Was fehlt uns denn? In der Weltrangliste der gesündesten Länder bringt es Deutschland gerade mal auf Platz 16. Ein Studienergebnis, das für den Anstieg von Zivilisationskrankheiten steht – und für viele Einzelschicksale, etwa immer jüngere Patienten mit Diabetes. Handlungsbedarf also – eine Herausforderung, die Dr. Matthias Riedl zu seiner Mission gemacht hat. Seine Erkenntnis: „Der Mensch ist, was er isst.“ So setzt der bekannte NDR-„Ernährungs-Doc“ als ärztlicher Leiter von Europas größter Praxis für Ernährungsmedizin auf sein vielfach bewährtes Konzept heilsamer Kost: „Artgerechte Ernährung“, sein neues Standardwerk, liefert die alltagstaugliche Anleitung.

Was ist Ihr wichtigster Vorsatz für 2019, Herr Dr. Riedl?
Ob in meiner medizinischen Praxis oder im Privatleben: Die Leitlinie ist artgerechtes Leben. Dazu gehört, nicht ganz so viel zu arbeiten. Bei mir ist die 70-Stunden-Woche üblich. Das ist auf Dauer zu viel, obwohl mir meine Arbeit Spaß macht. Als „Ernährungs-Doc“ haben Sie offensichtlich Ihre Berufung gefunden. Welches Selbstverständnis als Arzt steht dahinter? Meine Idealvorstellung ist, dass die Menschen gar nicht erst krank werden! Ich finde es schrecklich, wenn Menschen an Krankheiten leiden, die vermeidbar gewesen wären. Falsche Ernährung ist zur Hauptursache von Krankheiten geworden. Bitter, wenn Patienten mit verspäteter Reue sagen: Hätte ich das alles früher gewusst, hätte ich doch ganz anders gelebt. Solche Schicksale habe ich in den vergangenen 30 Jahren viel zu oft kennengelernt. Deshalb möchte ich so viel Leid wie möglich verhindern.

Ihre Zielsetzung?
Ich möchte nicht nur Krankheiten kurieren, sondern die Ursachen anpacken. Das ist meine Mission. Ich möchte den Menschen Chancen zu einem besseren, gesünderen und glücklicheren Leben zeigen. Und das hat viel mit Ernährung zu tun.

Was alarmiert Sie gegenwärtig am meisten?
Der Trend zu Fast-Food und Fertiggerichten. Die Industrie tut, was sie will, und mixt Inhaltsstoffe, die uns krank machen. Allerdings geschieht das schleichend und relativ langsam, so dass der Zusammenhang oft nicht erkannt wird – oder erst sehr spät.

„Essen wie die Besten“

Woran machen Sie das fest?
Die Zunahme von Zivilisationskrankheiten ist erschreckend, ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs. Sogar bei jungen Menschen steigt Darmkrebs stark an, Rheuma ebenfalls. Und Diabetes ist zu einer Volkskrankheit geworden. Hinzu kommen immer mehr Allergien und Unverträglichkeiten. Die Liste lässt sich leider fortsetzen …

Was kann die Ernährungsmedizin leisten?
Mehr als die Hälfte aller Erkrankungen entsteht durch falsche Ernährung. Da setzen wir Ernährungsmediziner an und korrigieren die Fehler mit der richtigen Ernährung. So können Krankheiten geheilt oder gelindert werden – gerade auch in Fällen, bei denen die herkömmliche Pillenverabreichung versagt.

Der Vorteil?
Ernährungsmedizin beziehungsweise unsere Ernährungstherapien haben keine Risiken und negativen Nebenwirkungen.

Und wer darf positive Effekte erwarten?
Eigentlich jedermann. Artgerechte Ernährung hilft allen. Am besten sollten schon Kinder entsprechend geschult werden, denn die Ernährung in der Kindheit programmiert, wie gesund oder krank jemand später wird. Vorbeugung liegt mir sehr am Herzen. Heilungserfolge erreichen wir aber auch bei Beschwerden und Krankheiten, die zuvor als unheilbar galten, etwa Bluthochdruck, Gicht oder Diabetes. Wer im mittleren Alter mit der richtigen Ernährung beginnt, kann noch viel erreichen für ein Plus an gesunden Jahren und Lebensqualität. Und nicht zuletzt kommen zu uns auch Spitzensportler: Wir beraten das Olympiazentrum in Hamburg, wie sich die körperliche und geistige Leistung steigern lässt – durch artgerechte Ernährung. Das wirkt!

Der „artgerechten Ernährung“ schreiben Sie in Ihrer Gesundheitsphilosophie eine Schlüsselfunktion zu. Was hat es damit auf sich?
In der Natur sucht sich jedes Tier seine artgerechte Ernährung. Und das ist auch für uns Menschen das Beste. Unser Stoffwechsel ist noch immer derselbe wie vor Millionen von Jahren. Je genauer wir unsere Ernährung darauf abstimmen, desto besser bekommt es uns. Unser Körper braucht Lebensmittel, die er verarbeiten kann – unsere Gene verstehen sich nicht auf industriell gefertigte Produkte. Eine artgerechte Grundlage besteht aus 500 Gramm Gemüse pro Tag und der richtigen Menge an möglichst pflanzlichem Eiweiß.

Was artgerechte Ernährung anbelangt, sind wir Deutschen nicht gerade Weltmeister. Deshalb ist Ihr neues Buch eine Einladung zu einer Entdeckungsreise, um regionale Erfolgsgeheimnisse aufzuspüren …
Genau, und zwar unter dem Motto „Lernen von den Besten“. Die Reiseroute, auf die ich meine Leser mitnehme, orientiert sich an der Weltrangliste der gesündesten Länder – vom Spitzenreiter Italien in alle Himmelsrichtungen, nach Island und Schweden, aber auch nach Australien. An jedem unserer Reiseziele spüren wir die fünf besten Lebensmittel für artgerechte Ernährung auf und kommen in den Genuss der köstlichsten landestypischen Gerichte – Rezepte inklusive.

Was hat sie bei Ihren Recherchen am meisten erstaunt oder ermutigt?
Wie einfach es ist, sich artgerecht zu ernähren. Man muss nur aus dem reichen Angebot gesunder Lebensmittel seine Favoriten wählen, Zucker meiden und beim Fleisch auf kleine Mengen achten. So kann es jeder schaffen, etwas für die eigene Gesundheit zu tun. Für artgerechte Ernährung spricht beispielsweise auch, dass bei den Ureinwohnern am Amazonas Herzinfarkte nahezu unbekannt sind.

„Nie mehr Diät!“

Wo haben Sie die eindrucksvollsten Erkenntnisse gewonnen?
In Nicaragua und Sardinien. Die ursprüngliche und bescheidene Lebensweise der mediterranen Kultur ist für uns ein ideales Vorbild. Zugegeben, auch dort halten Discounter mit industriellen Produkten Einzug. Aber wenn man sich auf die Ursprünge besinnt, ist man auf dem richtigen Weg – auf zum Markt mit der bunte Gemüseauswahl Und das Olivenöl nicht vergessen. Das wird bei mir daheim nicht alt, aber ich habe immer eine Flasche auf Vorrat.

Ihre persönlichen Favoriten mit effektiver ernährungsmedizinischer Wirkung?
Karotten, Joghurt und Nüsse – lauter Lebensmittel, die satt machen und darmgesund sind.

Und was kommt Ihnen nie in die Tüte?
Gummibärchen, Kekse, Nussnougatcreme und Fertigprodukte, weil ich mich nach dem Essen unwohl fühle und schnell wieder Hunger bekomme.

Beim Blättern in Ihrem Buch gewinnt man den Eindruck, das fast gegen jedes Übel ein Kraut gewachsen ist …
Stimmt. Im Buch gibt es einen Extra-Teil „Krankheiten von A bis Z“, also von Arthrose bis Zöliakie, d.h. Glutenunverträglichkeit – mit konkreten Ernährungsempfehlungen und den Top-Lebensmitteln, die Abhilfe versprechen. Unter Ü findet sich das Übel mit dem Übergewicht – im Medizinerlatein „Adipositas“.

Neues Jahr, neue Diät – das ist für viele fast schon ein Ritual. Nicht wenige scheitern daran. Warum ist das nahezu vorprogrammiert?
Wir haben Gewohnheiten oder sogar Gewohnheitssüchte, die fast automatisch ablaufen. Und wir essen ja auch, weil es uns Spaß macht. Aber genau dieser Spaß wird durch eine Diät verdorben, die zu viel verändert. Hier gilt: Weniger ist mehr. Deshalb empfehle ich das 20:80 Prinzip: höchstens 20 Prozent verändern und 80 Prozent beibehalten.

Was bedeutet diese Faustregel auf den Alltag übertragen?
Das Erfolgsgeheimnis ist ganz einfach: Als Erstes ermitteln wir die schädlichsten Ernährungsmuster, die individuell verschieden sind. Im einen Fall ist es vielleicht die viel zu hohe Zuckerdosis oder der Gehalt an Kohlehydraten, im anderen Fall Snacking, also die Neigung, zwischen den Mahlzeiten immer wieder Kleinigkeiten zu naschen, hier einen Keks, da ein paar Gummibärchen, Chips oder Salzletten. Da kommt über den Tag einiges zusammen …

Wozu führt diese Inventur?
Die Bestandsaufnahme ist Basis für die Ernährungsumstellung. Aber keine Sorge, das ist halb so schlimm, wie es klingt. Das 80:20-Prinzip zwingt einen nicht schlagartig zu Totalverzicht, sondern es führt Schritt für Schritt an eine gesunde Ernährung heran. Das funktioniert, versprochen!

Also viele gute Gründe für Sie, vor rund 20 Jahren Ihre Hamburger Praxis um den Schwerpunkt Ernährungsmedizin zu erweitern und das „Medicum“ mit seinen sich ergänzenden Fachbereichen aufzubauen. Ihre Jubiläumsbilanz?
Die neuesten Studien bestätigen und untermauern, was wir seit 20 Jahren bei uns im „Medicum“ machen. Unser Einsatz hat sich gelohnt, unser Durchhaltevermögen auch. Das hat mich viel Geld gekostet. Zugleich haben kritische Kollegen nicht mit Spott gespart. Aber das alles hat sich komplett geändert. Die Kollegen schicken uns nicht nur ihre Patienten, sondern kommen sogar selbst. Die Ernährungsmedizin ist angekommen! Wir sind Europas größtes ambulantes Zentrum für Ernährungsmedizin und bekamen im letzten Jahr die Auszeichnung eines französischen Instituts! Darauf sind wir schon sehr stolz.

Sekt oder Selters?
Selters, am besten ohne Kohlensäure. Das ist für den Alltag artgerechter … (Dr. Riedl macht eine Spannungspause und grinst)

Geständnisbereit?
Klar, ab und an machen wir Ausnahmen – zu besonderen Anlässen wird bei uns natürlich auch mit Sekt gefeiert.