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IM MÄRZ 2019 kündigte Sahra Wagenknecht für viele völlig überraschend ihren sofortigen Rückzug aus der Politik an. Am 16. Juli feierte sie ihren 50. Geburtstag. Zum berühmten Proust-Fragebogenaspekt „Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?“ antwortete sie: „Endlich wieder bei mir.“ Christian Schneider hat sich auf Spurensuche begeben. In intensiven Gesprächen mit ihr gewann er vielschichtige Einblicke in ihre Persönlichkeit und ihr Leben.
Von Haus aus Sozialpsychologe, sind Sie seit 2001 als psychoanalytischer Coach für Führungskräfte im Einsatz. Wie beeinflusst Ihre Praxiserfahrung Sie als Autor? Oder umgekehrt: Wie beeinflussen die vielfältigen Lebensgeschichten Ihre Tätigkeit als Coach?
Ich arbeite mit dem je individuellen Potenzial meiner Klienten. Unser größtes Potenzial ist in dem enthalten, was wir abwehren, ausgrenzen, verleugnen, z. B. unsere Ängste. Wenn man sie näher kennenlernt, sind im Umgang mit ihnen wahre Schätze an Verhaltensmöglichkeiten zu heben. Aber das braucht Mut, wechselseitiges Vertrauen und Erfahrung. Coach und Autor vermag ich nicht wirklich zu trennen. Was ich als Coach erlebe, geht in mein Schreiben ein. Und die theoretische Verarbeitung der Erfahrung gibt neue Impulse für die Praxis.
Sie bringen viel Erfahrung mit, was Porträts von Politikerinnen und Politikern anbelangt. Wie kam es zu diesem Schwerpunkt?
Vor einigen Jahren habe ich zusammen mit dem Chefreporter der taz, Peter Unfried, die Idee eines „Politikerchecks“ entwickelt. Dabei geht es nicht darum, wie bei Politikerporträts üblich, nach den politischen Plänen und Vorstellungen zu fragen, sondern, warum Menschen überhaupt Politik machen: What makes them tick? Was sind die Antriebe, die Wünsche, aber eben auch die Ängste und Nöte, die in das jeweilige politische Handeln eingehen? Wenn man dem konsequent nachgeht, ergeben sich oft überraschend neue Bilder der Einzelnen – nicht immer identisch mit den öffentlich gepflegten. Oder den „politischen Botschaften“.
„Es gab schnell eine spontane Vertrauensbasis“
Sahra Wagenknecht umweht die „Aura der Unnahbarkeit“. Wie haben Sie das Eis gebrochen?
Ich habe Sahra Wagenknecht bei einem solchen taz-Interview kennengelernt. Auch wenn es komisch klingt: Nach meinem Eindruck gab es schnell eine spontane Vertrauensbasis. Dabei mag eine gewisse Rolle gespielt haben, dass wir einen ähnlichen intellektuellen Hintergrund haben. Aber ich glaube, entscheidend war, dass sie gemerkt hat, dass ich mich nicht mit journalistischen Klischees aufhalte – und sich dann in meinem Porträt hat wiedererkennen können. Obwohl es alles andere als eine Lobhudelei war. Daraus ergab sich alles Weitere.
In der Biografie präsentieren Sie auch private Fotos. Was ist für Sie das Aussagekräftige an der Auswahl?
Fotos haben eine eigene Sprache. Sie zeigen manchmal Stimmungen und Charakterzüge besser, als es Worte können. Bei der Auswahl war wichtig, Bilder aus verschiedenen Lebensaltern und -situationen zu präsentieren. Und es war sehr schön, dass dabei nicht nur die Porträtierte, sondern auch ihre Mutter und eine Kindheitsfreundin beteiligt waren. Das brachte verschiedene Perspektiven ins Spiel.
Sahra Wagenknecht – ihr Faszinosum?
Sahra Wagenknecht ist eine der wenigen Politikerinnen, die ihr Handeln auf eine umfang- und kenntnisreiche theoretische Gegenwartsanalyse gründen. Manch einer mag es für veraltet halten, aber ich bin der Meinung, dass eine umfassende Bildung, theoretische und historische Kenntnisse ein wesentliches Qualitätsmerkmal für Politiker sind. Was mich an ihr fasziniert? Dass sie nicht aufhört zu lernen. Wenn man sich den Weg anschaut, den sie in den letzten 30 Jahren zurückgelegt hat, wow! Aber bei allen Veränderungen: Sie hält ihren Grundüberzeugungen die Treue. Es geht ihr wirklich um mehr Gerechtigkeit, um Fairness, Chancengleichheit und die Möglichkeit, in diesem reichen Deutschland ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Ihr größtes Potenzial ist wohl, dass die Menschen ihr darin Glauben schenken.
„Sahra Wagenknecht hat einen guten Sinn für Humor.“
Man hat ein bisschen den Eindruck einer Sphinx, deren Rätselhaftigkeit unterschiedlichsten Projektionen Vorschub leistet: „Heilige“ oder „Stalins Cheerleader“? Mit welchem Bild haben Sie sich an Ihre Recherchen gemacht und wie bzw. wodurch hat es sich gewandelt?
Der Eindruck aus dem taz-Gespräch war: Das ist ein Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und einem schwierigen Charakter. Jemand der polarisiert, oft ohne es zu merken, weil ihm die Sache wichtiger ist als ein situatives Übereinkommen. Und jemand, der seine Privatheit mit allen Mitteln schützt. Bei unseren Gesprächen für die Biografie habe ich ganz andere Seiten entdeckt. Z. B., dass die so sehr im medialen Fokus stehende, weltgewandte Frau – schüchtern ist. Ja, Sie haben richtig gehört. Und dass die vermeintlich todernste, prinzipialistische Linke einen guten Sinn für Humor hat.
Sahra Wagenknecht ist begehrt als Interviewpartnerin, und es werden nicht gerade wenige Porträts über sie gedreht und geschrieben. Warum haben Sie sich dennoch der Herausforderung gestellt, ein Buch über sie zu schreiben?
Tatsächlich habe ich lange geschwankt, ob ich es tun sollte, als der Campus Verlag mit der Idee auf mich zukam. Positiv war, dass sich Sahra Wagenknecht trotz des durchaus kritischen Zeitungsporträts vorstellen konnte, mit mir zusammenzuarbeiten. Und das Gespräch, das wir führten, um zu sehen, ob wir miteinander zurechtkommen, verlief gut. Aber um ehrlich zu sein: Ich wollte sehen, ob es mir gelingt, über sie mehr herauszukriegen, als das bei solchen Projekten üblicherweise der Fall ist, und ich denke, es ist mir geglückt.
Am Anfang räumen Sie ein, dass Sie beim ersten Hausbesuch der Schrecken packte – angesichts Ihres eigenen Vorhabens. Mit welcher Leitline haben Sie sich ans große Werk gemacht?
Ja, mir wurde deutlich, dass es eigentlich ein Unding ist, die Biografie einer kaum 50jährigen zu schreiben. Und mir war klar, dass es von meiner Seite Sichtweisen und Einschätzungen ihrer Person geben wird, die bei ihr alles andere als Begeisterung auslösen werden. Ein wichtiger Schritt, das Projekt doch zu wagen war, mein Porträt als eine „Biografie der Möglichkeiten“ anzulegen, d.h. ihr bisheriges, durchaus umwegiges und wechselvolles Leben daraufhin zu befragen, wie es weitergehen wird.
Wie in einem großen Kameraschwenk fangen Sie Atmosphäre ein – mit Stimmungen von der Homestory bis zur Polit-Doku. Was macht Ihnen dieses Live-dabei-Gefühl so wichtig?
Ach wissen Sie, wenn man sich lange mit Psychologie, mit Menschen beschäftigt, wird einem deutlich, dass das, was wir Leben nennen, bis zu einem gewissen Grade das Wechselspiel von Stimmungen, Ängsten, Hoffnungen und Projektionen ist. Unsere Vorstellungen von „Identität“ – ein Lieblingswort im aktuellen Diskurs – sind durch die Bank viel zu rationalistisch und idealistisch. „Atmosphären“ sagen oft mehr über ein Leben als mediengerecht gedrechselte Selbstauskünfte.
Ihnen scheint kein Detail zu entgehen. Wenn Sie beispielsweise die kleine Kostgänger-Katze im Wagenknecht-Garten erwähnen, ist das kein Zufall, sondern Methode, oder? Wie würden Sie die beschreiben?
Naja, erstmal schleicht diese kleine Katze halt schüchtern und auf der Suche nach Futter herum – und dann empfinde ich es als durchaus nicht unwesentlich, wenn Sahra Wagenknecht sich um sie kümmert und das ebenso schüchtern kommentiert. Ich weiß gar nicht, ob ihr das recht ist, so ein Lebensdetail zu veröffentlichen. Aber ich finde, es sagt etwas über sie.
Gerade recht gekommen sein dürfte Ihnen der Miniatur-Marx aus der anspielungsreichen Ideenschmiede von Ottmar Hörl. Was symbolisiert für Sie die rote Figur in Sahra Wagenknechts Gartenzimmer?
Für Sahra Wagenknecht ist Karl Marx eine der bestimmenden Gestalten ihres Lebens. Seine Theorie ist nach wie vor die Folie ihrer Gesellschaftsanalyse – auch wenn sie sich der Notwendigkeit, seinen Ansatz zu aktualisieren, höchst bewusst ist. Dass sie diese Skulptur neben das Regal mit ihren Büchern stellt, ist, so sehe ich es, eine hübsche Ironie: Hallo Karl, schön, dass Du auf meine Werke aufpasst!
„Die Lektüre des ,Faust‘ war ein Urerlebnis.“
Sahra Wagenknecht nennt in einem Atemzug Marx und Goethe. Wie erklärt sich das für Sie?
Goethe war für Sahra Wagenknecht, die als Kind und Jugendliche lange Zeit mehr in den Büchern als in der Welt gelebt hat, die Entdeckung eines eigenen Kontinents. Die Lektüre des „Faust“ war ein Urerlebnis. Warum, versuche ich im Buch darzustellen. Und es ist eine Tatsache, dass Faust Zwei in erstaunlicher Weitsicht die problematischen Seiten des damals noch jungen Kapitalismus aufs Korn nimmt. Von hier aus gibt es einen direkten Übergang vom literarischen zum theoretischen Meister ihres Lebens.
Überhaupt scheint man an Goethe nicht vorbeizukommen, wenn man Sahra Wagenknecht verstehen will. Was macht Goethe und seinen von Ihnen ins Spiel gebrachten „Knoten“ so bedeutsam?
Es ist nicht schwer, sich in Goethe als Schriftsteller und Sprachkünstler zu verlieben. Aber Sie sprachen vorhin von „Stimmungen“ und „Atmosphären“. Ich meine, darum geht es auch bei Sahra Wagenknechts Beziehung zu Goethe. Zumindest ist die initiale Szene ihrer Goetheliebe davon geprägt: Die Mondscheinszene in Faust 1. Da gibt es, um es selber goethisch auszudrücken, eine Wahlverwandtschaft zwischen der halbwüchsigen Leserin und dem großen Geist. Klar stecken darin auch die Größenphantasien einer Adoleszenten. Aber letztlich ist es wohl die Wahl eines Mentors, eines geistigen Vaters, wenn man so will, die diese lebenslange Beziehung gestiftet hat und aktuell hält. Und: Goethes Reflexionen, was ein Leben ausmacht, passen erstaunlich genau auf den Anspruch, den Sahra Wagenknecht an sich selber stellt.
Welche Leitsterne Sahra Wagenknechts haben Sie sonst noch geortet?
In der Philosophie ganz klar Hegel und Marx. Ein wichtiges und witziges Kapitel in ihrer intellektuellen Biografie ist ihre Magisterarbeit, in der sie die geschichtsphilosophischen Positionen der beiden konfrontiert. Mit einer erstaunlichen Pointe. In ihrem Leben hat der Dramatiker Peter Hacks eine wichtige Rolle gespielt, nicht zuletzt für ihre politischen Ansichten. Und dann, naja klar: Oskar Lafontaine.
Welche ihrer Facetten und Fähigkeiten sollte man Ihrer Überzeugung nach auf keinen Fall unterschätzen?
Ihren Trotz und ihre Hartnäckigkeit.
Sie schätzen Sahra Wagenknecht besonders als brillante Theoretikerin. Wie erklären Sie sich ihren Sprung in die Praxis – beziehungsweise ins Haifischbecken der Politik?
Sie hat die 11. Feuerbachthese von Marx ernst und wörtlich genommen: „Die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Es ist eine ethische Entscheidung, den Sprung von der Theorie zur Praxis zu wagen.
Die Vision der Sahra Wagenknecht als Berufspolitikerin, Denkerin und Autorin?
Die Forderungen der französischen Revolution durchzusetzen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – was man heute natürlich genderübergreifend formuliert. Oder um es mit zweien ihrer Buchtitel zu sagen: Freiheit statt Kapitalismus. Und: Reichtum ohne Gier.
Was macht Sahra Wagenknecht trotz ihres aktuellen Rückzugs für unsere Zeit wichtig?
Ich glaube, dass sie eine Brückenfunktion hat. Sie bezieht wesentliche Einsichten aus der klassischen Philosophie – eben vor allem aus Hegel und Marx – die in ihrem Denken, ihren Einsichten alles andere als veraltet sind, und verknüpft sie mit Zukunftsperspektiven. Die nicht utopisch, sondern realitätsgerecht sind. Ihre Gegenwartsanalyse geht weit über die kurzatmigen Politikvorstellungen hinaus, die heute en vogue sind. Zu dem, was ich von ihr erwarte, gehört unbedingt das Buch „Marx heute“, d.h. eine Analyse dessen, was lebendig und was tot in seinem Denken ist.
Welchen der verbreiteten Irrtümer über Sahra Wagenknecht möchten Sie hauptsächlich korrigieren?
Dass sie „die Frau mit den kalten Augen“ ist. So sagte es einst Lothar Bisky.
Zurück zum Anfang: Wie wäre Ihre wichtigste Botschaft als psychoanalytischer Führungscoach an Sahra Wagenknecht?
Segui il tuo corso e lascia dir le genti. (Dante) („Geh deinen Weg, und lass die Leute reden.“)
Angenommen, Sie wären auf der Suche nach der Alternative zu Pralinen und Darjeeling. Welches Gastgeschenk würde Ihnen für Sahra Wagenknecht einfallen?
Ein von mir produzierter Riesling und Gedichte von Ernst Jandl oder Urs Allemann.