Wenn jetzt der Räuber Hotzenplotz seine sieben Messer wetzt, dann nur, um den Kuchen anzuschneiden: zum 100. Geburtstag seines Schöpfers Otfried Preußler (geb. am 20. Oktober 1923). Was für ein Anlass zum Feiern! Und noch besser. Neu zu entdecken ist der weltberühmte Autor von Klassikern wie „Die kleine Hexe“ und „Krabat“ obendrein: Der hervorragende Kenner Tilman Spreckelsen hat die erste umfassende Biografie geschrieben: „Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten“ mit tiefen Einblicken und Überraschungen.

Angenommen, Otfried Preußler könnte seinen 100. Geburtstag noch selbst feiern. Mit welchen Worten würden Sie ihm gratulieren? Was würden Sie ihm auftischen und was schenken?
Ich würde ihm für wunderbare Lesestunden danken. Schenken würde ich ihm meine Biographie – und hoffen, dass er sich darin wiederfindet.

Welche Preußler-Bücher haben Sie einst durch Ihre Kindheit begleitet und mit welchen seiner Figuren haben Sie sich am stärksten identifiziert?
Meine Mutter hat mir die „Kleine Hexe“ geschenkt, da war ich sechs oder sieben. Die letzte Szene habe ich immer geliebt, das große Feuer in der Walpurgisnacht. Später kam der „Räuber Hotzenplotz“ dazu, alle drei Teile. Aber am häufigsten habe ich den „Krabat“ gelesen, immer wieder – bis heute.

Was sind Ihre schönsten oder bewegendsten Erfahrungen als erwachsener Vorleser von Preußlers Büchern?
Die Anspannung der Zuhörer, wenn klar wird, in was für eine Welt Krabat geraten ist. Und die Erleichterung am Ende, wenn der Meister überwunden ist.

„Er hat sich nie bei den jungen Lesern angebiedert.“

Was macht für Sie als Literaturexperten Otfried Preußlers einzigartigen Status als Kinderbuchautor und seine besonderen Fähigkeiten aus?
Preußler kannte sein Publikum genau. Aber er hat sich nie bei den jungen Lesern angebiedert, sondern im Gegenteil versucht, ihren Horizont zu erweitern. Und seine musikalisch gedehnten Sätze sind unvergleichlich.

Was war Ihr roter Faden bei der Arbeit an Otfried Preußlers Biographie?
Ich wollte herausfinden, wie Leben und Werk zusammenhängen. Das Werk kannte ich, über sein Leben habe ich ungeheuer viel gelernt.

Sie haben die böhmische Stadt besucht, in der Otfried Preußler aufgewachsen ist. Was konnten Sie nach über einem halben Jahrhundert noch in Reichenberg – heute: Liberec – von seiner Kindheitswelt finden und an Atmosphäre erspüren?
Sein Elternhaus gibt es noch, auch seine Schule, das Wäldchen, in dem er mit seinen Freunden Indianer gespielt hat, den Stausee, in dem er schwimmen gelernt hat. Das Rathaus, das wundervolle Theater … Es ist noch mehr geblieben, als man vielleicht denken würde.

Wer oder was hat Otfried als Kind am meisten geprägt und seine Fantasie beflügelt?
Eindeutig sein Vater. Und die Zeitschrift „Deutsche Jugend“, die sein Vater herausgegeben hat.

„Er hat seinen Schülerinnen und Schülern Geschichten erzählt.“

Otfried Preußler hatte ein phänomenales Einfühlungsvermögen in Kinder. Wo hatte es seinen Ursprung und was hat es gefördert?
Er wollte Professor in Prag werden und wurde Lehrer in Rosenheim. Seinen Schülerinnen und Schülern hat er Geschichten erzählt. Er hat sie genau beobachtet und dabei viel gelernt. So fing das an.

Welches Bild von Kindern und deren Bedürfnissen beseelte und beflügelte Otfried Preußler als Autor?
Er war überzeugt davon, dass man Kinder genau dort abholen sollte, wo sie waren, und sie nicht vor der Zeit mit Themen belasten sollte, die vor allem die Erwachsenen beschäftigen. Dafür ist er viel gescholten worden. Ich denke, er hatte damit recht.

Sogar auf Otfried Preußlers Grabstein ist sein Credo eingemeißelt: „Kinder brauchen Geschichten.“ Warum lag ihm das so am Herzen?
Weil er an die Kraft der Phantasie glaubte, die uns stärkt und dabei hilft, mit schwierigen Situationen klarzukommen.

1956 erschien Preußlers Kinderbuchdebüt „Der kleine Wassermann“. Was macht diese Geschichte und ihren Helden nach 68 Jahren noch immer erfrischend zeitgemäß?
Preußler fragt: Wie sähe die Welt aus, wenn wir sie aus ganz anderer Perspektive betrachten würden, vom Grund des Mühlweihers aus? Wenn wir Wassermänner wären in einer Menschenwelt? Es ist ein Gedankenspiel, dem man sich nicht entziehen kann.

Seit 1957 verkörpert „Die kleine Hexe“, was eine wirklich gute Hexe ist. Was macht sie für Mädchen und Jungen von heute so aktuell?
Dem Gruppendruck der Hexen entzieht sie sich, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. Dass sie damit auch noch recht behält: Das ist das schönste Geschenk Preußlers an seine Leser.

Der Räuber Hotzenplotz ist beileibe kein Superheld. Was macht ihn dennoch zu einem Star der Kinderliteratur?
Er ist so herrlich leicht auszurechnen. Und soviel Mühe er sich gibt, um finster und böse zu erscheinen: Wir ahnen schnell, dass er es im Grunde gut meint. Der dritte „Hotzenplotz“-Band gibt uns recht.

„Preußler musste sich von den alten Sagen lösen …“

An „Krabat“ hat Preußler zehn Jahre gearbeitet – und sich „geschunden“, wie er bekannte. Worin bestand die große Herausforderung und was macht dieses Werk universell bedeutsam?
In seinem Meisterwerk musste sich Preußler von dem Gedanken lösen, eine alte Sage nachzuerzählen. Erst als er sich zugestand, seine eigene Geschichte zu erzählen, erhielt der „Krabat“ seinen unvergänglichen Zauber.

Die Kinderbücher von Otfried Preußler haben kein Verfallsdatum – im Gegenteil: Seine Geschichten begeistern seit rund 70 Jahren eine Generation nach der anderen – einschließlich der Kids von heute. Wie erklären Sie sich das?
Preußler erzählt von vornherein zeitlos. Deshalb altern seine Welten nicht und machen es jedem leicht, sie zu betreten.

Was zeichnet für Sie Preußlers HeldInnen aus?
Sie sind zu Beginn oft einer Welt ausgeliefert, die stärker erscheint als sie selbst. Und lernen, sich in ihr zu behaupten und zu bewahren.

Was macht Otfried Preußlers Erzählstil so ansprechend für Kinder?
Es sind diese perfekt ausgefeilten Sätze, die zum Vorlesen wie geschaffen sind, weil sie aus dem mündlichen Erzählen stammen.

„Preußler ermutigt zum Eigensinn, seinen eigenen Weg zu gehen.“

Was ist das Herzstück von Otfried Preußlers weltweit geliebten Geschichten?
Preußler ermutigt zum Eigensinn, dazu, seinen eigenen Weg zu gehen. Das wünscht man den Kindern überall auf der Welt.

Im Gespräch mit dem damaligen Thienemann-Verleger Klaus Willberg sagte Otfried Preußler 2003: „Ich habe mich nie an Trends drangehängt, ich habe sie gesetzt.“ Worin sehen Sie seine größten Verdienste?
Genau darin. Er besaß eine unverwechselbare Stimme. Und war bereit, seine Eigenständigkeit als Schriftsteller immer zu verteidigen.

Was war für Sie das Beglückende und Bereichernde, so intensiv in Otfried Preußlers Welt einzutauchen?
Ich habe viel über einen Autor gelernt, den ich für seine Werke immer bewundert habe, über dessen Leben ich aber kaum etwas wusste.