NACH DEN STERNEN greifen und zugleich Bodenhaftung bewahren, Traditionen pflegen und über den eigenen Tellerrand blicken: Das ist kein Balanceakt für Nelson Müller, sondern die kreative Lebensphilosophie des Sternekochs und Publikumslieblings aus TV-Kochshows. Seine Begeisterung entdeckte er in seinem Stuttgarter Elternhaus, wo er schon als Knirps in der Küche half. Beglückenden Kindheitserinnerungen prägen und inspirieren ihn, auch zu seiner druckfrischen Liebeserklärung an die Heimatküchen der vielfältigen Regionen Deutschlands.

„Heimatliebe“ ist der Titel Ihres neuen Kochbuchs und der Herzschlag eines Ihrer schönsten Soulsongs: „Meine Stadt“, eine Liebeserklärung an Essen, wo Sie seit 2001 zuhause sind. Was macht Ihr Lebensgefühl aus? Was lieben Sie am Ruhrpott?
Mein Lebensgefühl ist geprägt von der Liebe, die meine Eltern mir mitgegeben haben, und der positiven Einstellung, die ich zum Leben habe. Das findet man im Ruhrgebiet auch wieder. Die Menschen freuen sich an ihrem Leben, dass sie einfach da sind – das ist schön.

Auf Gourmetfestivals und anderen Events kann man erleben, wie Sie im fliegenden Wechsel vom Herd auf die Bühne springen, lossingen und tanzen. Was beflügelt Sie?
Kochen und Musik lösen in mir Emotionen aus, die mir so viel Spaß machen, dass ich tatsächlich dabei Flügel bekomme (lacht).

Sie behaupten ja, dass es zwischen Ihrer Soulmusik und dem Kochen Gemeinsamkeiten gibt. Worin bestehen die für Sie?
Die Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass man bei den Menschen Emotionalität auslöst und sofortiges Feedback bekommt. Das Lächeln im Gesicht des Gastes ist sehr ähnlich dem Gesichtsausdruck, wenn jemand bei einem Konzert gute Musik hört.

Heimatgefühl ist wahrscheinlich so unterschiedlich wie die einzelnen Menschen. Was macht für Sie Heimat aus?
Vertraute Umgebung, vertraute Menschen, Rituale und Kultur – das ist für mich Heimat!

Schon als Dreikäsehoch hatten Sie eine internationale Biografie: Sie kamen aus Ihrem Geburtsland Ghana über Rom und London nach Deutschland, genauer gesagt: nach Stuttgart. Wie wurden Sie da heimisch?
Im Schwabenländle, mit der Sprache, dem Dialekt, der Kultur – das ist eine sehr warme Atmosphäre. Da wird man schnell heimisch.

In Ihrem Stuttgarter Elternhaus waren Nord- und Süddeutschland unter einem Dach vereint: Ihre Mutter kam aus Schleswig-Holstein, ihr Vater aus Franken. Ihre Schwestern sind geborene Schwäbinnen. Wie war das Familienleben in diesem regionalen Multikulti-Mikrokosmos?
Schön! (schmunzelt)

Saisonal und regional dürfte in der Müllerschen Familienküche an der Tagesordnung gewesen sein, denn Ihr Vater hatte einen Schrebergarten. Teilten Sie sein Faible für das Säen und Ernten?
Schon als Kleinkind war die Gartenarbeit Teil meines Lebens und ich war natürlich zunächst einmal fürs Unkrautjäten eingeteilt, durfte später auch säen und Pflanzen stutzen und ernten, um beispielsweise dann Marmelade zu machen. Den grünen Daumen habe ich (dennoch) bis heute nicht so richtig entwickelt.

Welche gemeinsame Esskultur wurde in Ihrer Familie gelebt?
Das gemeinsame Kochen war schon immer Teil unserer Familienkultur. Kochen ebenso wie Essen wurde zelebriert und genossen, es war etwas Besonderes. Mein Vater hat immer jedes Brot, das er aufgeschnitten hat, gesegnet!

Welche Gerichte schmecken für Sie noch heute nach Kindheit?
Die Gerichte meiner Kindheit waren natürlich Pfannkuchen, Fischstäbchen, Hühnerfrikassee, Reisauflauf – das sind Speisen, die ich mir heute noch wünsche, wenn ich nach Hause fahre.

Bei Ihrer schwäbischen Herkunft fallen einem spontan Maultaschen ein. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Gericht?
Maultaschen heißen ja eigentlich „Herrgottsbscheißerle“. Weil man der Tradition nach zur Fastenzeit kein Fleisch essen darf. Um das zu verstecken, hat man es einfach in den Teig reingepackt. Und so ist der Name entstanden: „Herrgottsbscheißerle“ – das ist das Geheimnis um die Maultaschen.

Was waren Ihre prägendsten Erfahrungen in der Ausbildung? Ihr Eigenkommentar: „Das war Punk und Rock ’n‘ Roll.“ Was hat Sie da so begeistert?
Als ich Ende 1996 meine Ausbildung in Stuttgart in der „Fissler Post“ begonnen habe, da kam ich ja aus einem sehr behüteten Haushalt und Leben. Und in der Küche ging’s schon „heiß“ her, von der Temperatur und auch von der Sprache. Man kämpft halt schnell um jeden Teller und dann geht’s auch von der Ansage her etwas derber zu. Aber nach der harten Arbeit wird dann natürlich auch gerne gefeiert. Und das war für mich eine ganz, ganz neue Erfahrung, die ich schon echt cool fand!

Wie war Ihr Aufbruch aus Stuttgart? Auf in die Welt und nach den Sternen greifen?
Ich glaube, das ist immer so: Wenn man weggeht, dann reizt einen das Fremde und das Neue. Aber zur selben Zeit habe ich natürlich auch schnell den Stuttgarter Frieden, das Qualitätsbewusstsein, die schöne Natur, die Weinberge vermisst. Und das begleitet mich auch immer noch.

Ihre Lehr- und Wanderjahre führten durch die Sterne-Gastronomie. Was war für Sie persönlich und professionell der größte Gewinn?
Die wichtigsten Lektionen in der Sternegastronomie sind natürlich das Handwerk, oder, wenn ich so sagen darf, auch ab und zu mal das Kunsthandwerk. Diese Möglichkeit, Kunsthandwerker zu sein, das fasziniert mich nach wie vor an dem Beruf! Aber natürlich auch der Zusammenhalt, die Freundschaft, die in der Gastronomie entstand.

In Essen haben Sie wieder Wurzeln geschlagen und eigene Lokale eröffnet: zunächst das Restaurant „Schote“, wo Sie es 2011 zu einem Michelin-Stern brachten. Welche Bedeutung hatte diese Auszeichnung für Sie?
Die Auszeichnung durch den Guide Michelin war für mich was sehr Einschneidendes, Prägendes und Besonderes im Leben! Das war eine tolle Belohnung für unser Team und für die Arbeit – und für all die Jahre zuvor, die ich in den Sternegastronomien verbracht habe.

Ihr zweites Lokal ist die Brasserie „Müllers“. So einfach die Küche erscheinen mag – was steckt dahinter?
Die regionalen Gerichte und Klassiker kennt ja jeder und deshalb hat jeder Vergleichsmöglichkeiten. Und da ist es manchmal besonders schwierig, die Leute zu überzeugen, dass man selbst ein sehr, sehr gutes Schnitzel macht (schmunzelt).

Inwiefern spielt das Glücksgefühl beim Essen auch in Ihrem neuen Buch „Heimatliebe“ eine Hauptrolle?
Glücksgefühle bekomme ich, wenn ich mich in der Natur bewege. Wenn ich mich in Regionen bewege, wo die Leute im engen Einklang mit Handwerk und Naturprodukten leben. Und da habe ich auf meiner Reise durch Deutschland viele solcher Glücksmomente erlebt und diese auch in Bildern festgehalten, die man in dem Buch findet.

Wo „Heimatliebe“ draufsteht, ist in Ihrem Fall Vielfalt drin. Welche Überlegungen leiteten Sie bei der Auswahl?
(überlegt etwas) Heimatliebe bedeutet eigentlich, vor die Türe zu gehen und das Schöne zu sehen! Die Augen offen zu halten für die kleinen Dinge. Die Welt ist einfach so bunt – auch innerhalb Deutschlands haben wir so schöne Kulturlandschaften und tolle Regionen. Das ist das, was mir immer wieder Heimatgefühl vermittelt.

Die Liebe geht in Ihrem neuen Buch eindeutig durch den Magen. Welche Gerichte lassen Ihr Herz höher schlagen und warum?
Mich machen viele Gerichte glücklich. Vor allem, wenn die Verbindung von Gericht zu Region und Kultur so eindeutig verankert ist und die Menschen damit etwas anfangen können, bzw. ihre eigenen Geschichten dazu beitragen können. Das finde ich ganz stark!

Nicht wenige Ihrer Regionalküchen-Klassiker könnte man auch als regelrechtes Slow Food interpretieren?
Ja, es geht einfach darum, dass Lebensmittel saisonal und lokal eine Bedeutung haben und dass man sich als Koch auch die Zeit nimmt, die Zutaten vernünftig zu verarbeiten. Klar, es bedeutet Entschleunigung, aber eben auch, sich selbst was Gutes zu tun.

Das Gericht für Abenteuerlustige? Etwa „Rheingauer Woihinkelche“?
Für Abenteuerlustige? (lacht herzlich). Nein, nein, für die Menschen in der betreffenden Region ist das ein klassisches Gericht! Als abenteuerlich nehmen das vielleicht eher Menschen wahr, die nicht aus dieser Gegend kommen …


Was ist das oberste Gebot beim Flambieren? Was empfehlen Sie?
Ich empfehle auf jeden Fall eine Generalprobe (!) bevor man das vor Gästen macht. Denn es kommt ja doch auch auf den Alkoholgehalt und vor allem auf die Menge des Alkohols an, den man da einsetzt (grinst) – und auch auf den Sicherheitsabstand, ja!

Fast jedes Rezept wird um einen besonderen Tipp ergänzt. Worum geht es Ihnen dabei hauptsächlich?
Mir geht es um die Freiheit! Mit geht es darum, dass die Leser und Mitkochenden das nicht ganz so stringent und eng sehen, sondern dass sie eben auch beim Kochen die Möglichkeiten haben, mal zu kombinieren oder es sich schlicht einfacher zu machen …

Unverwechselbaren Charakter verdanken bestimmte Rezepte ganz besonderen Zutaten, die für die Regionen typisch sind, z.B. Fische wie der Tiefseesaibling aus dem Ammersee oder die Chiemsee-Renke. Dennoch verraten Sie Variationsmöglichkeiten für alle, die schon allein wegen ihres Wohnorts nicht an den fangfrischen Fisch kommen. Was spricht für solche Variationen?
Tatsächlich gibt es ja in jedem Fluss oder See quasi eigene Fische oder Saiblinge … Natürlich kann man da variieren und mal einen ganz anderen Fisch nehmen. Oft kommt man so auf ein komplett neues Gericht und denkt sich, wow, das schmeckt aber mal toll. Genau das ist Freiheit. Und Kochen ist Kreativität pur!

„Rhabarber, Vorbote des Frühlings“

Welches Rezept empfehlen Sie, um den Frühling zu begrüßen?
Selbstverständlich all die Gerichte, in denen die Boten des Frühlings enthalten sind: Spargel, Rhabarber, Erdbeeren oder Bärlauch. Ich liebe es, mit den Frühlingsprodukten zu kochen! Da gibt es jetzt kein spezielles Gemüse, aber ich würde Rhabarber als den Vorboten des Frühlings bevorzugen und im Spätfrühling auf jeden Fall zum Spargel greifen.

Eingestreut sind in Ihr „Heimatliebe“-Panorama immer wieder Warenkunde-Kapitel. Warum ist Ihnen das wichtig?
Ich hatte als Kind das große Glück, mit meinen Eltern in den Stuttgarter Markthallen einkaufen zu gehen. Dadurch hatte ich frühzeitig viele Gemüse- und Obstsorten ebenso wie Oliven auf dem Markt, aber teils auch im Garten schon kennengelernt und eine Liebe zu tollen Produkten entwickelt. Kochen fängt halt einfach mit Warenkunde an. Man sollte sich auskennen, die Qualitäten einschätzen und deren Unterschiede sehen können.

Ihr „Markthallen-Wissen“ vermitteln Sie beispielsweise zu Kartoffeln, die wohl in der großen Vielfalt der deutschen Regionalküchen ein gemeinsamer Nenner sind. Was schätzen Sie an Kartoffeln? Und was sind Ihre persönlichen Rezept-Favoriten?
Die Kartoffel ist mittlerweile je ein deutscher Klassiker, obwohl sie ursprünglich ja aus Südamerika eingewandert ist. Eine absolut vielfällige Frucht! Mit einer Kartoffel kann man so viel machen, sie bietet jedem Koch unzählige Möglichkeiten für wirklich kreatives Kochen!

Sie präsentieren zu den Kochtraditionen auch Schlaglichter auf Besonderheiten regionaler Lebenskulturen, ob „Geschmack des Südens“ oder „Tor zur Welt“. Ein Herzstück dürfte das „Wir-Gefühl“ sein. Was sind für Sie die schönsten Beispiele?
„Geschmack des Südens“, „Tor zur Welt“ … also die Atmosphäre, die in einer Region so in der Luft liegt. Ich atme gerne ein und finde es schön, wenn man in den Gesprächen der Menschen die Zwischentöne hört, die Dialekte. Dann entsteht auf einer Wanderung eine besondere Atmosphäre, wo man Menschen begegnet, durch Apfelwiesen läuft. Da erlebt man ganz bestimmte, einzigartige Momente und die fühlen sich nach purem Heimatland an!

Seit nahezu 20 Jahren geben Sie Ihr Know-how in Kochkursen weiter. Ihre Mission?
Ich zeige natürlich das Handwerk, wie ich es gelernt habe und wie man es einsetzt um vor allem mit Spaß zu kochen!

Ihre wichtigste Botschaft oder Einladung an Hobbyköche?
Meine wichtigste Botschaft: Macht es mit Leidenschaft! Kochen muss Spaß machen, man muss es wollen, es vergnüglich machen. Ansonsten – sollte man´s lieber sein lassen.