbar große Anziehungskraft.

Murakami war einst Besitzer eines Jazzklubs und er liebt Musik. Wie beeinflusst das sein Schreiben?
Sämtliche Werke Murakamis haben mindestens ein musikalisches Leitmotiv – hier lässt sich keine Grenze zwischen U- und E-Musik ziehen: Die Beatles und Nat King Cole sind ebenso vertreten wie Beethoven, Schubert und Liszt. Für mich als Übersetzerin ist diese musikalische Untermalung eine fantastische Hilfe. Denn bekanntlich ist Musik eine universelle Sprache. Sie schafft eine unterschwellige Atmosphäre, die kollektiv verstanden wird.

„ein moderner, etwas schüchtener Großstadtmensch …“

Ist der Maler im neuen Roman ein typischer Murakami-Held?
Eigentlich ja, er ist ein moderner, etwas schüchterner Großstadtmensch, der im Laufe der Geschichte zum Drachentöter heranwächst und gegen ein übermächtiges Unheimliches kämpft, um ein junges Mädchen zu retten. Mir scheint allerdings, er ist ein wenig selbstbewusster geworden und zeigt größere Erlösungsenergie.

Und der Mann, den der Maler porträtieren soll?
Er ist die Figur jenseits von Gut und Böse.

Worüber haben Sie bei der Übersetzung des neuen Romans am meisten gestaunt?
Über die Tradition der Lebenden Buddhas – also der Selbstmumifizierung von Asketen – in Japan, besonders in der Präfektur Yamagata. Davon wusste ich nichts.

Was war Ihr größtes Vergnügen?
Wie immer Haruki Murakamis aufregendes Spiel mit Inhalten aus verschiedenen Bereichen wie Religion, Mythologie und Oper, die er mit einer in der modernen Gegenwart angesiedelten, spannenden Geschichte verwebt.