Für Nummer-1-Bestseller hat Ildikó von Kürthy ein Ausnahmetalent. Die Autorin von Erfolgen wie „Mondscheintarif“, „Neuland“ und „Es wird Zeit“ ist beflügelt von einer großen Hoffnung: Lesende sollen sich durch ihre Bücher „begleitet fühlen, wie von einer guten Freundin: kritisch, liebevoll, ehrlich und immer da. Vor allem, wenn es ernst wird.“ Und das wird es in ihrem neuen Roman „Morgen kann kommen“ für und über Frauen, die aus dem Schatten treten, zerstörerische Beziehungen beenden und die Bühne ihres Lebens erobern.

Ihr neuer Roman beginnt mit einer Frau im Krisenmodus: Einer der Auslöser ist der 51. Geburtstag Ihrer Protagonistin Ruth, der sogar den 50. an Dramenpotenzial übertrifft. In welche Stimmung hat Sie dieser runde Geburtstag versetzt?
Meinen 50. Geburtstag habe ich so wild und ausgelassen gefeiert, dass ich die Krise, die er ausgelöst hat, erst Wochen später bemerkt habe. Wo stehe ich? Und wo wollte ich eigentlich mal hin? Wer bin ich? Gefalle ich mir selbst? Oder gefalle ich anderen? Bin ich auf dem richtigen Weg? Und falls nicht: Ist jetzt die Zeit, die Richtung zu wechseln? Worauf warte ich noch? Bleiben oder gehen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen, wenn das Leben allmählich in die Jahre kommt. Es sind unangenehme Fragen, denn sie machen uns nervös und die Antworten können, wenn sie ehrlich sind und wenn sie in die Tat umgesetzt werden, unser ganzes Leben verändern.

Wie nicht wenige Frauen verordnet sich Ruth im größten Lebenschaos eine neue Haarfarbe. Was signalisiert ihr Farbfavorit „Brond-Blond“?
Meine Protagonistin Ruth versucht zunächst noch, ihr Unglück unter einer anderen Haarfarbe zu verstecken. Das misslingt natürlich. Unglück und Zweifel setzen sich auf Dauer durch. Auch gegen „Brond-Blond“.

Kennen Sie Hals-über-Kopf-Aktionen wie bei Ruth von sich selbst? Oder welche Reaktionen sind für Sie typisch?
Ich sortiere Socken, um mich zu erden. Ich räume Küchenschränke auf, um mich zu beruhigen. Ich gehe schwimmen, um nicht ins Schwimmen zu geraten. Blond war ich schon. Das hat nichts gebracht.

„Es wird Zeit“ ist ein Großprojekt von Ihnen. Was macht es zur Herzensangelegenheit?
„Es wird Zeit“ ist der Titel meines letzten Romans, des dazu passenden Tagebuchs, der angegliederten Homepage und der Ursprung meiner Idee vom Podcast „Frauenstimmen“. „Es wird Zeit“ ist ein kleiner Kosmos, in dem das analoge Papier mit der digitalen Welt Freundschaft schließt. Ich möchte Raum schaffen für Begegnungen, für Austausch, für ein bereicherndes Beisammensein von Frauen, die sich verstehen und die sich beistehen.

„Die Bühne des eigenen Lebens betreten.“

Wie Ihre persönliche Mission „Es wird Zeit“ klingt auch der Titel Ihres neuen Romans nach Aufbruch. Was steht dahinter?
Es geht darum, sich zu fragen, wer man ist, wenn man niemandem mehr gefallen will. Es geht darum, sich selbst zu entdecken und zu sich selbst zu stehen. Es geht darum, die Bühne des eigenen Lebens zu betreten und sich nicht mehr kleiner zu machen als man ist, damit andere sich größer fühlen können als sie sind. Es ist ein Aufbruch zu sich selbst. 

Auf Seite 41 sagt der Psychoanalytiker Dr. Siemens einen Schlüsselsatz. Inwiefern teilen Sie seine Sicht?
Der Satz ist Tatsache und Strategie zugleich. „Mensch sein heißt, Probleme zu haben.“ Wenn man das kapiert und akzeptiert, dann kann man seinem wunderschönen und unperfekten Leben mit mehr Gelassenheit, Freundlichkeit und Wohlwollen gegenübertreten.

In „Morgen kann kommen“ lassen Sie unterschiedliche Frauen aufeinandertreffen. Worauf kommt es Ihnen bei den Persönlichkeiten und dem Verhältnis zwischen ihnen an?
Die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Schwestern Gloria und Ruth verbindet mehr, als man zunächst denkt. Die eine hat sich gewehrt, die andere hat sich angepasst. Über beiden liegt der Schatten der Vergangenheit – und es gelingt ihnen schließlich, nach Jahren der Trennung, gemeinsam aus diesem Schatten herauszutreten. 

Was trennt und was verbindet die Schwestern Ruth und Gloria?
Ruth will gemocht, Gloria will akzeptiert werden. Die eine macht sich klein und versucht, unauffällig zu bleiben, die andere rebelliert und sucht die Konfrontation. Ursprung ist bei beiden, dass sie in ihrer Mutter kein starkes Vorbild hatten, dass sie aufgewachsen sind mit einer Frau, die ihr Leben lang Kompromisse bis hin zur Selbstaufgabe gemacht hat. Viele von uns hatten solche Mütter. Die Schwestern gehen auf unterschiedliche Weise mit dieser Prägung um – und scheitern letztlich jede auf ihre Weise an männlicher, brutaler Überlegenheit. Ein Verbrechen, gefolgt von einer Lüge, entzweit sie. Die Wahrheit macht sie – endlich – frei.

Warum ist es genau jetzt an diesem 15. Mai Zeit für den Aufbruch von Ruth und die Konfrontation mit ihrer Schwester Gloria?
Es ist Frühling! Zeit für etwas Neues! Und außerdem ist der 15. Mai Ruths Geburtstag, Ruths Hochzeitstag und damit der Tag, an dem sich das Verbrechen jährt, das die Beziehung der Schwestern zerstört hat. Es ist Zeit für die Wahrheit.

Nach 15 Jahren völliger Funkstille zwischen den Schwestern sorgen Sie in Ihrem Roman für ein Wiedersehen. Was möchten Sie bewusst machen?
Es ist wichtig, sich der Wahrheit zu stellen. Es geht um Bewusstheit. Nur wer sich selbst gegenüber ehrlich ist, kann einen Weg einschlagen, den er selbst gewählt hat. Man muss die Wahrheit nicht unbedingt sagen. Aber man muss sie kennen. Viele Familien funktionieren nur, weil die Wahrheit unausgesprochen bleibt. Ich verurteile das nicht. Ich finde, man darf anderen etwas vormachen, wenn es dem eigenen Seelenheil dient. Nur sich selbst sollte man nichts vormachen. 

Sie bescheren Erdal Küppers ein Comeback. Was macht ihn als Romanfigur unwiderstehlich? Was verkörpert er für Sie?
Ich liebe Erdal! Er spielt in jedem meiner Romane eine tragende Nebenrolle. Er wird langsam älter, aber er hängt auf rührende Weise an seinen Neurosen und an seiner Mutter. Erdal hat diese unvergleichliche Art, stets das zu sagen, was andere sich kaum zu denken trauen. Er ist eine ichvergnügte Plaudertasche, ein guter Freund, selbstverliebt und dennoch empathisch, sehr lustig und auf eine Weise ehrlich, die man nur einer guten Freundin verzeiht.

Ihre Ich-Erzählerin Ruth hat einen ganzheitlich orientierten Personal-Life-Coach, Erdal Küppers hat nahezu die ganze Bandbreite durch, vom Hypnotiseur bis zum Chakra-Analysten. Was ist bei dem Balanceakt zwischen Stimmungsschwankungen die Herausforderung?
Das ganze Leben ist eine einzige Stimmungsschwankung. Deswegen braucht man noch keinen Therapeuten. Wenn man aber aus der Düsternis nicht wieder hinausfindet, wenn man sich selber verloren geht, dann darf man sich nicht scheuen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

„Man entfaltet sich ein Leben lang.“

Nicht nur die 17-jährige Leyla ist in der Pubertät, sondern auch die Erwachsenen scheinen in Verpuppungsphasen zu stecken. Täuscht das? Oder gibt es Hoffnung auf Schmetterlinge?
Man entfaltet sich sein Leben lang. Auch mit Falten.

Nach der zweiten Flasche Wein erklären Glorias verheiratete Freundinnen die Ehe für einen „gesamtgesellschaftlichen Irrtum“, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie sehen Sie selbst es bei nüchterner Betrachtung?
Nüchtern betrachtet ist die traditionelle Ehe ein veraltetes Modell. Es sollte viel mehr Beziehungsformen geben. Zusammenlebende Paare, getrenntlebende Paare, getrenntlebende Eltern, die aber ein Paar sind, zusammenlebende Eltern, die kein Paar mehr sind. Es wäre gut, wenn man freier und unbehelligter durch ranzige Normvorstellungen über andere Möglichkeiten des Beziehungslebens nachdenken könnte und dürfte.

Im Vergleich zu all den Beziehungsdramen wirkt die Ehe von Glorias und Ruths Großeltern wie ein Gegenentwurf. Tatsächlich eine Traumehe?
Es gibt keine Traumehen. Es gibt nur unperfekte Menschen, die unperfekte Beziehungen führen. Liebe und Respekt. Darum geht es. Um nicht mehr und nicht weniger.

Während seiner Fastenkur hat Erdal den ultimativen Imbiss entdeckt – und Pommes mit Trüffelmayonnaise, für ihn „in Öl gebackene Kindheitserinnerungen“. Was schmeckt für Sie nach Kindheit?
Pfannkuchen. Leicht verbrannt. Meine Mutter war keine gute Köchin.

Durch Opa Pütz und Erdal Küppers bringen Sie auch Ihre eigene Kindheitsregion ins Spiel. Was verbindet Sie bis heute mit Aachen und dem Rheinland?
Ich bin eine gesellige Plaudertasche, für die eine Kneipe erst dann voll ist, wenn auch der letzte Stehplatz doppelt besetzt ist. Ich liebe meine Heimatstadt Aachen. Ich habe immer Heimweh. Du kriegst die Frau aus dem Rheinland, aber du kriegst das Rheinland nicht aus der Frau. Alaaf.

Wie in Ihrem Roman spielen die Kindheit und das Früher auch bei Ihren Schreibprojekten eine große Rolle. Warum?
Je älter ich werde, desto eingehender beschäftige ich mich mit meinen Wurzeln und meinen frühen Prägungen. Die Spuren, die ich hinterlasse, interessieren mich genauso wie die Spuren, die in mir hinterlassen worden sind. Wer und was hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin? Und: Was waren meine Eltern für Menschen? Was waren ihre Ängste, was waren ihre Sehnsüchte, ihre Schwächen, ihre Unzulänglichkeiten? Meine Eltern sind früh gestorben, lange bevor sie für mich zu Menschen wurden, die mich interessierten, denen ich Fragen nach ihrem Schicksal und nach ihrer eigenen Herkunft stellte.

„Jede Sekunde mit Gold aufwiegen.“

Besonders berührt das Schicksal von Glorias Mitbewohner und Seelenfreund Rudi, der eine eigene Zeitrechnung hat. Was macht Ihnen seine Geschichte bedeutsam?
Die tiefe Zuneigung zu Rudi ist durch das Wissen geprägt, dass sein Leben bald vorbei ist. Dadurch entsteht eine ganz andere Kostbarkeit. Jeder Moment mit ihm ist ein kleiner Schatz, jedes seiner Worte gewinnt unendlich an Bedeutung, weil es sein letztes sein könnte. Natürlich sind alle unsere Beziehungen endlich, und es kann nicht schaden, sich das ab und zu bewusst zu machen und jede Sekunde mit Gold aufzuwiegen.

Was symbolisiert die Schlussszene für Sie?
>Loslassen. Aufbrechen.

Wie definieren Sie Happy-End?
Ein Ende ist nur dann glücklich, wenn es die Möglichkeit zu einem Anfang beinhaltet. „Morgen kann kommen“ ist noch nicht vorbei.

Welche Ihrer Romanfiguren spricht Ihnen am meisten aus dem Herzen?
In meinem Herzen gibt es viel Platz. Jede meiner Figuren spricht mir aus dem Herzen.

Bitte vollenden Sie den Titel zu einem persönlichen Satz: Morgen kann kommen, wenn …
Morgen kann kommen, wenn die Nacht vorbei ist.