Clemens J. Setz imponiert als unkonventioneller literarischer Alleskönner – vom Tweet-Gedicht bis zum Tausend-Seiten-Roman. Schon vielfach ausgezeichnet, erhielt er 2021 zur Krönung den Georg-Büchner-Preis: für seinen „Reichtum der poetischen und sprachschöpferischen Imagination“ und seine „radikale Zeitgenossenschaft, welche Buch um Buch die Schönheit und den Eigensinn großer Literatur beglaubigt“. Setz‘ neues Glanzstück: „Monde vor der Landung“ über einen historischen Exzentriker und seine alternativen Wahrheiten – brandaktuell!

Aufgewachsen sind Sie nicht etwa als Stadtbücherei-Pilger, sondern nach eigenem Bekunden als Nerd am Computer. Was hat Sie da so beschäftigt und wie hat Sie das geprägt?
Ich habe tatsächlich ausschließlich Computerspiele gespielt und im damals noch jungen, regellosen Internet mit Fremden diskutiert.

Wann und wie wurden Sie vom Computerspiel-Fan zum Leser und welcher Lesestoff hat Sie am meisten gefesselt?
Ich bekam Migräne vom Bildschirm, also suchte ich nach neuen Dingen, die mich unterhalten könnten. Nach einer Weile fand ich Reclam Bücher mit Gedichten von Ernst Jandl.

Durch welche Initialzündung ist Ihre Lust am Schreiben erwacht?
Am Anfang stand, wie so oft, die Parodie. Mit einem Schulfreund habe ich alberne Imitationen von klassischen Gedichten verfasst, und auch witzig gemeinte Nonsens-Texte.

Wie beurteilen Sie heute als vielfach ausgezeichneter Autor die Texte aus Ihrer Anfangszeit?
Ich finde, ich war damals auf jeden Fall witziger als heute.

Was führte dazu, dass Sie über Kunstsprachen sogar ein ganzes Buch, nämlich „Die Bienen und das Unsichtbare“, geschrieben und einen Sommer lang Volapük gelernt haben?
Mein Gehirn mag Sprachen. Es ist vielleicht nicht tiefer oder mysteriöser als die Frage, warum jemand Pokémon oder Wagner-Opern oder Radfahren liebt.

„Eine Explosion alternativer Wahrheiten.“

Bei der Büchner-Preis-Verleihung wurde Ihr „radikaler Gegenwartsbezug“ betont. Worin sehen Sie ihn in „Monde vor der Landung“?
Die Welt vor ziemlich genau 100 Jahren gleicht der heutigen auf verblüffende Weise. Eine Explosion alternativer Weltbilder. Eine Zeit unmittelbar vor einem verheerenden großen Krieg. Lauter Ähnlichkeiten.

Der Klappentext kündigt die „Veranschaulichung eines Querdenkertums“ an. Wie steht es da um Parallelen zu unserem Hier und Jetzt?
Dieses etwas hässliche, ungut aufgeladene Wort hätte man vielleicht vermeiden sollen, ich weiß nicht. Aber einige Parallelen sind dennoch eindeutig da, sowohl was die horizonterweiternden und heroischen wie auch die stur-egozentrischen und das unmittelbare Umfeld vital bedrohenden Aspekte des sogenannten „Querdenkertums“ angeht.

Schon lange beschäftigen Sie sich mit Verschwörungstheorien. Was fasziniert Sie daran und wie fließt das in Ihren neuen Roman ein?
Ein sehr weites Feld. Alternativgeschichten haben etwas unleugbar Poetisches, oft gelingt ihnen eine gewisse Rückverzauberung der bekannten Welt. Zugleich haben sie auch das Potenzial, bestimmte Leute zu gefährden und auszugrenzen.

Wie kamen Sie auf den Titel „Monde vor der Landung“?
Das bezieht sich auf ein Konzept jener historischen Figur, die im Zentrum der Handlung steht: Peter Bender. Er war davon überzeugt, dass die Monde und Planeten in Wirklichkeit mit Leben gefüllte Hohlkörper sind, die irgendwann auf die Erde stürzen und diese sozusagen neu begrünen.

Wer ist Peter Bender und was macht ihn für Sie romanreif?
Er sah die Welt als Pilot von oben, sah sogar die Krümmung der Erde, und kam dennoch zu der Einsicht, dass er sich im Inneren einer Kugel befinden müsste. Das allein schon finde ich inspirierend, das möchte ich gerne als Fiktion erleben und auskosten.

„Er wurde zwei Mal in die Psychiatrie gesteckt.“

Was treibt Peter Bender an oder um? Was sind seine Visionen oder Obsessionen?
Er war Gründer einer Art Glaubensgemeinde, er war ein zügelloser Erotomane, er war ein – im ganz orthodoxen Wortsinn – Proto-Feminist, darüber hinaus auch Romanautor sowie Lokalrevolutionär in Worms. Er wurde zwei Mal in die Psychiatrie gesteckt und einmal sogar mit Zwangssterilisation bedroht, und entkam diesem Schicksal durch die verzweifelte Intensität seiner Person, seiner Überzeugungskraft, er konnte Menschen augenblicklich zu Gefolgsleuten machen, und er überwarf sich am Ende mit beinahe allen. Er zog durch sein Zaudern in Bezug auf Auswanderung seine Frau, die Jüdin war, ins Verderben, und kämpfte zugleich wie ein Löwe um seine gefährdete Familie. A beautiful mind.

Wie traditionsreich und verbreitet waren solche Hohlwelt-Vorstellungen, und welchen Status hatte in dieser Szene Peter Bender, das historische Vorbild für Ihren Protagonisten?
Einige Vertreter der Hohlwelttheorie buhlten sehr um die Anerkennung durch die Nationalsozialisten, und Abteilungen wie das „Ahnenerbe“ der SS waren solchen Theorien durchaus aufgeschlossen, allerdings war die Hohlwelttheorie in gewisser Weise der historische Verlierer gegen eine andere, von der SS (und offenbar sogar von Hitler persönlich) explizit gepriesene Alternativtheorie zur Kosmologie: die Welt-Eis-Lehre. Ich finde historische Verlierer meist noch spannender als vorübergehende Gewinner.

Was war der erste Ideenfunke zu Ihrem aktuellen Roman?
Ich glaube, ein Halbsatz in einem Artikel über verschiedene ältere Romane, in denen eine hohle Erde beschrieben wird, z.B. Jules Verne. Da stand etwas wie „Peter Bender, a German pilot who believed that the earth was a concave sphere“, also Peter Bender, ein deutscher Pilot, der glaubte, dass die Erde eine konkave Sphäre ist.“ Das fiel mir immer wieder ein, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

„Er predigte einige Varianten der Polyamorie.“

Verhandelt werden in Ihrem Roman auch Formen des Zusammenlebens. Was ist für Sie das Spannende an den Idealen von Peter Bender?
Er predigte einige Varianten der – wie man heute sagen würde – Polyamorie. Sie funktionieren bekanntlich alle nicht, ebensowenig wie die herkömmliche Monogamie.

Sie haben eine besondere Erzählperspektive gewählt. Was wollten Sie bewirken oder ermöglichen?
Es ist eigentlich eine recht klassische Perspektive, die personale Sicht, die das Äußere und das Innere gleichermaßen zugänglich macht.

„Möglichst viel imaginiertes Leben, Fülle und Poesie.“

Viel Aufmerksamkeit widmen Sie der Kindheit und Jugend Benders, der 1893 in der Gegend von Worms das Licht der Welt erblickt. Was war Ihnen dabei wichtig?
Wenn ich klassische Biografien lese, empfinde ich die Hauptfigur dort oft wie einen Studiengegenstand in einer Vitrine. Mein Buch sollte absolut keine Biografie werden, deshalb enthält es möglichst viel imaginiertes Leben, Fülle und Poesie.

Haben Sie schon mal wie Ihr Romanheld morgens die Träume der letzten Nacht notiert?
Ja, aber das würde ich nicht empfehlen. Die Träume merken es, dass man sie hinterher notieren wird, und werden in der Folge allzu aufschreibbar, was sie wiederum als Träume unbrauchbar macht.

Sie selbst sind Synästhet. Wie erleben Sie diese besondere Form der Sinneswahrnehmungen im Alltag und wie beim Schreiben?
Eigentlich erlebe ich das beim Schreiben gar nicht besonders, es sei denn, ich konzentriere mich extra darauf. Was aber wiederum zur Folge hätte, dass ich den Faden der Erzählung verliere.

„Ein Mann in der Kugel, in der Blase.“

Peter bekommt als Kind von seiner Mutter viel vorgesungen und erzählt, Balladen und Märchen auch die Geschichte des „Heiligen Hieronymus im Gehäuse“. Was symbolisiert diese Geschichte für Sie?
Er hält die Geschichte, weil er nicht so genau hinhört, für eine Schilderung eines Menschen, der in einem Nuss-Gehäuse sitzt. Und das wird dann in der Folge auch ein wenig seine eigene Situation: Ein Mann in der Kugel, in der Blase.

Nach dem 1. Weltkrieg besucht Peter einen Lesekreis. Was für eine Runde ist das und was ist für Sie das Bemerkenswerte daran? Sind die Herren ihrer Zeit voraus oder eher aus der Zeit gefallen?
Dieser Lesekreis besteht aus Bewunderern des Philosophen Alfred Schuler, zu diesem Zeitpunkt noch ein Haufen schwärmerischer, für rauschhafte Theorien empfänglicher Jünglinge, die sich dann nach und nach alle auf ihre Weise in den allmählich beginnenden Nationalsozialismus hineinleben.

Zu den historischen Quellen zählt eine Strafanzeige vom 6.1.1921 gegen Peter Bender. Was wird ihm vorgeworfen?
Ihm wurde die Verbreitung gotteslästerlicher Schriften vorgeworfen. Damals gab es sowas noch.

Würden Sie sagen, Ihr Roman ist ein literarisches Spiegelkabinett von Innen- und Außenwelten und dem Verhältnis zwischen beiden?
Ich würde sagen, es ist eine Geschichte über Parallelwelten.

Welche Haltung haben Sie generell zu Ihren Romanfiguren, speziell zu den Protagonisten?
Ich versuche mich immer in diese Leute zu verwandeln. Aber das geschieht leider jedes Mal viel zu schnell, ich habe selbst offenbar zu wenig Persönlichkeit, zu wenig klare Oberfläche, zu wenig Haut.

„Ich hoffe auf ein weniger grimmiges Schicksal.“

Wie war es für Sie, sich in Peter Bender hineinzuversetzen oder einzufühlen? Wie hat sich Ihr Verhältnis zum ihm während des Schreibens entwickelt?
Ich fand, dass wir beide ziemlich ähnlich sind. Ich hoffe nur, dass mir ein weniger grimmiges Schicksal beschieden sein wird.

Was hat Sie während der Arbeit an „Monde vor der Landung“ am meisten bewegt und erstaunt?
Erstaunt haben mich die Dinge, die ich intuitiv erraten konnte, noch bevor ich sie in der Recherche bestätigt fand. Das ist zwei oder dreimal passiert.

Ob Besprechungen Ihrer Bücher oder Preisverleihungen: Überall wird Ihr „enzyklopädisches Wissen“ gewürdigt. Was ist der Nährboden? Neugier? Worauf?
Ich glaube, ich lese einfach gern Kuriositäten, deshalb wirkt es so, als hätte ich „viel“ gelesen, aber ich kenne dafür die ganzen Mainstreamdinge nicht, die alle einfach still voraussetzen.