Weit auf der Welt herumgekommen, liebt Paolo Cognetti Gegensätze wie New York und Nepal. Am meisten zuhause aber fühlt sich der Autor aus Mailand im italien­ischen Aosta­tal mit Blick auf das Monte-Rosa-Massiv. Jeden Sommer bezieht er Quartier in seiner Berghütte auf 1.800 Metern Höhe. Hier ist spätestens ab Ende August Holz­hacken fürs Kamin­feuer an der Tages­ordnung – und Cognetti in seinem Element. Die Bergwelt wurde ihm zur Inspirations­quelle für seinen auto­biografisch grundier­ten Roman „Acht Berge“ um die großen Fragen was ein gelingendes Leben ausmacht.

In den Leseexemplaren Ihres Romans sind Fotos, die Sie mit einem Hund zeigen. Ist es Ihr eigener?
Ja, das ist meiner. Er heißt Lucky. Er sollte eigentlich ein Hirtenhund sein, aber er ist immer wieder ausgebüxt – und sowieso lieber in Gesellschaft von Menschen als von Kühen. Für die Arbeit taugte er nicht, also habe ich ihn genommen. Und seither sind wir unzertrennlich.

Wie fühlen Sie sich im Aostatal? Eher wie ein Stadtmensch, der sich eine Auszeit gönnt? Oder in Ihrem Element wie ein Gebirgler?
Im Aostatal fühle ich mich zu Hause, sehr viel mehr als in Mailand. Meine wichtigsten Bezugspersonen sind hier, und in den Bergen sehe ich meine Zukunft und neue Projekte.

Wie wirkt sich die Bergwelt auf Ihre Lebensweise aus?
Die Tageszeiten beeinflussen das Leben der Menschen in den Bergen stärker als in der Stadt. Man steht mit der Sonne auf. Allerdings war ich immer schon ein Morgenmensch. Ich bin frühmorgens voller Energie, lese, schreibe, hacke Holz und gehe wandern. Am Abend lege ich mich hin, sobald die Sonne untergeht.

Bei Ihrer Hütte und dem Rückzug vom Lärm der Welt liegt es nahe, an Henry David Thoreau und sein Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ zu denken. Welche Bedeutung hat dieser Klassiker des alternativen Lebens für Sie?
„Walden“ hat mir sehr viel bedeutet. Thoreau sucht darin ein Gegenmodell zum westlichen „Arbeit-Haus-Familie-Prinzip” und wagt den Versuch, mit wenig Geld auszukommen und damit freier zu sein. Es ist ein sehr konkreter Versuch, der auch heute immer noch viele Menschen inspiriert, die ihr Leben ändern und Erfüllung in der Einfachheit und Nachhaltigkeit finden wollen.

„Ein Mandala, das die Welt darstellt.“

In Ihrem Romandorf Grana klingelt kein Handy und auch sonst scheint der sogenannte Fortschritt dort noch nicht Einzug gehalten zu haben. Eine Hommage an das einfache Leben?
Ich bin kein Eremit, der gegen den sogenannten Fortschritt ist. Aber ich finde, dass Handys und der ständige Zugang zum Internet richtige Drogen sind und wir aufpassen müssen, nicht zu Sklaven der Technik zu werden. Diese Gefahr sollte uns sehr bewusst sein.

Genau wie Ihr Romanheld Pietro haben Sie einst als Mailänder Stadtkind die Sommerferien im Aostatal verbracht. Haben Sie selbst auch einen Freund wie Bruno gefunden?
Bruno ist der Freund, den ich mir als Kind immer gewünscht habe. Heute habe ich einen Freund, der Bruno ähnelt und mich zu der Figur inspiriert hat.

Als Kinder hätten Pietro und Bruno einander wahrscheinlich gar nicht erst kennengelernt, wenn Pietros Mutter sie nicht zusammengebracht hätte. Auch als die beiden erwachsen sind, ist sie es, die dem einen berichtet, wie es dem anderen ergeht. Typisch für Jungen und Männer?
Ich weiß nicht, ob es ein typisch männliches Verhalten ist. Für mich ist es aber typisch.

Die Renovierung der verfallenen Almhütte wirkt in mehrfacher Hinsicht wie ein symbolischer Akt. Welche Bedeutung schreiben Sie diesem Gemeinschaftsprojekt der beiden Freunde zu?
Es ist ein symbolischer Akt, aber auch etwas sehr Konkretes. Ich bin davon überzeugt, dass wahre Freundschaft und enge Bindungen darauf basieren, gemeinsam etwas zu erschaffen. Zusammen ein Haus zu bauen, ist mehr wert als tausend Worte. 

Wie viel Paolo Cognetti steckt in Ihrem Romanheld Pietro?
Pietro – das bin ich. Pietro ist mein Alter Ego, das auch in meinen anderen Büchern auftaucht.

Der Romanvater geht als „Dickkopf und Draufgänger“ in die Berge, sein Sohn Pietro versucht als Junge einfach nur tapfer, Schritt zu halten. Und Sie? Wie hat sich Ihre Haltung im Lauf Ihres Lebens entwickelt?
Ich gebe es nicht gern zu, aber ich ähnle meinem Vater sehr. Einige seiner Verhaltensweisen machen mich noch heute wütend, leider entdecke ich sie auch an mir. Aber ich habe daran gearbeitet und arbeite immer noch daran, weil ich nicht dieselben Fehler machen will.

Wie verändert Bruno die Situation in Pietros Familie? Welche Rolle hat er da?
Bruno ist ein richtiger Adoptivsohn und einzigartig im Leben der Familie Pietros. Während Pietro reist und den Kontakt zu seinem Vater abbricht, ist es Bruno, der Giovanni auf seinen Streifzügen Gesellschaft leistet.

Fortschritt ist für mich, Natur zu schützen.“

Genau wie Pietro im Roman zieht es auch Sie immer wieder in die Ferne, vorzugsweise nach Nepal oder New York. Was fasziniert Sie an diesen Gegensätzen? Oder sind es für Sie gar keine Gegensätze?
Ich glaube, ich bestehe aus zwei Teilen wie so viele Menschen. Großstädte faszinieren mich ebenso wie die Berge. Es sind Gegensätze. Wenn sie in ausgeglichenem Verhältnis sind, fühle ich mich wohl. Nach einer Weile in der Stadt habe ich das Bedürfnis, mich in die Berge zurückzuziehen. Auf der anderen Seite: Wenn ich zu lange allein in den Bergen bin, möchte ich ins Auto springen und Freunde besuchen. Aber Nepal ist eine ganz andere Sache. Dort zu sein, ist eine Art Zeitreise in die Kultur der Alpen, wie sie vor langer Zeit war.

Der Romantitel „Acht Berge“ verweist nicht auf das Monte-Rosa-Massiv im Aostatal. Inwiefern ist er symbolisch für Ihren Roman?
Es ist ein Mandala, das die Welt darstellt. Das Zentrum der Welt besteht aus einem heiligen Berg, dem Meru, und darum herum gruppieren sich acht Meere und acht Berge. Es gibt zwei Arten von Menschen: Jene, die ihr ganzes Leben dort im Zentrum verbringen, wo sie geboren sind wie Bruno – und jene, die keine Wurzeln haben und dazu bestimmt sind, ihr Leben lang die acht Berge zu erwandern wie Pietro. Diese Menschen brauchen allerdings auch einen Mittelpunkt, der ihnen das Gefühl eines Zuhauses vermittelt, in Pietros Fall die Familie.

Das „Internationale Jahr der Berge“ war 2002, 2003 haben die Vereinten Nationen den 11. Dezember zum „Welttag der Berge“ erklärt. Was versprechen Sie sich davon? Was wünschen Sie sich?
Ein internationaler Tag des Berges wird nur wenig bewegen. Es ist vor allem die Lokalpolitik, die etwas verändern kann, indem sie nachhaltiges Handeln und das Bewusstsein für den Schutz der Natur, für den Berg, auf dem ich lebe, fördert. Der Fortschrittsglaube hat in der Vergangenheit sehr viel Schaden angerichtet. Heute bedeutet Fortschritt für mich, Natur zu schützen und zu erhalten und für den Tourismus einen respektvollen Umgang nach dem Vorbild von Nationalparks zu finden.