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Was bleibt ungesagt? Was musste aus der Erinnerung verbannt werden, um weiterleben zu können? Wie sehr die verlorene Heimat und die Vertreibung in ihrer Familie präsent sind, hat Christiane Hoffmann (geb. 1967) von Kindheit an gespürt. Immer stärker wurde ihr bewusst, dass sie dem verschütteten Kapitel ihrer Familiengeschichte und den Nachwirkungen bis heute nachgehen musste – zu Fuß, vom schlesischen Geburtsort ihres Vaters entlang seiner Fluchtroute von 1945 Richtung Westen. Die persönlichste Recherche der profilierten Journalistin und stellvertretenden Regierungssprecherin, die zugleich das Schicksal von Millionen Menschen in der Mitte Europas berührt!
Ihr Buch hat eine Vorgeschichte, die weit zurückreicht. Wo verorten Sie persönlich den Anfang?
Die Vorgeschichte beginnt ganz früh in meiner Kindheit mit den Gesprächen am Küchentisch meiner Großmutter, in denen es so oft um Krieg, Flucht und die verlorene Heimat ging.
Flucht bedeutet: das Vertraute zurücklassen, den Matrosenanzug, das Seemannsbuch und die komplette Heimat. Wie haben Sie die Nachwirkungen in Ihrer Familie erlebt?
Die Flucht und der Verlust der Heimat waren so etwas wie das Urtrauma meiner Familiengeschichte. Weil es nicht bearbeitet wurde, wirkte es in der Familie weiter. Es hat sehr lange gedauert, bis ich verstanden habe.
Und wie deuten Sie für sich das Phänomen Heimat?
Meine Eltern waren beide Flüchtlingskinder. Heimat war also das, was wir nicht hatten, was wir verloren hatten. Das galt auch für mich, obwohl ich meine ganze Kindheit an demselben Ort verbracht habe, in Wedel bei Hamburg. Bis heute habe ich ein seltsames Gefühl, wenn ich sage: Ich komme aus Wedel. Mir scheint, das ist nur die halbe Wahrheit.
Sie waren auf dem Fluchtweg unterwegs, auf den es Ihren Vater 1945 verschlagen hat. Was war der aktuelle Auslöser für Ihre „Nachwanderung“?
Mein Vater ist im Winter 1945 als Neunjähriger mehr als 500 Kilometer nach Westen geflüchtet, den Großteil des Weges ist er zu Fuß gegangen. Diese Flucht hat alles verändert: sein Leben, das Leben seiner Familie, mein Leben. Die Flucht meiner Eltern ist ein Lebensthema für mich, ich habe mich damit immer wieder beschäftigt. Ich war mehrfach in Rosenthal, heute Rozyna, dem schlesischen Dorf, in dem mein Vater geboren wurde. Irgendwann habe ich verstanden, dass nicht nur der Ort, sondern auch der Weg wichtig ist, den er damals gegangen ist.
„Ich wollte das verdammte 20. Jahrhundert aus mir herauslaufen.“
Wie sehr alles unter die Haut geht, zeigt Ihr Stoßseufzer: „Ich wollte das verdammte 20. Jahrhundert aus mir herauslaufen.“ Welche persönlichen Gespenster und politischen oder geschichtlichen Phänomene meinen Sie damit?
Es geht um Krieg, Vertreibung, Schuld und Leid, alles Furchtbare, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts passiert ist. Es ging um die Ängste meiner Kindheit, von denen ich nicht wusste, woher sie kamen, weil meine Eltern nicht über das sprechen konnten, was sie erlebt hatten. Mein Vater hat 1945 seinen Bruder, seinen Onkel, seine Großmutter, den heimischen Hof, die vertraute Umgebung und für viele Jahre auch seinen Vater verloren.
Welche Fragen haben Sie am meisten umgetrieben?
Ich hatte gar keine klare Erwartung, ich wusste einfach, dass ich das jetzt machen möchte. Es ging darum, mein Familienschicksal zu bearbeiten, auch körperlich. Ich musste erleben, wie weit dieser Weg war, was es heißt, mitten im Winter hunderte von Kilometern zu Fuß zu laufen.
Mit welchen Gefühlen und Hoffnungen sind Sie aufgebrochen?
Ich bin einfach losgegangen. Am Anfang wusste ich gar nicht, wie weit ich kommen würde, ob ich den ganzen Weg gehen würde. Ich habe einfach geschaut, was auf mich zukommt, ich habe nichts geplant, keine Quartiere, nichts. Meine Großmutter und mein Vater konnten ja auch nichts planen.
Ihr geografischer Ausgangspunkt war der Geburtsort Ihres Vaters. Welche Bedeutung hat „Rosenthal“ für Sie?
In meiner Kindheit erschien mir das Dorf nicht als realer Ort, sondern wie ein Märchenort, das Dorf hinter den sieben Bergen. Es war unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang, und es hatte diesen malerischen Namen: Rosenthal.
Welchen Stellenwert haben für Sie die niederschlesischen Traditionen und der berühmte Mohnstreusel?
Durch das vertraute Essen konnten die Vertriebenen die verlorene Heimat sinnlich erleben. Aber der Mohnstreusel schmeckte dann eben doch nie ganz so, wie er daheim geschmeckt hatte.
„Mein Vater war ein heiterer Mensch …“
Reporterlegende Georg Stefan Troller hat sich bei seinen Porträts besonders für die persönliche Art der Lebensbewältigung oder Überlebensstrategie seines jeweiligen Gegenübers interessiert. Wie ist es bei Ihnen gewesen?
Mein Vater war ein heiterer Mensch, das Schreckliche, was er in seiner Kindheit erlebt hatte, war sehr tief verborgen. Er hat alles dafür getan, in Wedel anzukommen und dazuzugehören. Und er wollte für seine eigene Familie eine heile, behütete Welt schaffen. Das war seine Art zu überleben.
Ihr Buchtitel legt die Fährte ins komplexe Reich des Erinnerns und in die Grauzonen. Was wollten Sie über den Umgang mit der Vergangenheit herausfinden?
Es ist mir sehr wichtig, dass dieses Buch nicht nur in der Vergangenheit spielt. Ich wollte mit den Menschen sprechen, die jetzt in Rozyna und den Orten entlang der Fluchtroute leben, wollte wissen, wie sich die Geschichte in ihre Familien eingeschrieben hat, was und wie sie sich erinnern. Und was sie heute über Deutschland und Europa denken.
Wie haben Sie Ihre Gesprächspartner-Innen von AbiturientInnen bis zu SeniorInnen ausgewählt?
Oft waren es Zufallsbegegnungen. In Tschechien – ich kann kein Tschechisch – habe ich in den Dörfern nach Menschen gefragt, die deutsch oder englisch sprechen. Zudem habe ich gezielt nach alten Menschen gesucht, die sich noch an das Jahr 1945 erinnern konnten, die vielleicht etwas über die Flüchtlinge wissen konnten. In größeren Orten ging ich in die lokalen Museen und sprach auch mit Historikern.
Unterwegs haben Ihnen Menschen ihre Türen geöffnet und Sie mit Grillwürstchen, Wodka und Erdbeerkuchen bewirtet. Was war für Sie die Hauptsache bei diesen Begegnungen und was hat Sie am meisten berührt?
Die Selbstverständlichkeit, mit der ich aufgenommen wurde, niemand war misstrauisch, man hielt mich vielleicht für ein bisschen verrückt, aber im Grunde hat es allen eingeleuchtet, warum ich diesen Weg gehe. Zu Fuß? Allein? Wurde ich immer gefragt. Am meisten berührt hat mich ein Ehepaar am Endpunkt meiner Wanderung. Es ließ mich einfach bei sich übernachten, und zum Abschied schenkte der Mann mir noch eine wunderschöne Taschenuhr – als hätte ich ihm etwas gegeben mit meiner Suche. Ich hatte oft den Eindruck, dass meine Suche die Menschen berührt.
„Jede Familie ist von den Brüchen geprägt.“
„Es wimmelt auf dieser Wanderung von Hobby-Historikern“, haben Sie notiert. Wie erklären Sie sich dieses ausgeprägte Interesse an Geschichte?
Ich ging durch Landstriche, in denen jede, wirklich jede Familie von den Brüchen des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Kein Wunder, dass sich da so viele für Geschichte interessieren.
Eine wichtige Zeitzeugin für Ihr Buch ist Ihre eigene Mutter. Wie hat sich die persönliche Verbundenheit bei den Gesprächen ausgewirkt?
Das Buch verbindet uns. Aber für meine Mutter war es schwer, weil ich auch vom Tod meines Vaters erzähle.
Was haben Sie am aufwühlendsten empfunden?
Den Moment, als ich in einem tschechischen Dorf eine alte Frau traf, die sich tatsächlich an die Flüchtlinge erinnerte, der einzige Mensch auf mehr als 500 Kilometern. „Hier standen die Wagen“, sagte sie, „hier hat Dein Vater damals übernachtet.“
„Geschichte ist immer Familiengeschichte.“
Woran hat sich für Sie am deutlichsten gezeigt, wie tief die Fluchterfahrung in Ihren Eltern steckt?
Das kann man nicht in wenigen Worten sagen. Aber sie drückte sich auch in körperlichen Leiden aus: den Schmerzen meiner Mutter, der Herzkrankheit meines Vaters. Meine Großmutter nahm sich das Leben.
Wie hat Ihr Buchprojekt Ihr Bild von Ihrem Vater beeinflusst? Inwiefern verstehen Sie ihn nun besser oder anders?
Das Buch ist ein Vater-Tochter-Buch, ich spreche meinen Vater direkt an in einem inneren Gespräch, setze mich mit ihm auseinander: Warum hast Du es mir überlassen, mich mit Deinem Schicksal zu beschäftigen? Er hat mich auf dem Weg begleitet.
Ihr Buch hat nicht nur einen Epilog, sondern zwei. Warum sind Ihnen beide wichtig?
Im ersten Epilog geht es um meine Töchter, um die Generation, für die das zwanzigste Jahrhundert nur noch Geschichte ist. Im zweiten geht es um das neue Dokumentationszentrum für Vertreibungen in Berlin. Es zeigt, dass Flucht ein Schicksal ist, das sehr viele Menschen erlitten haben und bis heute erleiden. Trotzdem war ich etwas enttäuscht. Die Ausstellung war mir nicht persönlich genug. Geschichte, das habe ich gelernt, ist immer Familiengeschichte.