Das Reise-Gen macht sich bei Margot Flügel-Anhalt schon seit ihrer Jugend bemerkbar. So ist die Powerfrau in ihr natürlich nicht in Pension gegangen, sondern solo auf große Tour. 2018 stieg die Sozialpädagogin mit 64 zum ersten Mal in ihrem Leben auf ein Motorrad, kurvte von ihrem hessischen Heimatdorf bis nach Zentralasien und schilderte ihren Trip in dem Bestseller- und Filmerfolg „Über Grenzen“. 2019 brach sie erneut auf – mit ihrem bewährten Benz, Baujahr 1995. Ihre beiden Traumziele: Indien und Myanmar. Daraus entstand das Leseabenteuer „Einfach abgefahren“.

Was hat es mit Ihrer Spezialmischung „Die Farben von Jaipur“ auf sich?
Es ist eine Mischung aus Mandarinensaftkonzentrat, Kurkuma, Koriander, Zimt, schwarzem Pfeffer, Ingwer, Fenchelsamen, Tonkabohne, Kardamom, Kreuzkümmel, Gewürznelken, Chili … Wenn ich diese Düfte rieche, reise ich in die Vergangenheit der Seidenstraße, in die Zeit der Kamelkarawanen, der Karawansereien … Ich beginne zu träumen.

Sie attestieren sich ein ausgeprägtes „Reise-Gen“. Seit wann und wie macht es sich bemerkbar?
Seit ich als Kind eigenständiger wurde, zieht es mich unweigerlich hinaus ins Unbekannte. In meiner damaligen Heimatstadt Tuttlingen verbrachte ich meine Freizeit auf den Donauwiesen oder im Wipfel einer hohen Tanne in den tiefen Wäldern am Rand der Schwäbischen Alb. Mit 13 Jahren unternahm ich mit einer Freundin eine Fahrradtour in die Schweiz. Ich erinnere mich auch an herrliche Ausflüge rund um den Bodensee – per Anhalter.

Wie würden Sie Ihre Reisephilosophie auf den Punkt bringen?
Die Welt ist atemberaubend schön und die – meisten – Menschen sind gut.

Ein Schlüsselbegriff scheint für Sie Freiheit zu sein. Wie definieren Sie das für sich?
Freiheit ist es, die Wahl zu haben zwischen Tun und Nicht-Tun. Im Augenblick des Aufbruchs ist das Gefühl von Freiheit für mich unglaublich stark.

„Ich kann jederzeit wieder aufbrechen.“

Trotz Ihrer großen Reiselust bezeichnen Sie sich als durchaus auch sesshaft. Was genau macht für Sie den hessischen 44-Seelen-Ort Thurnhosbach zum „Basislager“?
Ich habe in Casablanca, Freiburg und Berlin gelebt. Hier in der nordhessischen Bergwelt steht mein Haus einen Steinwurf entfernt von der Wildnis. Wenn ich zurückkomme aus der weiten Welt in das kleine Dorf, weiß ich mich aufgehoben. Nachbarn, ja Freunde habe ich hier gefunden. Man hilft sich. Wir kümmern uns gemeinsam um den Dorfanger und die Dorfkatzen. Jeden Morgen vor dem Frühstück genieße ich bei meiner Tour um den halben Berg die Erde unter meinen Füßen. Das alles erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Nach Thurnhosbach kann ich immer zurückkommen. Ich bin inzwischen hier zuhause. Und ich kann jederzeit wieder aufbrechen … 

Bekannt wurden Sie durch die Motorradtour Richtung Hindukusch. Worum ging es Ihnen bei dieser Premiere?
Um Freiheit im Umgang mit meiner Zeit! Auf dieser Reise mit dem Motorrad durch Zentralasien konnte ich endlich lange, lange unterwegs sein: 117 Tage in 18 Ländern, über 18.000 Kilometer.

Schon bald nach dieser großen Tour war Ihnen wieder nach dem nächsten Aufbruch zumute. Was trieb Sie an oder um?
Unterwegs sein ist für mich so bereichernd. Das Neue, Fremde, alles Unwägbare – es fordert meine sämtlichen Kompetenzen heraus. Ich bin hellwach, kann erfahren, wer ich wirklich bin. Eine Art Aphrodisiakum, das die Liebe zum Leben im Allgemeinen in mir weckt.

Ihr neues Buch hat den Titel „Einfach abgefahren“. Was steckt für Sie in diesem Motto?
Na ja, ein bisschen verrückt hört sich dieser Plan durchaus an: im Alleingang mit einem alten Mercedes Benz mal ebenso nach Südostasien zu reisen. Trotzdem bin ich schließlich einfach losgefahren, obwohl noch nicht alles geregelt war.

Wie waren eigentlich die Spontanreaktionen auf Ihr Reiseprojekt?
Meine Familie, Freunde und Peergroups kennen mich. Sie lieben mich für meine abenteuerlichen Ideen. Einige bieten mir an, mich zurückzuholen, wenn etwas schiefgehen sollte.

Was machte Sie so sicher, dass Ihr fast 25 Jahre altes Auto das richtige für Ihr Vorhaben war?
Ganz einfach: Mein Benz stand auf dem Hof. Ich musste eigentlich nur einsteigen. Das Auto ist Baujahr 1995. Es gibt kein Display und so weiter. Praktisch, denn Glühbirnen sind noch einfach zu wechseln. Öl, Bremsflüssigkeit, Keilriemen auch. Alles offen nachprüfbar. Wenn was hakt, schaut man direkt im Motorraum nach.

„Freude am Unwägbaren“

Was sollte man mitbringen, wenn man ein solches Reiseprojekt wagt?
Vertrauen, Freude am Unwägbaren und Liebe.

Welche Utensilien haben sich unterwegs als am wichtigsten entpuppt?
Meine Lesebrille, das Handy und das Ladegerät.

Was Sie nicht dabei hatten, war ein Visum für Pakistan. Was ließ Sie hoffen, dass dennoch alles irgendwie klappen würde?
Es gibt immer einen Plan „B“. Mein Sohn Phil hat mir schließlich dabei geholfen, das Pakistan-Visum online zu beantragen, als ich bereits im Iran war.

Sie schreiben, dass Sie sich verwandeln, wenn Sie unterwegs sind. Was stellen Sie dabei an sich fest?
Ich bin unterwegs offen, voll cool und bezaubernd!

„Ich vertraue meiner Menschenkenntnis.“

Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass Sie eine große Offenheit für Begegnungen – etwa mit Mazyar in Zadehan und Bashir in Lahore – mitbringen. Was ermutigt und bewegt Sie dabei?
Da draußen gibt es eine Menge richtig toller Typen. Ich vertraue meiner Menschenkenntnis. Und erlebe dabei wundervolle Begegnungen.

Ihre Reiseroute konfrontierte Sie mit unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaftssystemen. Wie stellen Sie sich darauf ein? Was bewährt sich?
Ich lese Bücher über die fremden Länder, informiere mich über Regeln, Gebräuche und Besonderheiten, etwa politische Bedingungen. Schließlich lasse ich mich möglichst vorurteilslos auf das Land ein, wenn ich dort bin.

Unterwegs sind Sie oft in Regionen, deren Sprachen Sie nicht sprechen, etwa in Sistan-Belutschistan, wo auch in Metropolen nicht unbedingt jeder Englisch spricht. Wie behelfen Sie sich da?
Es gibt immer den Google-Übersetzer. Die wichtigsten Worte habe ich mir vor der Reise in der jeweiligen Landessprache in mein Tagebuch notiert.

Am 7. Dezember 2019 überquerten Sie an einem besonderen Ort die Grenze zwischen Pakistan und Indien. Was bewegte Sie?
Die Zeremonie am Grenzübergang in Wagah ist atemberaubend, beunruhigend und irritierend. Aber sie entspricht auch der Mentalität der Menschen in Pakistan und Indien. Beide Völker sind offensichtlich stolz auf ihre Nation. Und es gefällt ihnen, sich dies gegenseitig lautstark und eindrucksvoll mitzuteilen. Die inszenierten Drohgebärden beider Seiten bei der Grenzschließung sind ein Ritual, das die politischen Auseinandersetzungen zwischen Indien und Pakistan demonstrieren soll.

Nach 13.000 km und 51 Tagen erreichten Sie ein Sehnsuchtsziel, Jaipur, die Hauptstadt von Rajastan. War es tatsächlich die Erfüllung Ihres Traums?
Bei meiner Ankunft in Jaipur verhedderte ich mich mit dem Benz erst mal heillos in einem engen, kleinen Markt. Drei Tage blieb ich in der Sehnsuchtsstadt, lernte sie ein wenig kennen und begegnete wirklich interessanten Menschen. Das Schönste für mich war, dass ich es geschafft hatte, mit dem alten Benz bis dorthin zu kommen.

Was war unterwegs die größte Herausforderung?
Wie immer die vermaledeite Bürokratie.

Was hat Sie auf Ihrer Tour am meisten nachdenklich gestimmt?
Der Anblick einer Frau der untersten Kaste in Indien, die zwischen zerrissenen Müllplanen im Schlamm und Dreck unter einer Autobahnbrücke das Mittagessen für ihre Familie an der offenen Feuerstelle zubereitet hat.

Und was hat Sie am glücklichsten gemacht?
Einfach unterwegs zu sein.

„In Jaipur auf den Basaren …“

Wo haben Sie den schönsten Basar entdeckt und welche Gewürze mitgebracht?
In Jaipur gibt es auf den Basaren eine herrliche Auswahl: Stoffe, Kunstartikel und Gewürze. Von dort habe ich mir Chili, Kardamom und Koriander mitgebracht.

Ihnen ist wichtig, Lehren aus Erfahrungen zu ziehen. Welche wichtigsten Erkenntnisse haben Sie unterwegs gewonnen?
Das Leben ist schön. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, die Welt kennenzulernen.

Welche Bilanz haben Sie bei Ihrer Rückkehr gezogen?
Ich werde immer wieder aufbrechen.

Und jetzt? Schmieden Sie schon Pläne für Ihr nächstes Reiseprojekt?
Ohne neue Pläne komme ich gar nicht zurück ins Basislager. Mein Blick richtet sich aktuell auf die Donau, meinen Heimatfluss. Ich möchte von Tuttlingen aus, wo ich geboren bin, bis zur Mündung ins Schwarze Meer mit dem E-Bike reisen …