KEIN ZWEIFEL, Kathy Reichs hat längst Kultstatus und ihre Kriminalromane gehören zum Besten, was das Genre zu bieten hat. Ideenmangel braucht die US-Amerikanerin mit beeindruckender Doppelkarriere nicht zu fürchten. Als forensische Anthropologin zählt sie zu den angesehensten Experten. Ihr Einsatzgebiet hat sie überall dort, wo der Tod Fragen hinterlässt. Zum 20-jährigen Jubiläum ihrer Tempe-Brennan-Serie überrascht die Erfolgsautorin nun mit einem gelungenen Coup: „Sunday Night“, eine vielversprechende neue Thrillerreihe und eine außergewöhnliche Titelheldin.

Unglaubliche 20 Jahre Sensationserfolg mit Temperance bzw. „Bones – Die Knochenjägerin“! Welche Bedeutung hat „Bones“ für Sie persönlich?
In den Temperance-Brennan-Büchern und in der Fernsehserie „Bones“ erlaube ich einen kleinen Einblick in mein Berufsleben. Nicht jedes Buch bzw. jede Episode geht direkt auf einen bestimmten Fall zurück, aber die Handlung stammt häufig aus meiner beruflichen Tätigkeit.

Wohl nur die wenigsten Autoren bringen so viel eigene Erfahrung und Expertise zu ihren Thrillerthemen mit wie Sie für „Bones“ als forensische Anthropologin. Wie würden Sie auf den Punkt bringen, was es mit diesem Metier auf sich hat? Und was macht die forensische Anthropologie zum unerschöpflichen Thrillerstoff?
Als forensische Anthropologin habe ich es mit Gebeinen bzw. Überresten zu tun. Das Beweismittel, das ich untersuche, ist der menschliche Körper. Ich untersuche verweste, verbrannte, zerstückelte, mumifizierte und zum Skelett gewordene Überreste. Manchmal soll ich Alter, Geschlecht, Rasse und Größe bestimmen, um eine Identität festzustellen, manchmal soll ich die Todesumstände oder den Todeszeitpunkt bestimmen oder angeben, was mit dem Körper passierte, nachdem das Opfer schon nicht mehr am Leben war. Die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe, waren überaus hilfreich bei der Konstruktion meiner forensischen Thriller und beim Schreiben von Episoden (oder auch als Beraterin) für die Serie.

Mit welcher Idealvorstellung machen Sie sich an Untersuchungen?
Die Art meiner Arbeit ist nichts für zimperliche Menschen. Bei den Fällen, die zu mir ins Labor kommen, handelt es sich um Tötungsdelikte, Selbstmord, Unfälle. Forensische Anthropologen bekommen in der Regel die schwierigsten Fälle. Was ich dabei nie vergesse: Ich arbeite zwar mit Toten, aber für die Lebenden.

Was waren Ihre spektakulärsten oder interessantesten Fälle?
Ursprünglich bin ich als Bioarchäologin ausgebildet und wurde zu Fällen von historischer Bedeutung herangezogen. In einem meiner Lieblingsfälle ging es um Jeanne LeBer, eine Frau, die 1714 starb. In den frühen 90ern wurde sie dem Vatikan zur Seligsprechung vorgeschlagen. Die Erzdiözese Montreal beauftragte mich, ihre Überreste zu exhumieren und zu untersuchen. Das ergab dann einen Teil des Plots von „Knochenarbeit “ (dt. 1999), meinem zweiten Buch. „Durch Mark und Bein“ (dt. 2002) entwickelte sich aus der Arbeit mit D-MORT, einer Einsatzgruppe der US-Regierung, die Katastrophenopfer birgt. In dem Buch ist es Tempes Aufgabe, Opfer eines Flugzeugunglücks zu bergen, wobei etwas schrecklich schief geht. Ironischerweise hatte ich einen Monat nach dem Erscheinen von „Durch Mark und Bein“ die gleiche furchtbare Aufgabe wie Tempe, als ich nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center auf Ground Zero zu tun hatte. In „Knochenlese “ (dt. 2004) geht es unter anderem um die Exhumierung von zahlreichen Menschen, die während des langen und tragischen Bürgerkriegs in Guatemala ermordet wurden. Für diesen Roman konnte ich mich auf meine Reise mit Dr. Clyde Snow stützen, bei der ich mit der Stiftung „Guatemaltekische Forensische Anthropologie“ arbeitete. Die Aufgabe war, Skelette aus einem Massengrab im Hochland von Südwest-Guatemala zu bergen. Bei den Opfern handelte es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder. Ich werde nie die runzelige alte Frau vergessen, die Tag für Tag kam, um schweigend Totenwache zu halten. Ihre vier Töchter und neun Enkel lagen in der Grube, die wir ausgehoben hatten. Der Vorspann für „Bones“ beginnt mit Temperance Brennans Rückkehr aus Guatemala von einem ähnlichen Exhumierungsunternehmen einer Menschenrechtsorganisation.      

Als Gutachterin waren Sie auch bei Gerichtsverhandlungen schon oft gefragt – und dabei machten Sie sich nicht nur Freunde. Wie gefährlich ist Ihr Beruf? Was fürchten Sie am meisten?
In Ruanda war ich in einem Zeugenschutzprogramm, und während meines Aufenthalts in Guatemala gab es Drohungen gegen die Stiftung, die dort ständig arbeitet, um die Mordopfer zu bergen – Tausende von Menschen, die durch die Regierung getötet worden waren. Ich hatte einen Fall, wo dem Angeklagten meine Aussage als Zeugin nicht passte und er drohte, mich umzubringen. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken. Die größere Gefahr könnte von einem Mikroorganismus ausgehen, der von irgendwelchen Überresten übertragen wird. Gegen Keime treffen wir zahlreiche Vorkehrungen!

Wie haben Sie eigentlich Ihr Faible für das Schreiben entdeckt?
Als ich die Professur an der Universität von North Carolina in Charlotte bekam, wollte ich nicht den soundsovielten Fachaufsatz oder ein weiteres Lehrbuch schreiben. Da es mir ziemlich freigestellt war, zu tun, was ich wollte, dachte ich, es könnte doch Spaß machen, einen Roman zu schreiben – das wäre mal was anderes. Und ich hoffte, mein Roman könnte meine Wissenschaft einem größeren Publikum nahebringen.

Welche Bedeutung hat das Thriller-Schreiben für Sie?
Rundheraus gesagt: Ich mag es düster. Ich sehe die Menschen gerne ohne Make-Up, schaue gern in diese halbverfallenen Häuser, die ich vom Zug aus sehe. Krimis führen einen in schäbige, rohe Welten, an Orte, deren Bekanntschaft die meisten von uns (hoffentlich) nie machen werden. Die Leser werfen einen flüchtigen Blick ins Dunkel, sind aber geborgen im Schutzraum der Fiktion. Was zieht sie da an? Diese Geschichten leben von einer Moral, die wie ein Goldklumpen in ihnen allen zu finden ist. Krimiautoren beschreiben das Schlimmste im Menschen, aber mit einer unerschütterlichen Überzeugung, dass er gut ist.

„Blick ins Dunkel …“

Vor rund 20 Jahren wurde Ihr Debütkrimi „Tote lügen nicht“ als beste Erstveröffentlichung ausgezeichnet. Erlauben Sie die Frage, ob und wenn ja, wie es mit Tempe Brennan weitergeht?
Keine Sorge, Sie werden Tempe in „A Conspiracy of Bones“ (engl. August 2018), meinem nächsten Roman, wieder begegnen. Der Heiratsantrag ihres Freundes Andrew Ryan, die Hochzeitspläne ihrer Mutter, der Militäreinsatz ihrer Tochter in Afghanistan – all das macht ihr Stress. Ihr geliebter Chef ist auf tragische Weise ums Leben gekommen und sein Nachfolger hat sie aus dem Labor verbannt. Ein Leichnam wird gefunden, dem Gesicht, Hände, Organe fehlen – ein Fall für einen Anthropologen. Aber Tempe wird vom neuen amtlichen Leichenbeschauer nicht hinzugezogen. Sie beschließt, auf eigene Faust zu ermitteln, und je mehr sie herausfindet, desto düsterer wird die Geschichte.

Nun sorgen Sie für die große Überraschung mit „Blutschatten“, einem neuen Reihen-Auftakt. Was hat Sie dazu bewogen?
Der Anstoß kam von meinem Verleger. Zunächst war ich nicht allzu begeistert, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gewann ich Freude an der Idee. Mit einer neuen Figur wie Sunday Night konnte ich von Null anfangen und Neues erfinden. Das fand ich anregend und faszinierend. Übrigens: Tempe gefällt mir nach wie vor, und ich bin mit ihr noch nicht fertig, aber diese neue Figur hat mir frische Energie gegeben.

Den Auftaktband von „Blutschatten“ widmen Sie Hazel Inara Reichs, geboren am 20. Juli 2015. Ihre Enkelin? Wie fühlen Sie sich in Ihrer Rolle als Großmutter?
Ja, Hazel ist mein jüngstes Enkelkind. Es gibt jetzt sechs: Henry, Declan, Miles, Alice, Cooper und Hazel. Der Älteste ist acht, die Jüngste zwei. Ich bete sie alle an und bin gerne mit ihnen allen zusammen, entweder bei Familientreffen im Strandhaus, bei unserem alljährlichen Karibikausflug oder in den Ferien. Und ich verbringe regelmäßig Zeit mit ihnen einzeln. Das ist dann sehr viel weniger hektisch!

In „Blutschatten“ sucht Opaline Drucker ihre Enkelin Stella, die seit einem Bombenattentat verschwunden ist. Wie kamen Sie auf diese Horrorvorstellung?
Ich wollte eine Geschichte mit aktuellem Bezug schreiben. Das Bombenattentat auf eine kirchliche Schule schien da nur allzu realistisch. Und ich wollte ein Verbrechen, das Sunday ins Spiel bringt. Eine Frau, die zurückgezogen lebt und eine tragische Kindheit hinter sich hat.

Zur Spurensuche muss Ihre neue Heldin Sunday Night erst überredet werden. Warum ist sie dennoch genau die Richtige für den Fall?
Wenn wir ihr begegnen, lebt Sunday Night allein auf einer einsamen Insel in der Nähe von Charleston in South Carolina. Den Polizei- und den Militärdienst hat sie nicht einvernehmlich verlassen, sie will jetzt einfach in Ruhe gelassen werden. Während Sunnie keine gewöhnliche Person ist, ist es gerade ihr „eine-gewöhnliche-Person-Sein“, das sie aus ihrem selbstauferlegten Exil verjagt, um den Fall eines vermissten Mädchens aufzugreifen. Ihre Geschichte und ihre Gebrochenheit bestimmen ihr Handeln eher als ihr Beruf. Sie ist weder Polizistin noch Privatdetektivin noch Forensikerin. Aber sie hat Fähigkeiten. Die Leser werden feststellen, dass auch sie unter bestimmten Umständen, wenn das Leben seine Narben hinterlassen hat, Sunnie sein könnten.

Angenommen, Sie würden sich mit Sunday verabreden: Was wäre der ideale Treffpunkt?
Wir würden uns in Poe’s Tavern auf Sullivan’s Island in South Carolina verabreden, unser beider Stammkneipe. Wir könnten uns ein Sandwich mit gebackener Flunder bestellen oder eine Portion Shrimps und dazu ein am Ort gebrautes Bier.

Sunday nennt die Heimsuchung durch traumatische Bilder aus ihrer Vergangenheit „ungebetene Sperrfeuer in meinem Gehirn“. Sie versucht, die schrecklichen Erinnerungsbilder zu verdrängen. Wie gehen Sie selbst mit erschütternden Erfahrungen um, die Sie z.B. als Gutachterin an Kriegsschauplätzen in Ruanda oder Guatemala gemacht haben?
Als Wissenschaftler muss man die Fähigkeit entwickeln, objektiv zu bleiben, damit man seine Arbeit machen kann, sowohl tagsüber im Labor oder am Tatort, als auch zuhause. Zugegebenermaßen gehen einem manche Fälle näher als andere, aber grundsätzlich braucht man einfach die psychologische Konstitution und Disziplin, die Dinge von sich fern zu halten.

„Bones“ war weitgehend an den Wirkungsstätten von Ihnen und Ihrer Heldin Tempe Brennan angesiedelt. Im Gegensatz dazu verschanzt sich Sunday Night zunächst auf einer Insel namens Goat Island. Wie kamen Sie auf diese gottverlassene Gegend?
Ich verbringe viel Zeit im sogenannten Lowcountry von South Carolina. Goat Island, gegenüber der Isle of Palms gelegen, ist zwar nicht völlig aus der Welt, aber doch recht abgelegen. Man kann nur mit einem privaten Motorboot hinkommen. Eine Brücke oder eine Fähre gibt es nicht. Wenn man nach Goat Island hinüberfährt, findet man eine völlig andere Welt, eine aus einem gemächlicheren, weniger überfrachteten vergangenen Zeitalter. Es ist der perfekte Schauplatz für eine mit Dämonen besetzte Einsiedlerexistenz wie die von Sunday.

„Sunday ist hemmungslos …“

Sie sind für Ihre ausführlichen Recherchen bekannt. Welche Entdeckungen waren bei der Arbeit an „Blutschatten“ für Sie am spannendsten?
Obwohl ich glaubte, ich würde sie gut kennen, erfuhr ich mit Sunday doch viel über die Städte, die sie auf ihrer Suche nach Stella bereist – über Chicago, Los Angeles, Washington D.C., Louisville, Kentucky. Und ich erfuhr viel über Vollblut-Pferderennen. Aber ich will jetzt nicht verraten, in welchen Zusammenhang das gehört.

Als forensische Anthropologin machen Sie sich ein Bild, wer wann wie gestorben ist und Sie setzen bei ihren Untersuchungen aus vielen Puzzleteilchen die Identität von Verstorbenen zusammen. Inwiefern ist die Suche nach Identität der gemeinsame Nenner von „Bones“-Thrillern und „Blutschatten“?
Es geht auf ganz andere Weise um Identität. Das ganze Buch über bemüht sich Sunday, die Identität der Bösewichter herauszufinden und ihre Ideologie zu begreifen. Und auf einer anderen Ebene ringt sie darum, die Identität ihrer Dämonen zu identifizieren, um endlich sich selbst und was sie antreibt zu verstehen.

Zu ihren Bewunderern gehören die namhaftesten Thrillerautoren, z.B. Lee Child und James Patterson. Welche Autoren schätzen Sie selbst besonders und wofür?
Um auf eine frühere Frage zurückzukommen: Ich mag meine Krimis düster. Und mit überraschenden Wendungen. Es stehen da viele ausgezeichnete Autoren zur Wahl, zusätzlich zu den beiden, die Sie erwähnt haben: Jeffery Deaver, Karin Slaughter, Stieg Larsson, Michael Connelly, Val McDermid, Ruth Ware, Liza Marklund, Yrsa Sigurdardóttir, um nur einige zu nennen.

 

Sunday Night im Profil:

Sundays schlimmster Feind?
Oft sie selbst.

Sundays bester Freund?
Ihr Zwillingsbruder Gus. Und Bob, das Eichhörnchen.

Ihre größte Stärke?
Ihre Zähigkeit und ihr Mitgefühl.

Ihre verhängnisvollste Schwäche?
Ihre Unfähigkeit, sich an Regeln zu halten.

Ihr Lebenselixier?
Der Ozean.

Die unverzichtbarsten Dinge in ihrem Alltag?
Freiheit von den Zwängen der konventionellen Gesellschaft.

Ihr Look? Ihre Optik?
Sie ist eine große, dünne Rothaarige, mit schwarzlackierten Fingernägeln und einer Narbe über dem Auge.

Sundays größte Herausforderung?
Ihre Unfähigkeit, Anordnungen zu befolgen oder bei der Arbeit mit anderen Kompromisse zu schließen.