Ein Duell der Geheimdienste und eine mutige Frau zwischen den Fronten, die für den Traum von Freiheit alles aufs Spiel setzt: Seine große Spionin-Trilogie über drei Jahrzehnte deutsch-deutscher Geschichte startet Titus Müller im Schicksalsjahr 1961 – mit dem Geheimplan „Rose“, dem Bau der Berliner Mauer vor 60 Jahren. Eine weltpolitische Weichenstellung, die der vielfach ausgezeichnete Autor zur Spannungsliteratur macht. Der Meister des historischen Romans beweist ein weiteres Mal „sein großes Talent, Geschichte in Geschichten zu erzählen“ (Bayern 2), „so spannend, als sei er dabei gewesen“ (Rhein-Zeitung), mit sensiblem Radar für die zeittypische Atmosphäre. Charakteristisch für den 1977 in Leipzig geborenen Schriftsteller: „Ich bin Sammler, Staunender und Entdecker von Beruf.“

Von Lesenächten bis zur Literaturzeitschrift haben Sie die unterschiedlichsten Projekte ins Leben gerufen. Was motiviert Sie?
Ich bin seit meiner Kindheit verliebt in Bücher. Da freut es mich immer, wenn ich bei anderen dieselbe Liebe wecken kann.

In Ihren Romanwerkstätten vermitteln Sie, was eine gute Geschichte ausmacht. Wie lautet Ihre Kurzformel?
Das ist ja das Schöne beim Lesen: Es gibt keine Formel. Immer wieder werden wir auf neue, überraschende Weise verzaubert. Was nicht heißt, dass es nichts zu lernen gäbe über Spannungsaufbau, Figurenzeichnung und Erzählhaltung.

Gegen die gefürchteten Schreibblockaden scheinen Sie immun zu sein. Wie wappnen Sie sich?
Wenn Sie wüssten, wie viel Zeit ich mit Selbstzweifeln vergeude! Was mir hilft: Ein gutes Buch zu lesen. Filmmusik zu hören. Und das Schreiben nicht als Wettkampf zu verstehen, sondern als freies, beinahe kindliches Spielen.

„Eine solche Freude an Büchern!“

Als Erster überhaupt wurden Sie mit dem „C.S. Lewis-Preis“ ausgezeichnet. Was verbindet Sie mit dem Namenspaten C.S. Lewis?
Gerade bereite ich einen Briefband vor, der diesen Sommer erscheinen wird. Ich durfte als Herausgeber die schönsten seiner Briefe auswählen. Was mich an C.S. Lewis fasziniert? Er hat sich ohne Scheu komplexen Fragen des christlichen Glaubens gewidmet und gibt Antworten, die mich verblüffen. Außerdem hatte er eine solche Freude an Büchern! Er hat sie wie Vorspeise, Hauptspeise und Dessert „gekostet“, das wird in seinen Briefen deutlich.

Neben Ihren historischen Romanen haben Sie seit 2006 auch einige Anleitungen geschrieben, wie man sein Glück findet. Was hat Sie heute schon glücklich gemacht?
Ich habe mit meinem Bruder telefoniert. Und mit meinen Söhnen gelacht, sie sind jetzt sechs und sieben Jahre alt und haben diesen herrlichen Blick auf das Leben. Sie züchten kleine Salzwasserkrebse, haben gestern im Sandkasten einen Parcours für ihre Holzmurmeln gebaut und wollten, dass ich den filme, man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, was in diesen kleinen blonden Köpfen vor sich geht. Es ändert auch etwas in mir, ich sehe mehr, weil sie es mir begeistert zeigen: Hummeln, Meisen, Pfützen, schöne Steine … Im Garten neben unserem Haus beispielsweise wächst ein Baum, der einen Ast wie einen Rüssel herausreckt, ich hätte das gar nicht gesehen, aber für die Kinder ist er seitdem der Elefantenbaum.


Vorzugsweise schreiben Sie historische Romane. Was fesselt Ihr Interesse an Geschichte?
Mich interessiert, wie Menschen gelebt haben und wie sie mit den Herausforderungen ihrer Zeit zurechtgekommen sind.

„Momente, die alles in Frage stellen.“

Ihre Romane umfassen einen beeindruckenden historischen Rahmen von 800 n. Chr. in „Der Kalligraph des Bischofs“ über „Die Jesuitin von Lissabon“ 1755 bis zur Zeitgeschichte. Wie wählen Sie Ihre Themen und Erzählstoffe aus?
Ich suche Umbrüche, also Momente der Menschheitsgeschichte, die alles in Frage stellen. Ob beim Erdbeben, das 1755 Lissabon zerstörte, bei der Bombardierung der Möhnetalsperre 1943, beim Untergang der „Titanic“, wo mich interessierte, wie die drei Geistlichen an Bord mit der Situation umgegangen sind. In meinem neuen Roman ist es der Bau der Berliner Mauer …

Wie spüren Sie all die zeittypischen Details auf?
Das Graben nach Details ist für mich wie eine Schatzsuche. Die Bürostühle habe ich in einem Lehrbuch für Sekretärinnen aus dem Jahr 1961 entdeckt. In dieser Zeit wird Ria Nachtmann in „Die fremde Spionin“ die Sekretärin von Dr. Schalck-Golodkowski, um für den BND zu spionieren. Details finde ich auch in Briefen, Tagebüchern oder bei der Recherche vor Ort. Werbeanzeigen in alten Tageszeitungen faszinieren mich, genau wie Heiratsannoncen. Sie sagen viel über das Lebensgefühl der damaligen Zeit aus. Was ich in alten Handelskatalogen finde, auf Fotos oder in abgehefteten Polizeiberichten, das webe ich in meine Romanhandlung ein. Es reizt mich, diese Fundstücke mitspielen zu lassen.

Ein Thema, das Sie in unterschiedlichen Epochen und immer neuen Konstellationen beleuchten, ist Widerstand. Was beschäftigt Sie so intensiv daran?
Mich fasziniert die Kraft, die wir Menschen haben, unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Diese Kraft kann man an den Wendepunkten der Weltgeschichte bestaunen. Und auch heute: Wir sind der Covid-19-Pandemie nicht ausgeliefert. Weltweit haben sich die klügsten Köpfe darangesetzt, Impfstoffe gegen das Virus zu entwickeln, unsere Mediziner haben mit viel Leidenschaft ergründet, wie man den Schwerkranken helfen kann, und wir kämpfen um jedes Leben. Das sind wir Menschen!

Ihr druckfrischer Roman „Die fremde Spionin“ ist der Auftakt einer Trilogie. Welchen Plan haben Sie für Ihr Großprojekt?
Ich spanne den Bogen vom Bau der Mauer 1961 über die Guillaume-Affäre 1973 bis zum Fall der Mauer 1989. Meine Spionin-Trilogie erzählt die Geschichte einer mutigen Frau – und drei Jahrzehnte deutsch-deutscher Geschichte.

„Ria bringt sich in Gefahr.“

Was ist das historische Thrillerpotenzial der „fremden Spionin“?
Dass junge Frauen – wie Ria in meinem Roman – für den BND in der DDR spioniert haben, ist verbürgt. In den 1950er, 1960er Jahren drohte ihnen, wenn sie enttarnt wurden, die Hinrichtung. Die DDR bereitete ja den Bau der Mauer vor wie eine Geheimdienstoperation. Er sollte sowohl den Westen als auch die eigene Bevölkerung überrumpeln und vor vollendete Tatsachen stellen.

Hat der BND wirklich nichts vom bevorstehenden Mauerbau geahnt?
Man war einem Doppelagenten, Willi Leisner, auf den Leim gegangen. Der fütterte den BND im Auftrag des KGB mit Falschinformationen. Er meldete, die DDR-Regierung würde zwar das Schließen aller Straßenübergänge und die Unterbrechung des S-Bahn- und U-Bahn-Verkehrs wünschen, aber die Sowjetunion habe Veto eingelegt und gebe diesen Wünschen nicht nach. Noch am 9. August, wenige Tage vor dem Mauerbau, berichtete der BND, dass alle Pläne der SED für eine Grenzschließung auf Eis liegen würden, wegen der strengen Position Moskaus dazu. Die Realität sah anders aus: Längst waren LKWs mit 47.900 Betonsäulen, 473 Tonnen Stacheldraht und 31,9 Tonnen Maschendraht nach Berlin unterwegs, auf Schleichwegen … Dass Erich Honecker die Operation „Rose“ derart geheim halten konnte, finde ich erstaunlich. Mehr als 20.000 Menschen haben direkt am Aufbau der Sperranlagen mitgearbeitet, Volkspolizei, Grenzpolizei, paramilitärische Kampfgruppen. Es ging um eine Strecke von 92 Kilometern Länge. Bahnhöfe waren zu besetzen, Übergänge und Straßen zu sperren. An der innerdeutschen Grenze wurde schon seit 1952 auf Flüchtlinge geschossen. Jetzt galt diese Regel plötzlich auch in der Berliner Innenstadt, da, wo Menschen bis gestern noch einkaufen gegangen waren, sich besucht hatten, zur Arbeit gefahren waren. Eine moderne Großstadt wurde über Nacht in der Mitte geteilt.

Sie tauchen tief ein ins Geheimdienst-Milieu. Wer oder was fesselt Ihr Interesse am meisten und welche Grauzonen wollten Sie erkunden?
Mich interessiert der Alltag der kleinen Leute, aber eben auch das Leben derer, die am großen Rad gedreht haben. Wenn ich die Aktionen des BND, des KGB und der Staatssicherheit schildere, kann ich Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski und Reinhard Gehlen ins Scheinwerferlicht rücken. Geheimdienste täuschen und hintergehen, um ein vermeintlich höheres Gut zu erreichen. Das wirft moralische Fragen auf, ideal für die Erkundung in einem Roman.

Als Erstes schildern Sie einen Auftragsmord 1961 in München. Woher wissen Sie so genau Bescheid über damals mögliche bzw. gebräuchliche Methoden und Täuschungsmanöver?
Was ich schildere, ist tatsächlich passiert. Ich habe nur den zeitlichen Ablauf etwas geändert. Der KGB-Killer in „Die fremde Spionin“ hat ein historisches Vorbild. Vom Decknamen, den er in das Gästeformular des Hotels schrieb, bis hin zur Tatwaffe folge ich hier dem Vorgehen des tatsächlichen Mörders. Ich habe die Berichte des Gerichtsmediziners gelesen. Weil ich verwundert war, dass das Gift so rasch wirkte und derart unsichtbar blieb, habe ich mir Details der Autopsie von meinem Bruder erklären lassen, der an einer amerikanischen Universität Biochemie unterrichtet. Ebenfalls verbürgt sind die Methoden und Tricks des BND und der Stasi. Es ist ein spannendes Feld, über das ich sicher weitere Romane schreiben werde. Stoff ist genug vorhanden.

„Eine persönliche Rechnung offen.“

Wie haben Sie im Roman die Besetzung aus historischen Gestalten und fiktiven Figuren zusammengestellt?
Wichtig war mir bei den zeitgeschichtlichen Personen beispielsweise Alexander Schalck-Golodkowski als zwielichtiger „Kardinal Richelieu“. Reinhard Gehlen als BND-Chef fand ich spannend. Und den Hutliebhaber Honecker: Er war damals zuständig für Polizei, Geheimpolizei und Armee und leitete den Mauerbau. Entscheidend ist natürlich die fiktive Ria, die eine persönliche Rechnung mit den Machthabern offen hat.

Ihre BND-Protagonisten verkörpern sehr unterschiedliche Positionen. Auf welche Gegensätze oder Konflikte kam es Ihnen hauptsächlich an?
Reinhard Gehlen hatte im Zweiten Weltkrieg mit anderen die Operation „Barbarossa“ geplant, den Angriff auf die Sowjetunion durch mehr als drei Millionen Soldaten. Truppen waren zu transportieren gewesen, der Aufmarsch war zu organisieren, Reserven nachzuführen, Pfeile und Striche auf Landkarten zu zeichnen. Mit denselben Fähigkeiten leitete Gehlen in der neuen Zeit nach Kriegsende den BND. Im Gegensatz dazu geht es für Rias Führungsagenten, Stefan Hähner, bei der Geheimdienstarbeit 1961 um einzelne Menschen. Er hat die Sorge, dass er sie dem Tod preisgibt. Die ostdeutsche Spionageabwehr wurde damals immer aktiver. Hähner setzt Ria also einer großen Gefahr aus – und er kann sie dabei nicht als „Schachfigur“ sehen.

Ihre Titelheldin ist alles andere als ein Bond-Girl. Wie würden Sie Ria Nachtmann beschreiben?
Ria hat früh gelernt, sich zu wehren. Und sie lernt schnell. Anders könnte sie zwischen BND und KGB nicht bestehen.

„Besuch von der Staatssicherheit“

Wie Ihre Protagonistin Ria Nachtmann sind auch Sie selbst in der DDR geboren und aufgewachsen. Welche Erfahrungen mit dem politischen System haben Sie als Kind und Jugendlicher gemacht?
Ich war ein guter Schüler, aber als Pastorensohn unserer Klassenlehrerin suspekt. Zu spüren bekam ich das etwa bei den morgens üblichen Diskussionen über Politisches. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Zu Hause hatten wir auch Besuch von der Staatssicherheit.

Sie standen also verstärkt unter Aufsicht?
Ich war ein Fremdkörper, weil ich auch kein Mitglied bei den Thälmannpionieren war. Beim Fahnenappell standen alle mit Hemd und Halstuch da – und ich im Pullover. Mein Freund Mathias, der Pionierleiter war, musste einmal meinen Schulranzen durchsuchen. Er kam mit zwei starken Jungs, als fürchte er, ich könnte mich wehren, und entschuldige sich mit ernstem Gesicht, bevor er zur Tat schritt. Wir waren danach weiter befreundet. Ich wusste ja, er tat nur, was von ihm erwartet wurde. Aber wir sprachen nie darüber.

Wie ist Ihre Bilanz im Rückblick auf ihre jungen Jahre in der DDR?
Ich hatte eine glückliche Kindheit. Aber ich hätte nie Abitur machen oder studieren dürfen. Und ein Buch veröffentlichen schon gar nicht. Ich wäre Bäcker geworden, das war der Plan. Für mich kam der Mauerfall rechtzeitig.

Früher oder später denkt man beim Lesen Ihrer „fremden Spionin“ an Adornos „Minima Moralia“ und seine Feststellung: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben“, später präzisiert zur berühmten Sentenz, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Wie sehen Sie die Chancen?
Es stimmt, wir dürfen uns den Sinn für das Richtige nicht nehmen lassen. Ich glaube aber durchaus, dass man im Falschen – auch in einer Diktatur – versuchen kann, das Richtige zu tun. Gerade dieser Mut, sich dem Falschen entgegenzuwerfen, fasziniert mich. Er war ein wichtiger Grund für mich, „Die fremde Spionin“ zu schreiben.